Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Februar 1996

Die Bedeutung Mariens in Kirche und Gegenwart

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Seit geraumer Zeit finden Gespräche von ausgewählten katholischen und protestantischen Theologen statt über Gegenstände der christlichen Lehre. Man bildet Kommissionen, die über einzelne Fragen des Glaubens Gespräche führen und manchmal behaupten, zu einer Übereinstimmung gekommen zu sein. Nun wäre es merkwürdig, wenn zwischen katholischer Kirche und protestantischen Religionsgemeinschaften gar keine Zusammenhänge bestünden. Schließlich ist ja der Protestantismus von der katholischen Kirche ausgegangen und hat manches aus diesem Ursprung mitgenommen. Wir dürfen uns freuen, daß es auch im Protestantismus christliche Werte gibt. Wie weit die Übereinstimmung allerdings reicht, das bleibt bei jedem einzelnen Gegenstand festzustellen. In der jüngsten Vergangenheit ist die Behauptung aufgestellt worden, in der Rechtfertigungslehre, also in der Frage, wie man von einem Sünder zu einem Heiligen wird, gebe es keine Gegensätze. Diese Behauptung ist ebenso energisch zurückgewiesen worden, wie sie aufgestellt wurde. Die evangelische Theologische Fakultät von Göttingen etwa, eine sehr angesehene theologische Instanz, hat die Meinung, in der Rechtfertigungslehre bestünde kein Unterschied mehr, als falsch zurückgewiesen. Wie immer man zu diesem Gegenstand stehen mag, auffällig ist, daß bei all den Gesprächen ein Punkt oder besser eine Gestalt niemals behandelt wird, nämlich die Person der Gottesmutter. Maria wird bei diesen Gesprächen völlig ausgeklammert. Man wird fragen: Ist diese Gestalt denn so unbedeutend, daß man sie ausklammern kann? Braucht man von Maria nicht zu reden, um Übereinstimmung oder mangelnde Übereinstimmung im Glauben festzustellen?

Wir wollen, meine lieben Freunde, heute und, so Gott will, an vielen Sonntagen uns die kirchliche Lehre über Maria ins Gedächtnis rufen, und zwar nicht deswegen, weil nun einmal in der katholischen Kirche die Marienverehrung beheimatet ist, sondern weil, wie wir sehen werden, das Christentum ohne die Gestalt Mariens keinen Bestand hat. Wir wollen heute in drei Punkten die Bedeutung Mariens im allgemeinen umreißen, und zwar wollen wir sprechen

1. von Maria und Christus,

2. von Maria und der Kirche und

3. von Maria und der Gegenwart.

Der erste Punkt, dem wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden, ist Maria und Christus. Es ist jedem Christen, der im Glauben bewandert ist, klar, daß zwischen Maria und Christus eine innige Verbindung besteht, wie zwischen Mutter und Kind. Aber diese rein biologische Beziehung erschöpft nicht das Verhältnis Christi und Mariens. Maria ist vielmehr eine heilsgeschichtliche Persönlichkeit. Sie ist nicht nur die Mutter eines nazarethanischen Knaben, sondern sie ist die Mutter des Erlösers. Von daher, von der Menschwerdung her muß Maria verstanden werden. Ihr ganzes Leben ist in die Farbe Christi getaucht, weil sie den menschgewordenen Gottessohn geboren hat. Gott, der bis dahin in der Unzugänglichkeit seines Lichtes gelebt hat, hat in Maria den Überschritt aus seiner Vorbehaltenheit in diese Welt getan. Er wollte nicht nur bloß als Waltender, Wirkender und Erhaltender in dieser Welt tätig sein, sondern als ein heilshaft Handelnder gegenwärtig werden. Zu diesem Zweck wurde Maria ausgewählt; sie war die Pforte des Wortes. Und von daher ist Maria nur zu verstehen. Jede Aussage über Maria geschieht im Lichte Christi. Und umgekehrt: Die Ernsthaftigkeit jeder Lehre über Christus hat ihre Probe in der Lehre über Maria. Die Christologie bewährt sich in der Mariologie, im guten wie im bösen Sinne. Maria trägt die Züge Christi, weil sie seine Mutter ist, weil sie die Stelle ist, an der Gott den Überschritt von seiner Vorbehaltenheit in diese Welt unternommen hat.

Die Lehre über Maria ist aber nicht nur eine Nuance an der Lehre über Christus, sondern sie bringt auch wirklich etwas Neues. Maria geht nicht so in Christus auf, daß, wenn man über Christus spricht, gewissermaßen alles gesagt wäre. Nein, es gibt ein überfließendes Reservoir von Aussagen, die Maria zukommen. Die Mariologie fügt der Christologie genauso etwas zu wie die Ekklesiologie – also die Lehre von der Kirche –, wie die Gnadenlehre oder wie die Eschatologie, die Lehre von den Letzten Dingen. Es wäre ein Panchristismus, der von Pius XII. verworfen ist, wenn man Maria in Christus aufgehen ließe. Sie ist ihm zugeordnet, jawohl, und Maria ist ihm natürlich auch untergeordnet, wie eben ein Geschöpf seinem Schöpfer untergeordnet ist. Aber das besagt nicht, daß nicht über Maria etwas zu sagen wäre, was über die Christologie hinausgeht. Gleichzeitig kann man an Maria ablesen, wie jemand über Christus denkt. Wer die mariologischen Dogmen verwirft, der denkt auch nicht richtig über Christus. In diesem Sinne gilt das alte Wort, daß Maria die Siegerin über alle Häresien ist.

Der zweite Punkt ist Maria und die Kirche. Die Kirche ist ja der Leib Christi, die Kirche ist das Volk Gottes. Christus wirkt in der Kirche, er ist ihr Haupt, er beseelt die Kirche, er hat sie geschaffen. Christus steht also in Beziehung zur Kirche, wie er in Beziehung zu Maria steht. Und wegen dieser doppelten Beziehung, weil Christus die Bezugsmitte für Maria und für die Kirche ist, muß auch zwischen Kirche und Maria eine Verwandtschaft, eine Beziehung bestehen. Und tatsächlich ist Maria das Spiegelbild der Kirche. Wer Maria ansieht, der erblickt die Kirche, und wer die Kirche anschaut, der findet Maria. Maria und Kirche gehören innig zusammen; sie ist der Typus, das Abbild, die Repräsentantin der Kirche. Maria und Kirche gehören untrennbar zusammen.

Die Beziehung zwischen Maria und der Kirche setzt sich fort, insofern auch der einzelne Kirchenangehörige, das einzelne Kirchenglied zu Maria in einer Beziehung steht. Denn Maria ist nicht bloß der Typus der Kirche, sie ist auch der Typus des einzelnen Christen. An Maria kann man sehen, was mit dem Menschen geschieht, der sich auf Gott einläßt. Aus Maria kann man erkennen, welches die Auswirkungen der Gnade in einem Menschen sind, der sich ihr völlig und gänzlich geöffnet hat. Also: Maria ist nicht nur Repräsentantin der von Christus gegründeten Kirche, Maria ist auch Repräsentantin des von Christus erlösten Menschen. Wer Maria von der Kirche trennt, der hat keine richtige Lehre von Maria. Und wer die Kirche von Maria trennt, der hat keine richtige Lehre von der Kirche.

Der dritte Punkt ist die Bedeutung Mariens in der Gegenwart. Ich sagte schon am Anfang, daß aus den Gesprächen zwischen Katholiken und Protestanten die Gestalt Mariens völlig draußen bleibt. Das ist ein ganz schwerwiegendes Versagen, ja das ist eine ganz große Gefahr, weil sich nämlich in Maria alle theologischen Linien vereinigen, die christologische, die ekklesiologische, die eschatologische. In Maria stellen sich auch die theologischen Methoden in einer Klarheit und Schärfe dar wie in keinem anderen Gegenstand der Dogmatik. Das Verhältnis von Schrift und Tradition, die Beziehung von göttlicher Begnadigung und menschlicher Freiheit, die Macht der Gnade auf den freien Willen, alle diese Gegenstände sind in äußerster Schärfe und treffender Weise der Gestalt Mariens zu entnehmen und an Maria zu erkennen.

Wenn deswegen jemand sagt: Wir wollen die Lehre über Maria ausklammern, weil sie zwischen Katholiken und Protestanten kontrovers ist, der gerät in die Gefahr, auch bei den anderen Gegenständen in die Irre zu laufen. Ohne eine richtige Mariologie gibt es keine richtige Christologie, und ohne eine richtige Mariologie gibt es keine richtige Ekklesiologie, und ohne richtige Lehre über Maria gibt es auch keine richtige Gnadenlehre. Es ist ein Irrtum, zu meinen, man könne zu einer Übereinstimmung in der Wahrheit kommen, wenn man einen derartigen Wahrheitsgaranten, wie es Maria ist, beiseite läßt. Damit wird eine Einheit erreicht, aber auf den Trümmern der Wahrheit! Nein, meine lieben Freunde, das ist der falsche Irenismus, den Pius XII. gegeißelt hat. Es gebe Menschen, so sagt er in seiner Enzyklika „Humani generis“, die meinten, man könne gewisse Wahrheiten übergehen oder zurückstellen und auf diese Weise zu einer Einheit kommen, zu einer Einheit, die aber nicht auf der Wahrheit gründet. Eine solche Einheit ist nichts wert. In einer solchen Einheit kann auch die Liebe keine fruchtbare Kraft entfalten.

Das Reden über Maria, die Verehrung Mariens ist heute so zeitgemäß wie gestern. Vielleicht ist sie heute noch viel mehr notwendig als gestern, denn der Mensch ist unsicher geworden. Er weiß nicht mehr um den Sinn des Daseins, er sieht sich überall gefährdet und bedroht.  Da hat uns Gott einen Menschen gegeben, in dem wir den Sinn des Lebens gleichsam gestalthaft anblicken können; da wird nicht in begrifflichen Formulierungen über den Sinn des Lebens gelehrt, sondern da wird uns eine Gestalt vor Augen geführt, an der wir sehen können, wozu der Mensch da ist, wofür ihn Gott bestimmt hat. An Maria kann man ablesen, was mit dem Menschen geschieht, der sich auf Gott gänzlich und völlig einläßt, und zwar in ihrer irdischen Gestalt und in ihrer Vollendungsgestalt. Das von manchen als unzeitgemäß Empfundene ist oft das am meisten Zeitgemäße. So ist auch die Lehre von Maria, so ist auch die Verehrung Mariens so zeitgemäß wie nur irgend etwas. An ihr vermögen wir den Sinn unseres Lebens zu erkennen. Bei ihr verstehen wir auch, was die Frau bedeutet. Wir hören und lesen heute unendlich viel über die Frau, über ihre Gleichberechtigung, über ihre Rolle in der Gesellschaft. Wer etwas Gültiges über die Frau aussagen will und dabei Maria außer acht läßt, der verkürzt die Wahrheit über die Frau. Ohne die Frau aller Frauen, ohne die Jungfrau über allen Jungfrauen, ohne die Mutter über allen Müttern kann man nicht letzlich Gültiges über die Frau aussagen.

So wollen wir also, meine lieben Freunde, an den kommenden Sonntagen über das Mariengeheimnis nachsinnen. Wir wollen entfalten, wie sie die Braut des Heiligen Geistes, wie sie die Mutter des Erlösers, wie sie die Tochter des Schöpfers ist. Wir wollen uns erfreuen an ihrer Gestalt und erheben und erbauen. Wir wollen unsere Liebe zu ihr erneuern, denn wir wissen: Wenn es einen Weg nach Hause gibt, dann führt er an der Hand Mariens.

Amen.

 

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