Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Januar 2015

Der zwölfjährige Jesus im Tempel

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir unterscheiden zwei Phasen im Leben Jesu. Einmal das lange verborgene Leben in Nazareth und die kurze Zeit seines öffentlichen Wirkens in Judäa und Galiläa. Aus der Jugendgeschichte Jesu und der Zeit bis zu seinem öffentlichen Auftreten besitzen wir nur die von Lukas in seinem Evangelium berichtete Szene im Tempel von Jerusalem. Der Anlass zu dieser Begebenheit war das Mosaische Gesetz. Nach diesem Gesetz waren alle männlichen Israeliten – ausgenommen: Greise, Sklaven, Kranke, Minderjährige – waren alle männlichen Israeliten verpflichtet, dreimal im Jahre nach Jerusalem zu wallen: zum Osterfest, zum Pfingstfest und zum Laubhüttenfest. Nach rabbinischer Vorschrift war ein Knabe mit 13 Jahren verpflichtet, an der Wallfahrt teilzunehmen. Gewohnheitsmäßig haben sich auch Frauen und Kinder an den Wallfahrten beteiligt, obwohl sie nicht dazu verpflichtet waren. Die buchstäbliche Durchführung des Gebotes war freilich nicht möglich wegen der weiten Entfernung von Jerusalem. Nicht alle Juden konnten an jedem Fest teilnehmen – das ist ja auch aus unserem heutigen Evangelium zu entnehmen: Man hat sich mit der Teilnahme an einem Fest (Ostern) begnügt. Die Entfernung von Nazareth nach Jerusalem ist etwa 100 Kilometer. Und wenn man die Umwege mit einberechnet etwa 120 Kilometer, also wenigstens 3 Tagesmärsche. Die Festpilger legten den Weg nach Jerusalem gruppenweise in Dorfgemeinschaften zurück. Es war nicht ganz ungefährlich, eine Wallfahrt zu unternehmen. Der Weg führte ja durch Samaria, und die Samaritaner waren den Juden nicht freundlich gesinnt. Pilger kamen nicht nur aus Palästina nach Jerusalem, sondern auch – wie wir aus Philo wissen – aus vielen anderen Ländern. Man rechnet mit bis zu 125 000 Festpilgern.

Josef und Maria reisten zu jedem Osterfest nach Jerusalem. Das zeigt, wie genau sie es mit den Vorschriften des Gesetzes nahmen. Bei dieser Wallfahrt war der zwölfjährige Jesus dabei. Dass keine anderen Kinder mitgenommen wurden, zeigt, dass Jesus eben nicht nur der Erst-, sondern auch der Einziggeborene Mariens war. Lukas spricht jetzt nicht mehr von dem „Kind“ Jesus, sondern von dem „Knaben“. Jesus ist herangewachsen. Die heilige Familie blieb wohl die ganze Festwoche in Jerusalem; verpflichtet war man nur zu einer Anwesenheit von 2 Tagen. Maria und Josef tun also mehr, als das Gesetz befahl. Für Jesus war mit dem Schluss der Festfeier das Verweilen in Jerusalem nicht beendet. Er blieb in der Stadt. Das zeigt: Der Messias ist nicht in Bethlehem oder in Nazareth beheimatet, sondern in Jerusalem; das ist seine Heimat. Er wusste sich durch ein anderes Gesetz als das des Moses und ein anderes Gebot als durch die fromme Sitte an den Tempel gebunden. Josef und Maria bemerkten die Abwesenheit Jesu nicht. Die Festpilger reisten ja in größeren Gruppen, und da konnte es geschehen, dass sie ihr Kind stundenlang nicht sahen. Sie durften sich mit der Erwartung trösten, dass das Kind sich bei anderen Teilnehmern der Reisegesellschaft befindet. Erst nach Ablauf des ersten Tages der Rückreise stellten sie nach vergeblichem Suchen fest, dass ihr Sohn nicht bei ihrer Gruppe war. Sie kehrten um; sie waren besorgt. Am dritten Tag vom Termin der Abreise angerechnet, also am nächsten Tag ihrer Rückkehr, fanden sie Jesus. Sie erblickten ihn im Tempel, genauer: in einer der Hallen, die zum äußeren Tempelvorhof gehörten und in denen die Rabbinen ihre Lehrvorträge hielten. Sie entdeckten ihn sitzend inmitten der Lehrer, ihnen zuhörend und sie befragend. So war es üblich. Die Schüler der Rabbinen saßen auf dem Erdboden und hörten ihren Lehrern zu. Jesus beteiligte sich an der Diskussion mit den anerkannten Lehrautoritäten. Das Zuhören zeigt sein Interesse an den Lehrvorträgen; das Fragen zeigt seine Wissbegierde. Fragen gehörte zum Lehrvortrag, zur Lehrweise der Rabbiner. Aber er fragte nicht nur, er gab auch Antwort. Und in den Antworten offenbarte Jesus ein außergewöhnliches Verstehen des Gotteswillens, wie er im Gesetz enthalten ist. Die Art seines Fragens und seiner Antworten ragen über das Verständnis eines Zwölfjährigen hinaus. Sie setzt die Lehrer und die Zuhörer in Staunen. Das Staunen, meine lieben Freunde, wird sich fortsetzen, wenn er, zum Manne herangereift, in der Öffentlichkeit wirken wird. Da fragten die Menschen: „Woher hat dieser Weisheit und Wunder? Ist er nicht des Zimmermanns Sohn? Heißt nicht seine Mutter Maria? Woher hat er dies alles?“

Als Josef und Maria den Knaben erblicken, erschrecken sie. Warum erschrecken sie? Erschrecken ist in der Bibel die Reaktion auf die Begegnung mit Gott. Als der Engel Maria die Botschaft brachte, da erschrak sie. Das Erschrecken der Eltern ist ein Zeichen dafür, dass sie Gottes Macht begegnen. Sie erkennen, dass Jesus aus einer ganz anderen Welt kommt. Maria ergreift das Wort: „Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Diese Worte Mariens können nur als Vorwurf verstanden werden. Sie sind der Ausdruck des Schmerzes, den ihnen ihr Sohn durch sein Verhalten bereitet hat. Die Antwort Jesu ist das erste Wort aus seinem Munde, das in den Evangelien aufbewahrt ist. Es ist für sein Selbstbewusstsein wichtig, weil es von einem Zwölfjährigen gesprochen wird, also in einem Alter, in dem er sein Amt als Messias noch nicht öffentlich angetreten hatte: „Wie konntet ihr mich suchen? Wisst ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ Es ist ihm unverständlich, ja unbegreiflich, dass sie anderswo suchten als im Tempel. Von diesem Wort, mit dem Jesus seiner Mutter widerspricht, ist von kindlichem Sinn und kindlichem Gehorsam nichts zu finden. Dieses Wort gehört zu jenen Stellen des Evangeliums, an denen Jesus stets „mein Vater“ sagt; niemals, an keiner Stelle, sagt er „unser Vater“. Er hat ein exklusives Verhältnis zum Vater im Himmel. Er teilt es mit keinem anderen. Das ganze Gewicht dieses ersten Wortes Jesu liegt darin, dass er Gott seinen Vater nennt und ihn von seinem gesetzlichen Vater, den Maria ja eben angesprochen hat, unterscheidet und diesem entgegenstellt. Jesus verweist auf sein einzigartiges Gottesverhältnis. Er steht unter einem anderen, einem höheren Zwang. Das göttliche „muss“ ist für ihn das erste und oberste Gebot. Sein Leben wird nicht bestimmt durch den Willen der menschlichen Eltern, durch Sitte und Gewohnheit, sondern durch Gott. Dort muss er sein, wo es um Gott geht – und das ist im Tempel. Das ist der Ort der Unterweisung des göttlichen Gesetzes als der Repräsentanz des göttlichen Willens. Der Zwölfjährige erklärt sich durch einen Gehorsam Gott gegenüber gebunden, hinter dem die Pflicht des Gehorsams der Eltern gegenüber zurücktreten muss. Der im Gottes Willen begründete Anspruch der Eltern im 4. Gebot, dieser Anspruch der Eltern wird korrigiert durch das einzigartige Sohnesbewusstsein Jesu. Hier wird zum ersten Mal von Jesus angedeutet, dass seine Gottessohnschaft und seine Sendung das natürlich-menschliche Band mit der Familie zerreißen muss. Den Kummer, den Jesus seinen Eltern durch seinen Verbleib im Tempel bereitete, musste er ihnen bereiten. Als er öffentlich auftrat, spielte sich ein ähnliches Ereignis ab. Es war in einem Hause, die Menge umgab ihn, da meldete man ihm: „Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen dich sprechen.“ Da wies er den Meldenden ab: „Wer sind meine Mutter und wer sind meine Brüder? Die den Willen meines Vaters tun, das sind meine Mutter und meine Brüder.“ Erschreckende Worte, die aus dem Munde Jesu gekommen sind. Er war Maria und Josef noch nicht offenbar. Für sie war das, was Jesus sagte, ein Rätsel. Die Einzigartigkeit seines Sohnesbewusstseins war allen anderen Menschen noch ein Geheimnis. Der Mensch ist in der Begegnung mit Gott immer überfordert. Maria gehörte genauso wie die Jünger Jesu und wie das ganze Volk zu den Glaubenden, die durch die Unsicherheit hindurch sich der Führung Gottes anvertrauen müssen. Das Wort von dem Schwert, das ihr Herz durchdringt, wäre sonst nicht verständlich.

Die Begebenheit im Tempel zu Jerusalem war einzigartig. Danach beginnt wieder das alltägliche Leben. Er zog hinab mit ihnen – also jetzt gemeinsam – und kam nach Nazareth und war ihnen untertan – der Sohn Gottes der Magd Gottes, der Sohn des himmlischen Vaters dem Pflegevater. Indem Jesus sich der natürlichen Ordnung fügt, akzeptiert er das Menschsein bis zur letzten Konsequenz. Er lebt in der Verborgenheit von Nazareth als der Sohn des Zimmermanns. Der Apostel Paulus wird das dann im Brief an die Philipper auf seine Weise ausdrücken: „Er war in Gottesgestalt, aber er glaubte nicht, das Gleichsein mit Gott selbstsüchtig festhalten zu müssen. Nein, er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, war dem Äußeren nach erfunden als Mensch.“ Man kann fragen, meine lieben Freunde, warum Gott seinen Sohn so lange in der Verborgenheit beließ. Eine mögliche Antwort lautet: Weil er hier für seinen messianischen Beruf vorbereitet wurde. In der Stille des häuslichen Lebens, in der Abgelegenheit von Galiläa sollte er sich rüsten für seine öffentliche Tätigkeit. Es kann sich hier – möglicherweise – das Wort erfüllt haben: „Wer Heiliges einst künden will, schweigt viel in sich hinein. Wer Blitze zünden will, muss lange Wolke sein.“ Alle großen Erneuerer des Christentums haben es gehalten wie er. Sie sind also zunächst in die Einsamkeit gegangen, haben gebetet, mit Gott gerungen, sich von ihren Schwächen und Lastern befreit, haben ein vertrautes Verhältnis zu Gott gefunden, und dann waren sie innerlich gerüstet für ihrer reformerische Tätigkeit, von Antonius, dem Einsiedler, angefangen bis Ignatius von Loyola. Lukas bringt noch eine letzte Bemerkung: „Maria bewahrte all diese Begebenheiten“, deren tiefsten Sinn sie ja noch nicht verstand, aber sie bewahrte sie und machte sie zum Gegenstand des Nachdenkens. Diese Bemerkung ist nicht die einzige dieser Art. Das war auch der Fall bei dem, was die Hirten ihr berichtet hatten. Ich bin überzeugt, dass der Evangelist Lukas hier eine Quelle seines Evangeliums angibt, nämlich Maria. Er hat offenbar noch Zugang zur Mutter Jesu gehabt und manches von ihr unmittelbar erfahren.

„Jesus aber nahm zu an Weisheit und Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“ Das wurde auch schon gesagt bei der Darstellung Jesu im Tempel: „Das Kind wuchs, wurde stark und voller Weisheit, und die Gnade Gottes war auf ihm.“ Jesus hatte ja eine wahre Menschennatur angenommen, und deswegen muss man bei ihm auch eine wahre menschliche Entwicklung annehmen. Ich habe einmal einen Aufsatz gelesen: „Gott war ein Junge.“ Das stimmt, Gott war ein Junge. Er hat eine Entwicklung durchgemacht, nicht bloß körperlich, sondern auch geistig. Als wahrer Mensch muss er auch in seinem Denken und in seinem Erfahrungswissen fortgeschritten sein, von echt kindlicher Art zu immer größerer Reife. Die Gnade Gottes und der Menschen bezeichnet das beständig wachsende Wohlgefallen, mit dem Gott auf seinen menschgewordenen Sohn herabblickte, und das dieser auch bei den Menschen fand, die mit ihm in Berührung kamen. Jesus wuchs unter den Augen seiner Landsleute heran. Als er in die Öffentlichkeit trat, hörte er eine Himmelsstimme, die wiederholt zu ihm sprach: „Dieser ist mein geliebter Sohn; an ihm habe ich mein Wohlgefallen. Ihn sollt ihr hören.“ Es ist derselbe, meine lieben Freunde, von dem Johannes, der Evangelist, versichert: „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, voll der Gnade und Wahrheit.“

Amen.

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