8. März 1987
Über menschliche Selbsterlösungsversuche
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
An den vergangenen Sonntagen haben wir erkannt, was es um die Ursünde, um die Erbsünde ist. Ursünde und Erbsünde sind Gegenstände des Glaubens, liegen also der Erfahrung nicht unmittelbar offen. Jedoch kann es keinem Menschen verborgen bleiben, daß die Erde, daß die Welt in tiefer Unordnung ist. Der Dichter hat es ja in die Worte gefaßt: „Es geht ein allgemeines Weinen, soweit die stillen Sterne scheinen, durch alle Adern der Natur!“
Allezeit haben die Menschen eine Ahnung davon gewonnen, daß die Erde, daß die Welt nicht so sein sollte, wie sie ist, daß sie einem Paradies nachtrauert, das die Menschheit selbst verscherzt hat. Und es hat auch immer Menschen gegeben, die aus dieser Erkenntnis Folgerungen gezogen haben, die sich nicht damit begnügten, daß ihr eigenes Leben in Zufriedenheit und Freude ablief, sondern die im großen und ganzen Ordnung zu schaffen, die Verwirrung zu heilen, das Dunkel zu lichten bemüht waren. Solche Versuche sind den Menschen grundsätzlich erlaubt, ja sie sind ihm sogar geboten. Es lauert in ihnen aber auch eine Gefahr, daß der Mensch nämlich meint, er selbst, er allein, er mit seinen Kräften sei imstande, die Unordnung, diese so tiefgehende Unordnung zu heilen, daß er sich zur Selbsterlösung für befähigt hält.
Doch das ist ein Irrtum. Der Mensch ist nicht fähig, seine eigene Erlösung herbeizuführen, weil er gar nicht einmal in die Tiefe des Abgrundes hinabzuschauen vermag, aus dem das Unheil unaufhörlich heraufquillt. Dieser Abgrund ist die Trennung von Gott. Der Mensch ist nicht in der Lage, Gott zur Liebe zu nötigen, nachdem er einmal die Liebe Gottes verscherzt hat, ja er ist nicht einmal imstande, zu begreifen, wie schrecklich die Sünde und wie groß Gottes Liebe ist. Was die Sünde ist, das weiß man nur, wenn man Gott kennt, denn die Sünde ist ja ein Attentat gegen Gott, also muß man die Persönlichkeit Gottes erst kennen, um die Tiefenwirkung der Sünde abschätzen zu können. Was Gott ist, weiß aber nicht am besten der Sünder, der von Gott entfernt ist, sondern der Heilige, der Gott nahe ist. So begreift also der Sünder nicht das ganze Unheil der Sünde, weil er nicht begreift, was er Gott angetan hat. Ja, es kann sogar zu der schrecklichen Situation kommen, daß der Sünder in seine Sünde verliebt ist und daß er den haßt, der ihn aus der Sünde befreien möchte. Das ist die schrecklichste Verkehrtheit, daß der Sünder nicht befreit werden will.
Versuche zur Selbsterlösung gab es vor Christus und gibt es in nachchristlicher Zeit. Die Selbsterlösungsversuche vor Christus haben immerhin noch eine gewisse Vorläufernatur, sie sind Hinweise auf das, was Gott im 3. Kapitel der Genesis verheißen hat: „Ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deinem Geschlecht und ihrem Geschlecht, und der Nachkomme wird dir den Kopf zertreten, und du wirst seiner Ferse nachstellen.“ Eine Ahnung von dieser Verheißung scheint in den vorchristlichen Erlösungsversuchen zu wohnen.
Anders ist es mit den nachchristlichen Selbsterlösungsversuchen. Sie stehen im Gegensatz zu der geschehenen Erlösung. Sie sind also keine Vorläufer mehr für die Erlösung in Christus, sondern sie sind der Widerstand gegen die durch Christus geschehene Erlösung.
Bei den Selbsterlösungsversuchen unterscheidet man Auto- und Heteroerlösungsversuche. Im ersten Fall will der Mensch alles selbst von sich unmittelbar allein erwarten. Der Mensch wird der Erlöser seiner selbst. Im zweiten Fall erwartet er scheinbar – scheinbar! – die Erlösung von einem Gott. Außerhalb der Bibel sind alle diese Götter Erzeugnisse des menschlichen Herzens, keine Wirklichkeiten, und deswegen sind auch die sogenannten Heteroerlösungsversuche nichts anderes als mittelbare Selbsterlösungsversuche.
Je nachdem, worin man nun die Wurzel des Unheils sieht, werden auch die Selbsterlösungsunternehmungen vorgenommen. Es gibt Menschen, die das Unheil hauptsächlich in der ungleichen Verteilung der Güter auf Erden begründet sehen. Dadurch wird eine gespaltene Gesellschaft, so sagen sie, heraufgeführt, und wer die Menschheit heilen will, der muß eben eine andere Verteilung der Güter vornehmen, der muß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigen. Wir wissen, das ist der Selbsterlösungsversuch des Marxismus. Er meint, wenn ein paar Änderungen an der Oberfläche der Erde vornimmt, wenn man die Gesellschaftsordnung ändert, wenn man die Güter besser verteilt, dann werde das Paradies kommen.
Andere sehen das Unheil in der Unwissenheit. Die Menschen müssen belehrt werden. Wenn sie das Rechte wissen, dann werden sie es auch tun. Diese Selbsterlösungsversuche setzen also auf Belehrung. Versuche dieser Art sind Legion. Plato, der griechische Philosoph, ist ein Vertreter dieser Selbsterlösung durch Erkenntnis. Plotin, der Neuplatoniker, und der Plotinismus, sie alle sind der Meinung, es müssen die Lichtpunkte im Menschen nur befreit werden von der Materie, und dann kann man sie erlösen. Der Buddhismus ist eine solche Selbsterlösungslehre. Alles ist Leid, sagt er, das Leid muß überwunden werden, indem man dem Drang zum Leben entsagt. Die Entsagung führt über die vier Wege, und wer die geht, der kommt zur Befreiung von den immer erneuten Wiedergeburten, der kommt zum Eingang ins Nirwana. Das ist die Selbsterlösungslehre des Buddhismus.
Andere sind der Meinung, daß das Unheil des Menschen von der Kraftlosigkeit und Richtungslosigkeit seines Willens herkommt. Es muß also dem menschlichen Wollen und der menschlichen Tätigkeit eine neue Richtung gegeben werden, dann wird die Erlösung erfolgen. Diese Meinung wird z.B. vertreten vom Konfuzianismus. Es muß die sittliche Barbarei überwunden werden durch eine rechte, gebildete Gesellschaftsordnung. Diese Meinung vertritt auch Kant, der deutsche Philosoph. Immanuel Kant ist der Ansicht, daß durch die Tätigkeit um der Tätigkeit willen, durch Pflichterfüllung die Erlösung geschehen könne. Nicht weit von ihm ist der deutsche Philosoph Fichte, von dem das Wort stammt: „Durch rastlose Tätigkeit werden wir gerechtfertigt, werden wir erlöst.“ Wieder andere sind der Meinung, daß das Leben sich entfalten muß, daß die schöne, starke Persönlichkeit gebildet werden muß. Das ist das Erlösungsideal der Aufklärung, des deutschen Klassizismus. Der schöne, der adelige Mensch soll geboren werden. Und schließlich sieht ein Mann wie Friedrich Nietzsche die Erlösung gekommen, wenn der Mensch sich selbst übersteigt auf den Übermenschen hin, wenn er im Willen zum Höheren, im Willen zum Größeren den kleinen Menschen hinter sich läßt und das Ideal des Übermenschen in sich herausbildet.
Diese Selbsterlösungslehren sind philosophischer Art. Daneben gibt es auch viele Selbsterlösungslehren religiöser Art. Diese Selbsterlösungslehren bilden sich in den primitiven Religionen und in den mythischen Religionen. Da wird ein Tier, ein Bock als Erlöser ausgegeben. In Ägypten ist das passiert, in Babylonien, in Syrien, in Persien. In diesen Mythen, den mythischen Gestalten wird die Natur versinnbildlicht, und der Mensch gewinnt Erlösung, indem er sich in den Kreislauf der Natur hineinbegibt. Da wird er von seiner Schuld und von seiner Sünde befreit.
Alle diese Versuche, meine lieben Freunde, gehen an der Wirklichkeit vorbei. Sie sehen nicht das tiefste Elend des Menschen, nämlich die Trennung von dem lebendigen Gott. Und sie sind unfähig, diese Trennung von Gott zu beseitigen. Wenn Gott sich nicht aufmacht, den Menschen zu erlösen, dann kann eine Erlösung nicht geschehen. Die Menschen können auf Erden mit ihrer Arbeit – und sie sollen es – eine Notordnung aufbauen. Aber sie können nicht die Erfüllung finden im dreipersönlichen Leben Gottes. Gott muß kommen, um den Menschen an sein Herz zu nehmen, nur dann findet der Mensch die Erlösung. Die Vollendung kommt nicht von unten, die Vollendung kommt von oben. Gott muß sich aufmachen, sein verlorenes Geschöpf heimzuholen.
Amen.