Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Mai 2014

Die Tugend der Treue

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Treue, im Allgemeinen, ist die sittliche Haltung der Beständigkeit in einer eingegangenen Bindung, die nicht um eigener Vorteile willen aufgegeben wird und auf die der andere sich verlassen kann. Im Besonderen ist Treue eine Willenstugend, die zur Erfüllung eines gegebenen Versprechens anhält. Die Treue steht in naher Beziehung zur Wahrhaftigkeit und zur Gerechtigkeit. Treue und trauen sind schon sprachlich verwandt. Die Wahrhaftigkeit verpflichtet den Menschen, dass seine Worte mit seiner Gesinnung im Einklang stehen. Die Treue gebietet ihm, seine Taten in Einklang zu bringen mit seinen Worten. Der Versprechende bürgt für die Wahrhaftigkeit seiner Rede und für die Erfüllung in der Zukunft. Darin liegt die eigentliche Treue begründet. Durch die Beziehung zur Gerechtigkeit empfängt die Treue einen Sozialcharakter. Der bloße Vorsatz ist kein Versprechen, denn der bloße Vorsatz wird mir gemacht und nicht einem anderen. Aber das Versprechen geht über den Vorsatz hinaus, es richtet sich auf den Nächsten, es wird dem anderen etwas versprochen. Es wird ihm eine Zusage gemacht für eine künftige, vorteilhafte Leistung. Deswegen nähert sich die Treue der Tugend der Gerechtigkeit.

Treueverhältnisse bestehen in großer Zahl in der großen und in der kleinen Welt. Denken wir an die Treue zur Heimat, Treue zum Vaterland. Denken wir an die Treue gegenüber der Familie, der Sippe, gegenüber einer Gemeinschaft, einem Verband, einem Verein. Denken wir an die Treue zum Beruf. Die Treue des Menschen gegen Gott gilt als eine Grundpflicht der Sittlichkeit. Und die Treue im menschlichen Verkehr ist ebenfalls unentbehrlich. „Wer getreu ist im Geringsten, ist auch in vielem treu. Und wer treulos ist im Geringsten, ist auch in vielem nicht treu“, so heißt es im Lukasevangelium. Treue ist vor allem eine notwendige Eigenschaft eines Dieners und eines Amtsinhabers. „Von Verwaltern wird erwartet, dass sie treu befunden werden“, heißt es im 1. Brief an die Korinther. Der Diözesanbischof legt einen Treueid gegenüber dem Heiligen Vater ab, und hoffentlich hält er ihn auch. Wir kennen die Gestalt des Treuhänders. Das ist eine Person, die fremdes Vermögen verwaltet, und zwar im Interesse des Treugebers. Der Priester, der ein Messstipendium annimmt für eine Heilige Messe, ist ein Treuhänder. Er hat dieses Messstipendium der Messe zuzuordnen, die er dafür feiert, und zwar ein Stipendium für eine Intention, nicht ein Stipendium für zahllose Anliegen. Treue wird zumal im Glauben verlangt. An die Gemeinde von Smyrna schreibt der Apokalyptiker Johannes: „Siehe, der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, damit ihr erprobt werdet. Sei getreu bis in den Tod, und ich werde dir die Krone des Lebens geben.“ Im Briefe an die Hebräer heißt es: „Da wir nun einen erhabenen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, der Sohn Gottes, so lasst uns festhalten am Bekenntnis.“

Die grundsätzliche Pflicht der Treue ergibt sich aus der Offenbarung. Das Alte Testament feiert überall die Treue Gottes – die Bundestreue Gottes. Der Israelit sieht seinen Gott nicht als eine launische Übermacht – wie die Griechen –, sondern der Israelit weiß sich einem Gott verbunden, der in unwandelbarer Treue zu seinem Bunde steht, durch den er sich das Volk berufen hat. Treue als Eigenschaft Gottes besagt die feste, unumstößliche Beständigkeit, in der Gott bleibt, wer er ist: der treue Gott. Selbst gegenüber der Untreue der Menschen bleibt er der treue Gott. Wenn der Mensch den Bund bricht, so bricht ihn Gott doch nicht. Und deswegen ist Paulus davon überzeugt, dass Gott eines Tages das Volk Israel noch zu sich bekehren wird: „Denn unwiderruflich sind die Gaben und die Berufung Gottes.“ Das Neue Testament nimmt den Gedanken von Gottes Bundestreue auf. „Treu ist Gott“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Korinth, „durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft mit seinem Sohne Jesus Christus, unserem Herrn. Gott ist getreu. Er wird euch nicht anfechten lassen über eure Kräfte, sondern mit der Anfechtung den guten Ausgang geben, damit ihr bestehen könnt.“ „Treu ist der, der euch ruft; er wird es auch vollenden“, schreibt Paulus der Gemeinde in Saloniki. Treue ist auch ein Prädikat Christi. „Der Herr ist getreu, er wird euch stärken und vor dem Bösen bewahren“, schreibt Paulus noch einmal an die Gemeinde in Saloniki. „Sind wir nicht treu, so ist jener doch treu. Er kann sich ja nicht selbst verleugnen.“ Er ist ein treuer und zuverlässiger und mitfühlender Hoherpriester, ein „getreuer Zeuge“, wie der Apokalyptiker Johannes mehrfach schreibt.

Auch die Vernunft erkennt die Notwendigkeit der Treue und die Verwerflichkeit der Treulosigkeit. Die Wahrheitsliebe hält die Einheit des denkenden Wesens aufrecht. Die Treue wahrt die Einheit und Festigkeit des Willens. Die Lüge ist ein Selbstwiderspruch; der Wortbruch ist eine Selbstwegwerfung. Überdies zerreißt die Untreue das mit dem Nebenmenschen geknüpfte Band in sündhafter und kränkender Weise. Untreue untergräbt das für das menschliche Zusammenleben unentbehrliche Vertrauen. Treue und Vertrauen sind Wechselbegriffe. Und doch ist der Bruch der Treue, die Treulosigkeit, die Untreue oft und häufig zu beobachten. Es ist eine schwere Verfehlung gegen Gottes Gebot. An einem, meine lieben Freunde, hat es auf dieser Erde noch nie gefehlt: an Abtrünnigen, Verrätern und Überläufern. „Dem traue nie, der einmal Treue brach“, schreibt Shakespeare in einem seiner Dramen. Dem traue nie, der einmal Treue brach. Ein Wort, dessen Berechtigung wir immer wieder beobachten können. Der ehemalige Bundespräsident Wulff hat seine Frau verlassen und sich einer anderen zugewandt. Aber als er sein Amt aufgab, verließ ihn auch diese Frau. „Ist es nun aber nicht der gewöhnliche Gang der Dinge, dass derjenige, der einem Dritten zugunsten die Treue brach, sie auch diesem nicht hält?“, schreibt einmal der große Historiker Leopold von Ranke. Schrecklich ist der Bruch der Treue durch Abfall vom Glauben. Der Abfall vom Glauben ist Abfall von Gott und Abfall von der Kirche. Abfall von Gott: Denn der Glaube ist Gottes Geschenk. Im Glauben hat sich ja Gott den Menschen gewissermaßen übergeben, ja ausgeliefert. Und nun, wenn der Glaube aufgegeben wird, verrät der Treulose den Herrn, missachtet er den Geber, der sich ihm anvertraut hat. Ähnlich ist es beim Abfall von der Kirche. Die Kirche hat ihm alles geschenkt an Gnade und Wahrheit; sie ist Gottes Gemeinde, von ihm berufen. Wer wegen Fehlern und Missetaten von Amtsträgern der Kirche die Kirche verlässt, der war nicht wegen des Glaubens in der Kirche. Freundschaft ist durch Anziehung, Vertrautheit und Achtung bestimmt, fordert aber auch Beständigkeit und Verantwortung. Freunde sollen einander die Treue halten, sollen einander vertrauen und beistehen. Es ist schmerzlich zu erfahren, dass Freunde einander die Treue brechen. „Freund, mit einem Kusse verrätst du den Menschensohn.“ Die Ehe ist die vom Schöpfer gewollte, in der Menschennatur begründete, rechtmäßige Verbindung eines Mannes und einer Frau, zu dauernder Lebens- und Leibesgemeinschaft und zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes. Die eheliche Treue ist ein hohes Gut. In der Ehe liefert sich ja ein Teil dem anderen gleichsam aus. Diese Auslieferung ist nur zu verantworten, wenn sie auf Dauer geschieht, wenn der eine sich auf den anderen verlassen kann, in guten wie in bösen Tagen. Es ist schmerzlich zu beobachten, wie der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg nach vierzigjähriger Ehe seine Frau verlässt. Wie kränkend, wie verletzend ist der Bruch der ehelichen Treue. Treue wird auch im Priester- und im Ordensstand verlangt. Die Weihe prägt dem Priester ein unauslöschliches Siegel ein – unauslöschlich!, d.h. es verpflichtet ihn zur Treue. Die Ordensgelübde sind eine feierliche Übergabe an Gott. Und doch: Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben Zehntausende von Priestern und Ordensleuten ihren heiligen Stand verlassen! Und das gibt man uns als Aufbruch aus! Das staatliche Strafrecht hat sich vom Schutz der Treue im Privatrecht weitgehend zurückgezogen. Der Ehebruch ist heute straflos. Andere Vergehen werden noch bestraft: Treulosigkeit gegenüber dem Land, Hochverrat, Landesverrat. Auch im Finanzwesen gibt es den Straftatbestand der Untreue. Wer nämlich über fremdes Vermögen verfügt und dabei die Pflichten eines treuen Verwalters verletzt, der wird mit Freiheits- oder Geldstrafe belegt.

Was die Schwere des Vergehens der Treulosigkeit angeht, so ist es keine Frage, dass das rechtliche Versprechen eine schwere Verpflichtung mit sich bringt. In wichtiger Sache ist eine Untreue immer schwer sündhaft. Bei freien Versprechen, die nicht angenommen werden, bei freien Versprechen fehlt vielfacht die Absicht der strengen Bindung, und da kann es auch bei Verletzung der Treue eine leichte Sünde geben. Man muss eben immer fragen: Wie ist ein Versprechen gemeint? Man kann versichern, man werde oder man wolle für jemanden etwas tun, ohne dass man eine Verpflichtung eingeht. Der bloße Vorsatz ist kein Versprechen. Und er wird auch durch die Aussprache nicht zum Versprechen. Man kann aber kein Versprechen geben, ohne den tatsächlichen, wenn auch einschließlichen Willen, sich zu binden. Wer trotzdem ohne diese Absicht etwas verspricht, ist ein Heuchler. Er heuchelt ein Versprechen und wird durch dieses Unrecht anderen gegenüber leistungspflichtig. Wer schlechthin und gültig verspricht, aber ohne die Absicht der Erfüllung, der sündigt durch Unwahrhaftigkeit und innere Untreue. Der Treue vergisst nicht, dass alle Versprechen auf Erden einen Zeugen im Himmel haben.

Die Pflicht zur Treue ist eine dauernde. Sie ist ja gerade bestimmt, gegenüber den Schwankungen des Willens Dauer und Beharrlichkeit dem Menschen zu verleihen, und zugleich den Mitmenschen eine sichere, zuverlässige Bürgschaft zu verschaffen. Freilich kann diese Bindung keine absolute sein. Die Sachlage kann sich dergestalt entwickeln, dass das buchstäbliche Festhalten am Versprechen gegen den wirklichen Sinn des Versprechens geht und dass es schädlich oder sogar unsittlich wird. Denken Sie daran: Ein Onkel verspricht seinem Neffen, ihm das Studium zu bezahlen. Dabei macht er die stillschweigende Voraussetzung, dass der Neffe das Studium in normaler Weise und in angemessener Zeit durchführen werde. Wenn aber der Neffe es in ungebührlicher Weise verlängert, wenn er nach zwanzig Semestern immer noch nicht fertig ist, dann zessiert das Versprechen. Ähnlich ist es auch im politischen Bereich. Die Regierung Hitler war rechtmäßig. Sie war durch Wahlen und durch Bestellung des Reichspräsidenten zustande gekommen. Die Regierung Hitler war eine rechtmäßige Obrigkeit – am Anfang –, der nach Gottes Willen Gehorsam zu leisten war. Aber diese Regierung verstrickte sich mehr und mehr in Verbrechen. Sie machte sich schuldig vor Gott und den Menschen, gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber anderen Völkern. Und zu einem bestimmten Augenblick verlor sie ihre Rechtmäßigkeit und konnte daher den Gehorsam der Untertanen nicht mehr mit Recht beanspruchen. Der pflichtmäßige Gehorsam, die Treue gegenüber dieser Regierung hörte zu einem bestimmten Zeitpunkt auf. Und deswegen war das Vorgehen der Widerstandskämpfer vor Gott gerechtfertigt.

Die Treue ist im Besonderen gefordert bei der Bewahrung von Geheimnissen. Die Pflicht der Geheimhaltung ist in der Regel mit gewissen Treuepflichten verbunden. Wir unterscheiden drei Arten von Geheimnissen. Erstens: das natürliche Geheimnis. Das ist eine Kenntnis von Dingen, die darum nicht verbreitet werden darf, weil der Mensch ein natürliches Recht auf das Geheimnis hat und durch die Verletzung seine Ehre oder andere Güter, die ihm gehören, gekränkt würden. Denken Sie einmal an Familiengeheimnisse, an vertrauliche Schriftstücke, an Gewissenssachen. Die Pflicht der Geheimhaltung ist hier eine solche der natürlichen Gerechtigkeit. Das zweite Geheimnis ist das erworbene Geheimnis. Eine Kenntnis, die man zufällig oder durch vertrauliche Mitteilung erworben hat und die man nachträglich geheim zu halten versprochen hat. Ihr gehört die entstehende Verpflichtung der Treue an. Schließlich: Die dritte Weise eines Geheimnisses ist das anvertraute Geheimnis. Es besteht darin, dass jemand einem Anderen Kenntnis von etwas gibt, und zwar unter dem Siegel der Verschwiegenheit, unter der Bedingung, dass er es bei sich behält. Hier ist die Verpflichtung eine strenge, durch Treue und Gerechtigkeit. Denken Sie etwa an den Arzt, an den Seelsorger, an den Beamten. Das widerrechtliche Eindringen in fremde Geheimnisse und der Bruch des zugesagten oder anvertrauten Geheimnisses verletzen die sittliche Ordnung und stören das Wohl der Gesellschaft. Die Größe der Sünde richtet sich nach der Wichtigkeit der Sache. Erlaubt ist die Preisgabe, die eigenmächtige Preisgabe eines Geheimnisses nur, wenn sie durch höhere Rücksicht gefordert wird. Es kann durchaus der Fall eintreten, dass jemandem ein Geheimnis anvertraut wurde, dass er aber erkennt, aus der Wahrung des Geheimnisses entsteht schwerster Schaden für andere, für die Gemeinschaft, für das Volk. In diesem Falle darf er von der Pflicht, das Geheimnis zu bewahren, sich entbunden wissen. Der Staat schützt auch das Berufs- und das Dienstgeheimnis, bestraft die Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht. Er bestraft auch die Verletzung des Steuergeheimnisses. Für Geistliche gilt etwas Besonderes, nämlich: Sie haben einen besonderen Schutz des Berufsgeheimnisses im § 53 der Strafprozessordnung. Sie dürfen nämlich über Gegenstände, die ihnen bei Ausübung der Seelsorge anvertraut sind, das Zeugnis verweigern. Sie haben ein Zeugnisverweigerungsrecht. Ähnliches gilt für Rechtsanwälte und Mitglieder von Parlamenten.

Treue, meine lieben Freunde, ist ein hohes Gut. Treue üben, ist eine Tugend. Treue erfahren, ist ein Glück. Die Treue misst man an den Opfern, die einer bringt, ohne einen äußeren Vorteil zu erlangen. Lasst uns deswegen treu sein unserem Gotte, unserem Glauben, unsere Kirche, den Menschen, denen wir es versprochen haben. Wir wollen doch alle einmal das Wort des göttlichen Richter vernehmen: „Weil du über Weniges getreu gewesen bist, will ich dich über Vieles setzen. Geh ein in die Freude deines Herrn!“

Amen.       

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