4. Januar 1987
Die Erhaltung und Lenkung der Welt durch Gott
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das neue Jahr steht wie ein jedes unter der göttlichen Vorsehung. Wir wissen nicht, was die kommenden zwölf Monate unserem Volk, unseren Familien und jedem einzelnen von uns bringen werden. Aber wir wissen, daß Land und Volk, Familie und Einzelleben unter dem Schutze der Vorsehung stehen. Unter Vorsehung versteht man die Erhaltung und Regierung der Welt und des Lebens durch Gott. Gott erhält die Welt, das ist der erste Satz, und Gott regiert die Welt, das ist der zweite Satz.
Gott erhält die Welt, d.h. er bewirkt, daß die Welt im Dasein bleibt, solange er es für richtig hält. Die Erhaltung der Welt wird von der Theologie als creatio continua bezeichnet, d.h. eine fortgesetzte, eine fortwährende Schöpfung. Was Gott am Anfang tat, als er Himmel und Erde erschuf, das setzt er fort. Ohne seine erhaltende Kraft, die genauso mächtig ist wie am Schöpfungsmorgen, würde die Welt, würde die Erde, würde das Einzelmenschenleben ins Nichts zurückfallen.
Natürlich können wir uns das nicht vorstellen, genausowenig wie wir uns vorstellen können, daß Gott aus nichts etwas geschaffen hat. Wir denken immer an die Materie, die er nahm, um zu schaffen, aber das ist ja gerade das Gegenteil von Schaffen. Wer schafft, der erzeugt etwas aus nichts; wer dagegen bloß werkt, der zieht einen Gegenstand, ein Material, einen Stoff herbei, die er bearbeitet.
Gott erhält die Welt, das besagt: Er sorgt dafür, daß seine Geschöpfe im Dasein erhalten bleiben. Wenn er seine Kraft zurückzöge, dann würde das Nichts an die Stelle der Schöpfung treten. Aber er will seine Schöpfung nie mehr völlig vernichten, er will sie umwandeln – „Himmel und Erde werden vergehen“ –, aber er wird sie nie mehr vernichten. Es wird kein Nichts an die Stelle von Etwas treten.
So ist es auch im Einzelleben. Der Mensch lebt, solange Gott es will. Wenn er sagt: Komm, jetzt laß den Spaten stehen, du hast genug gearbeitet, dann muß der Mensch auf diesen Ruf Gottes hören. Aber auch dann wird er nicht vernichtet. Seine Seele lebt, und sein Leib wird einmal am jüngsten Tage zu neuem Leben erweckt werden.
Gott erhält die Welt. Das ist der erste Satz von der göttlichen Vorsehung. Wir dürfen also auf den Erhaltungswillen Gottes bauen. Wir dürfen vertrauen, daß er nichts von dem, was er geschaffen hat, haßt und infolgedessen ins Nichts zurückwirft.
Gott regiert die Welt. Das besagt: Gott leitet die Welt so, daß sie seiner Ehre und dem Wohle der Menschen dient. Dieser Satz ist mindestens ebenso schwer zu erklären wie der erste Satz. Gott regiert die Welt. Er regiert an erster Stelle die Natur, die unbelebte Natur, die Gestirne. Wir müssen immer wieder einmal, meine lieben Freunde, den Blick zum nächtlichen Himmel erheben und staunen und uns wundern, was Gott da geschaffen hat. Wir sehen mit gläubigem Staunen eine Fülle von Sternen, und wenn wir das Fernrohr zu Hilfe nehmen, das astronomische Fernrohr, dann entdecken wir noch unzählige andere, und wenn wir gar photographische Platten aufstecken, dann wird uns schwindelhaft ob der Milliarden und Abermilliarden von Sternen. Gott regiert sie, Gott lenkt sie. Er ist der weise Schöpfer und der weise Regent dieser Sternenwelt.
Gott regiert auch die Völker. Die Geschichte ist ebenso in seiner Hand wie die Natur. Er hat manche Völker besonders auserwählt. Wir sprechen vom auserwählten Volke, dem jüdischen Volke. Es war auserwählt, weil aus ihm einmal der Erlöser kommen sollte. Es hat freilich seine Auserwählung verspielt, weil es den Erlöser verworfen hat, aber das ändert nichts daran, daß es einmal das auserwählte Volk war.
Auch die anderen Völker werden von Gott gelenkt. Es ist vielleicht übertrieben, wenn Schiller meint, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, aber irgendwann und irgendwo ist für jeden Menschen im Verlauf der Geschichte die Regentschaft Gottes zu spüren. Im Sturz eines Tyrannen, im Zusammenbruch eines teuflischen Systems, da vermag der Gläubige doch so etwas zu erkennen wie das Eingreifen Gottes.
Im Einzelleben ist Gott ebenfalls wirksam. Gott hat unseren Kalender gemacht, meine lieben Freunde, für das ganze Jahr. Bis zum 31. Dezember liegt dieser Kalender offen vor Gottes Augen. Er weiß jetzt schon alles, was in diesem Jahr uns widerfahren wird, er kennt sogar unsere eigenen freien Handlungen.
Die Vorsehung Gottes ist nicht zu verwechseln mit einem gouvernantenhaften Verhalten Gottes, das alles Beschwerliche und alles Lästige vom Menschen fernhält. O nein! Es wäre ein großes Mißverständnis der Vorsehung Gottes und der Geschöpfe, deren er sich bedient, zu meinen, daß die Vorsehung Gottes dem Menschen alles erspart an Bedrückendem, an Lästigem, an Erschütterndem. So wirkt Gottes Vorsehung nicht!
Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, daß Gott ja die Naturgesetze geschaffen hat. Sie sind ein Ausdruck seiner Vorsehung. Wir können uns auf diese Gesetze verlassen. Wenn es regnet und friert, dann wird es glatt. Das ist ein Naturgesetz. Und wir kennen dieses Gesetz, und das ist die Verläßlichkeit dieses Gesetzes, daß wir uns auf dieses Gesetz verlassen können. Ähnlich ist es mit dem Gravitationsgesetz. Alles, was fällt, fällt nach unten, weil die Anziehungskraft der Erde wirksam ist. Das ist Ausdruck der Vorsehung Gottes. Man soll sich nicht wundern, wenn die Naturgesetze sich treu bleiben. Ich sehe darin einen Ausdruck der Treue Gottes, einen Ausdruck seiner Vorsehung, den Willen Gottes, verläßlich zu sein.
Dazu kommt aber als zweite Komponente der freie Wille des Menschen. Gott will nicht das Böse, das ist gar keine Frage, daran ist festzuhalten. Gott will nicht das Böse. Trotzdem geschieht es. Es geschieht, weil Gott zuerst will, daß der Mensch wählen kann. Er hat den Menschen als ein wählendes Wesen erschaffen. Der Mensch soll wählen können zwischen Gut und Böse. Er soll frei sein, um sich in der Liebe zu Gott und den Menschen zu verwirklichen. Er soll auch frei sein – das ist die traurige, für uns traurige Ergänzung – er soll auch frei sein, das Böse zu wählen.
In unseren irdischen, kontingenten Bedingungen ist es eben anscheinend nicht möglich, ein Wesen zu schaffen, das frei ist und die Freiheit nur benutzt, um das Gute zu tun. In unseren Verhältnissen ist der Preis des Freiseins die Möglichkeit, sich für das Böse zu entscheiden. Man soll aber nicht Gott für das Böse verantwortlich machen. Man soll nicht sagen: Wie kann Gott das tun? Wie kann Gott das zulassen? Er ist keine Gouvernante, die fortwährend bei jedem falschen Schritt einschreitet, den ein Mensch tut. Gott läßt dem Menschen die Freiheit, selbst wenn es zu solchen Exzessen kommt, wie wir Älteren sie ja erlebt haben.
Vor einigen Jahren haben Juden ein Buch „Und die Wasser teilten sich nicht“ geschrieben. Was ist das für ein Buch? Nun, der Titel erinnert zunächst einmal an den Durchzug durch das Rote Meer. Damals haben sich ja die Wogen geteilt, so daß die Juden trockenen Fußes durch das Rote Meer ziehen konnten. Nun haben die Juden, welche die Verfolgung der Nationalsozialisten überlebten, diesen Titel gewählt – und diesmal ist kein Wunder geschehen, das die Juden vor ihren Verfolgern gerettet hat. Wir wissen, hier ist die Bosheit der Menschen wahrhaft zur Auswirkung gekommen. Jeder Ermordete ist einer zuviel. Aber, meine lieben Freunde, man soll auch die andere Seite sehen. In diesem schrecklichen Geschehen, das manche Holocaust nennen, ist doch auch in vielen Fällen die Menschenliebe aufgeblüht. Man hat meines Wissens noch nicht systematisch zusammengestellt, wie viele Menschen den verfolgten Juden geholfen haben. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, hat sich darüber beklagt: „Da kommen die braven Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden.“ Ja, das ist das beste Zeugnis, was unserem Volke ausgestellt werden kann, daß es eben so viele Menschen in unserem Volke gab, die für Juden eingetreten sind. „Jeder hat seinen anständigen Juden“, hat er sich beklagt.
Und so meine ich, ist auch darin Gottes Vorsehung zu spüren gewesen. In den schrecklichen, furchtbaren Untaten, die wir beklagen müssen, gab es doch Anzeichen, daß Gottes Vorsehung dieses Volk und unser Volk nicht verlassen hat.
So müssen wir auch in unserem Einzelleben, meine lieben Freunde, die Geschehnisse, die über uns kommen, im Rahmen der Vorsehung Gottes sehen. Schauen Sie sich einen Teppich an! Ein wunderbares Gewebe. Dann drehen Sie ihn um! Auf der anderen Seite ein Gewirr von Fäden, unansehnlich, ja häßlich. Die obere Seite, das ist gleichsam die Schauseite, und so sieht der Gläubige die Vorsehung Gottes über seinem Leben walten. Die untere Seite, das ist die abgewandte, so sieht der Mensch, der an Gottes Vorsehung nicht glaubt, sein Leben an, als ein sinnloses Gewirr von einander durchkreuzenden Ereignissen.
Wenn wir an Gottes Vorsehung glauben, dann müssen wir uns in seine Hände ergeben. Das muß unsere Antwort auf Gottes Vorsehung, auf den Glauben an Gottes Vorsehung sein. Wenn Gott unseren Kalender gemacht hat, dann wird er uns die Kraft geben, alle Tage dieses Kalenderjahres zu bestehen.
Der Heiland hat uns ein Gebet gelehrt, in dem die Bitte vorkommt: „Dein Wille geschehe!“ Dein Wille geschehe, nicht der meine.
Es war einmal ein junger Mann sehr krank, und er sollte sterben. Da besuchte ihn ein Priester und wollte ihn trösten, aber er wollte sich nicht trösten lassen, er wollte auch nicht sterben. Da sagte der Priester zu ihm: „Wir wollen miteinander beten. Ich bete vor und Sie beten nach.“ „Ja, so wollen wir beten.“ „Vater unser, der du bist im Himmel – Vater unser, der du bist im Himmel; geheiligt werde dein Name – geheiligt werde dein Name; zu uns komme dein Reich – zu uns komme dein Reich; mein Wille geschehe....“ Da rief der sterbenskranke junge Mann: „Nein“, sagte er, „nein, so darf es nicht heißen. Dein Wille geschehe, muß es heißen!“
Sehen Sie, das war der Glaube an die Vorsehung und die Ergebung in Gottes Willen. So soll es auch in unserem Leben sein. Wir dürfen in Schicksalsschlägen um Abhilfe bitten. Wir dürfen die Mittel anwenden, um uns gegen Krankheiten zu schützen, vor Krankheiten zu bewahren, Krankheiten zu heilen. Das dürfen wir alles anwenden. Aber wenn ein Punkt gekommen ist, wo nichts mehr hilft, dann müssen wir sagen: „Dein Wille geschehe!“ Dann müssen wir ihn finden, diesen Willen, den Ergebungswillen, den Vorsehungsglauben, dann müssen wir die Kraft haben, in Gott hineinzusterben, wenn wir den Mut gehabt haben, in ihn hineinzuleben. Denn das eine ist so schwer wie das andere, in Gott hineinleben und in Gott hineinsterben. Wer den Mut hat, in Gott hineinzuleben, der wird auch die Kraft haben, in Gott hineinzusterben.
Amen.