Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. Oktober 2007

Dem Nächsten von Herzen verzeihen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben soeben das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht gehört. Wenn wir uns dieses Gleichnis vor Augen führen, dann kommt uns ein, wie achtlos wir oft im praktischen Leben über grundlegende sittliche Forderungen des Herrn hinweggehen. Unser Urteil über den unbarmherzigen Knecht kann nicht zweifelhaft sein. Seine Hartherzigkeit gegenüber dem Mitknecht mittelbar nach dem empfangenen Huldbeweis seines Herrn ist empörend. Und die Strafe dafür ist wohlverdient. Aber dann steht noch das letzte Wort in der Gleichnisdeutung des Herrn vor uns, ein Wort, das mit unerbittlicher Helligkeit in unsere Seele hineinleuchtet: Bist nicht du dieser Knecht? Handelst du nicht ähnlich wie er? Und wenn du so handelst, dann musst du auch dasselbe Gericht über dich ergehen lassen, wie ihm geschehen ist.

Das Gleichnis verlangt von uns eine Gewissenserforschung, meine lieben Freunde. Da ist zunächst die große Schuld des Knechtes und das Erbarmen Gottes – der Knecht und sein Herr, Schuldner und Gläubiger. Sooft wir vor Gott hintreten, erinnern wir uns unserer Schuld, unserer Sünden aus Schwachheit, aus Leichtsinn, aus Bosheit. Wenn wir einmal unser Leben überblicken mit seiner unabsehbaren Schuldenlast, dann müssen wir erschrecken, was sich da angesammelt hat, eine Last, eine Schuld, die wir aus eigener Kraft nicht tilgen können. Aber immer wieder finden wir bei Gott einen Gläubiger, der bereit ist, die Schuld zu erlassen. Wie oft haben wir sagen müssen: Habe Geduld mit mir! Und wie oft haben wir an uns erfahren, was der Knecht von seinem Herrn erfahren hat: „Da erbarmte sich der Herr des Knechtes und erließ ihm die ganze Schuld.“

Es ist ein wunderbarer Gedanke, meine lieben Freunde, nein, eine wunderbare Wirklichkeit: Gott vergibt. Das ist schon wunderbar, dass wir sagen können: Gott vergibt, dass die Schuld weggenommen wird, dass wir von ihrer Last befreit werden. Ich habe einmal gelesen, dass sich zwei junge japanische Mädchen in einen Vulkan gestürzt haben, weil sie mit ihrer Schuld nicht fertig wurden. Wir wissen: Gott verzeiht die Schuld, Gott vergibt. Gott vergibt alle Sünden. Es gibt keine Sünde, die nicht vergeben werden könnte, wenn sie – das ist die Bedingung – wenn sie bereut wird. Gott vergibt nur dem reuigen Sünder. Reue enthält zwei Elemente, einerseits den Abscheu vor der Sünde, die Trennung von der Sünde, die Distanzierung von der Sünde und andererseits den Vorsatz, die Sünde künftig zu meiden, die feste Absicht, die Sünde nicht wieder zu begehen. Seien wir uns klar: Ohne Reue werden persönliche Sünden nicht vergeben. Aber wenn Reue da ist, werden sie alle vergeben.

Dem Erbarmen des Herrn im Gleichnis Jesu steht das mitleidlose Verhalten des Knechtes gegenüber. Auch im Verhältnis der Menschen zueinander offenbart sich die menschliche Schwachheit. Immer wieder erleben wir im Verkehr mit anderen Menschen Mißverstehen, Kränkungen, Lieblosigkeiten, Beleidigungen, Verleumdungen. Und oft werden gerade diejenigen, die einem Menschen Gutes tun, am meisten und am rücksichtslosesten behandelt. Niemand bleibt davon verschont. Wir sollten uns darauf einrichten. Es ist unmöglich, meine lieben Freunde, durch das Leben zu gehen, ohne dass Menschen uns Schmerzen zufügen. Wir haben alle schon die Erfahrung gemacht, dass uns durch andere bittere Stunden bereitet wurden, dass Freundschaften vernichtet wurden, dass das Familienleben getrübt wurde, dass Feindschaften entzündet wurden. Wie viele Menschen haben uns schon verwundet durch ihre Worte oder durch ihre Handlungen. Da sagt mancher: Das kann ich nicht vergessen, das kann ich nicht verzeihen. Das kann ich nicht verzeihen. Meine lieben Freunde, dann haben wir den Groll mit uns getragen, tagelang, wochenlang, manchmal jahrelang. Vielleicht tun wir es heute noch. Der Groll, das ist die geheime Abneigung gegen den anderen, die Erbitterung gegen ihn, das Nicht-Verzeihen-Wollen. O, meine Freunde, der Groll vergiftet unsere Seele! Er schädigt uns und stört das Verhältnis zu den Mitmenschen. Er nützt niemandem, er schadet allen. Wer Groll in sich trägt, macht sich selbst krank und zerstört die Brücke, die zu den anderen Menschen führt.

Gewiß, es gibt Kränkungen, es gibt Beleidigungen, die unser ganzes Innere aufwühlen, die unsere Eigenliebe zur Empörung treiben, alle Instinkte der Rachsucht und des Hasses in uns wecken. Je mehr wir darüber nachdenken, um so tiefer wühlen wir uns in diesen Schmerz hinein. Und doch, wenn wir unsere Schuld mit der Schuld, die wir gegen Gott haben, vergleichen, dann sehen wir, dass sie geringfügig ist. Im Gleichnis stehen sich gegenüber der eine, der zehntausend Talente schuldete, und der andere, der hundert Denare schuldig war. Zehntausend Talente sind sechzig Millionen Denare, und bei dem anderen hundert Denare. Gewaltig die eine Summe, geringfügig die andere. Und deswegen: Es ist keine Schuld im Verhältnis von Mensch zu Mensch denkbar, die nicht geringer wäre als das Böse, das wir gegen Gott getan haben. Das Unrecht, das wir von Menschen erfahren, ist nichts gegenüber der Beleidigung, die wir Gott zugefügt haben, das Geschöpf seinem Schöpfer. Die Schuld der Menschen gegen Gott ist unvergleichlich größer als irgendeine Schuld zwischen Mensch und Mensch. Und deswegen sollten wir verzeihen. „Willst du Befriedigung für einen Augenblick, dann räche dich! Willst du Befriedigung für immer, dann verzeih! Wer nachträgt, trägt am schwersten an sich selber!“

Ich habe einmal erlebt, wie ein Apotheker sich mit einer seiner Angestellten einließ. Aber er hat dieses Verhältnis bereut, er hat seine Frau um Verzeihung gebeten, er hat auf den Knien um Verzeihung gebeten, aber die Frau hatte sich bereits anders orientiert. Von Phokion, einem der größten Feldherrn der Athener, der berühmt war wegen seiner Rechtlichkeit und Unbestechlichkeit, von diesem Phokion wird berichtet, dass Anklagen gegen ihn vorgebracht wurden, haltlose Anklagen. Aber das Volk, aufgehetzt, wie es leicht ist, verurteilte ihn zum Tode durch den Giftbecher. Als die Stunde der Urteilsvollstreckung gekommen war, trank Phokion den Becher ruhig und sagte zu seinem Freunde: „Sage meinem Sohne, er möge das Unrecht, das die Athener mir zugefügt haben, niemals rächen, sondern vergessen! Das ist mein letzter Wunsch und Wille.“ Das war Phokion – ein Heide! Er hat vergeben denen, die ihn unschuldig in den Tod getrieben haben.

Das Gericht des Königs über den unbarmherzigen Knecht sollte uns zu denken geben. „So wird mein himmlischer Vater auch mit euch verfahren, wenn ihr nicht von Herzen einander verzeiht.“ Das heißt: Wer nicht verzeiht, dem wird nicht verziehen. Wer nicht den Menschen verzeiht, dem wird auch von Gott nicht verziehen. Der unversöhnliche Mensch findet einen unversöhnlichen Gott. Kein Gebet, keine Reue, kein Empfang des Bußsakramentes bringt uns Vergebung, wenn wir nicht bereit sind, dem Mitmenschen eine erlittene Kränkung zu verzeihen. Von Herzen, also nicht bloß äußerlich, von Herzen verzeihen, innerlich alle Rachsucht und allen Haß überwinden. Das Gefühl der Kränkung haben wir gewöhnlich nicht in der Gewalt, aber der Wille zu aufrichtiger Verzeihung und Vergebung muss in uns sein, und das nicht einmal, sondern immer. Petrus meinte einmal zum Herrn: „Wie oft soll ich verzeihen, Herr? Etwa siebenmal?“ „Ich sage euch: Siebzigmal siebenmal“, das heißt immer. Wir müssen also jederzeit zur Verzeihung bereit sein. Das verlangt Gott so unerbittlich von uns, dass er uns nicht am Altare sehen will, wenn wir nicht Verzeihung geübt haben. „Geh hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfere deine Gabe!“

Es hat im Laufe der Kirchengeschichte ergreifende Beispiele der Verzeihung gegeben. Ich erinnere an den heiligen Johannes Gualbertus. Sein Bruder war ermordet worden, und am Karfreitag – am Karfreitag! – traf er auf einem Hohlweg den Mörder seines Bruders. Nach dem Recht der damaligen Zeit hätte er ihn erschlagen können. Aber der Mörder bat ihn um Verzeihung um der Liebe Christi willen. Tief ergriffen ließ ihn Johannes Gualbertus aufstehen, reichte ihm die Hand und verzieh. In der Kirche eines Klosters warf er sich vor dem Kreuzbild nieder und betete: „Herr, ich tat, wie du befahlst. Ich habe verziehen. Verzeihe auch mir.“ Da war es ihm, als ob sich der Gekreuzigte zu ihm neigte und ihm dankte für das Opfer der Rache, das er gebracht hatte. Es war für ihn der erste Schritt zur Heiligkeit.

Meine lieben Freunde, wenn wir die Forderung nach Verzeihung ernst nehmen, dann wäre nicht so viel Entfremdung und Feindschaft unter denen, die sich Christen nennen. Es ist nicht immer leicht, zu verzeihen. Aber es ist ein Sieg, ein Sieg über die Eigenliebe. Es ist ein Sieg, der uns das erbarmende Herz Gottes öffnet. Wir werden die Kraft dazu finden, wenn wir alle Bitterkeiten und Kränkungen stets im Geiste sühnender Buße für unsere eigenen Sünden auf uns nehmen und ertragen, wenn wir uns an den erinnern, der nicht schalt, als er gescholten wurde, und der nicht drohte, als er litt.

Niemand darf getroster vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen und Vergebung für seine Sünden erflehen als derjenige, der das Apostelwort auf sich anwenden kann: „Man flucht uns – wir beten. Man verfolgt uns – wir dulden. Man lästert uns – wir beten.“ Täglich, meine lieben Freunde, beten wir im Vaterunser nach der Weisung des Herrn: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern.“ Ob dieser Ruf eine Bitte um Erbarmung oder aber eine Herausforderung des ewigen Richters ist, darüber entscheidet die Verfassung unseres Herzens.

Amen.

 

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