Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
20. Februar 2000

Die Gnade als freies Geschenk Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir Christen führen das Wort Gnade häufig im Munde. Bei jedem Ave Maria sagen wir ja: „Gegrüßet seist du, voll der Gnade.“ Im religiösen Sprachgebrauch ist das Wort Gnade geradezu gängige Münze. Dennoch lohnt es sich,  über die Gnade nachzudenken, zu fragen, was sie bedeutet, welche Wirkungen sie hat, wie sie gewonnen wird und wie man sie verlieren kann.

Christus ist gekommen, das Reich Gottes zu bringen. Das war der Sinn seiner Sendung, die Herrschaft Gottes unter den Menschen aufzurichten. Damit verschaffte er ihnen das Heil; wenn Gott herrscht, gewinnt der Mensch das Heil. Der Eintritt in die Gottesherrschaft ist dem Menschen von Gott geschenkt, und eben diese Weise, in die Gottesherrschaft einzugehen, geschenkweise, nennen wir Gnade. Wir sprechen von Gnade auch im natürlichen Bereich. Wir hören, daß der Bundespräsident einen zu langjähriger Haftstrafe Verurteilten begnadigt hat; er hat ihm einen Teil der Strafe erlassen. Das ist eine natürliche Gnade. Wir sprechen auch von Gnade, wenn ein Künstler ein überragendes Werk geschaffen hat, das nicht durch Fleiß und Ausdauer zustandegekommen ist, sondern das eben gewissermaßen aus der Fülle der Kraft und der Eingebung enstanden ist. Und schließlich nennen wir auch Gnade eine Begegnung zwischen zwei Menschen, die über das Alltägliche hinausgeht, wo die Menschen sich bereichern, wo sie zu Freundschaft und Liebe finden.

Diese natürliche Gnade ist nicht gemeint, wenn wir im theologischen Bereich von Gnade sprechen. Gnade im theologischen Sinne ist eine übernatürliche Gabe. Die Natur ist das, was in der Schöpfung in uns angelegt ist; die Übernatur ist das, was Gott darüber hinaus dem Menschen geschenkt hat. Das Übernatürliche ist durch zwei Kennzeichen geprägt. Einmal, es ist über die Wirklichkeiten, Kräfte und Werte der Natur hinausgehend; es überschreitet die Kräfte der Natur; es kann von den Kräften der Natur nicht herbeigezwungen werden. Und zum anderen: Es ist ungeschuldet dem Menschen geschenkt. Der Mensch kann keinen Anspruch auf das Übernatürliche erheben. Das Übernatürliche wird ihm aus dem freien Liebeswillen Gottes mitgeteilt. Das Übernatürliche zielt darauf hin, den Menschen in die Lebensgemeinschaft mit Gott zu rufen. Auf Erden mit seinen natürlichen Kräften kann der Mensch zu einer gewissen Erkenntnis Gottes kommen, aber er kann nicht in das innerste Lebensgeheimnis Gottes hineingeführt werden, wenn Gott nicht ihm selbst auf übernatürliche Weise dieses Leben zugänglich macht.

Im außerbiblischen Bereich bestand eine dunkle Ahnung und auch ein gewisses Sehnen nach der Gnade, aber Kenntnis von der Gnade hatten die Menschen im Bereich außerhalb der Offenbarung nicht. Sie sehnten sich danach, sie ahnten, daß es so etwas geben mag, aber sie hatten kein Wissen um die Gnade Gottes. Das kann man an den einzelnen Religionen sehr gut nachweisen, etwa im Parsismus, in der persischen Religion oder in der indischen Religion. Da fehlt es schon deswegen an Kenntnis der Gnade, weil die Menschen dort sich selbst erlösen wollten. Auch in der griechischen Religion gibt es keine Kenntnis von der Gnade. Prometheus ist ja das Urbild des Menschen, der sich selbst verwirklichen will, der den Göttern das Feuer raubt und in freier Selbstherrlichkeit leben will. Die Griechen wußten sich gebeugt unter ein gnadenloses Schicksal. Über allen, auch über den Göttern, waltet die Ananke, d. h. die Notwendigkeit, das Schicksal. In einem Chorlied der Alkestis bei Euripides heißt es von diesem Schicksal: „Empor hob mich die Muse und die Forschung, gar manches Buch las ich; nirgends fand ich etwas stärker als das Schicksal. Man kann nicht den Altären, nicht dem Bilde der Gottheit nahen; blutiges Opfer erhört er nicht. Greife, Herrin, nicht rauher in mein Leben als früher ein. Was Zeus selber verfügt, durch dich wird’s ans Ziel geführt. Dein unerbittlich Herz kennt kein schonendes Mitleid.“ Hier ist die Härte, die unerbittliche Härte, der Zwang des Schicksals deutlich ausgesprochen. Deswegen gibt es auch bei den großen griechischen Philosophen kein Gebet. Plato und Aristoteles kennen das Gebet nicht. Erst später, als vielleicht schon unter dem Einfluß des Christentums andere Gedanken in die griechische Philosophie eindrangen, da entstehen echte Gebete im Griechentum, und da beginnt sich zu zeigen, daß die Gnade – die sie nicht kannten! – in ihnen schon wirksam war. Denn das sind zwei Dinge, die Gnade kennen und unter ihrem Einfluß stehen. Man kann auch unter dem Einfluß der Gnade stehen, wenn man nicht um sie weiß. Und das scheint bei manchen dieser griechischen stoischen Philosophen der Fall gewesen zu sein. Etwa wenn es bei Epiktet heißt (so spricht er zu Gott): „Brauche mich nun, wozu du willst, ich bin mit dir eines Sinnes. Ich bin der Deine; gegen nichts will ich mich sträuben, was du mir ausersehen hast. Führe mich, wohin du willst; bekleide mich mit einem Gewande, wie du willst. Willst du, daß ich ein Amt führe, daß ich Privatmann sei, daß ich in der Heimat bleibe, daß ich in die Verbannung muß, daß ich arm, daß ich reich sei: ich werde dich bei all diesem vor den Menschen bekennen. Eigentlich müssen wir bei allem Tun den Lobgesang Gottes anstimmen: Groß ist Gott, denn er schenkte uns die Werkzeuge, mit denen wir die Erde bebauen. Groß ist Gott, denn er schenkte uns Genießen und Verdauen, Wachsen, ohne daß wir es merken, und Erquickung im Schlaf.“ Hier scheint eine Ahnung von der Gnade Gottes, von dem Erbarmen Gottes ausgesprochen zu sein. Aber freilich, in der griechischen Philosophie gab es keine klare Erkenntnis von der Personalität und von der Einheit Gottes. Die Menschen wurden als Entfaltung Gottes verstanden, und die Götter als Gestaltung des Menschen. Deswegen war es ausgeschlossen, daß ein klares Bewußtsein von der Gnade sich erheben konnte.

Anders ist es im Alten Testament. Hier ist der Ein-Gott-Glaube vorhanden und die Personalität Gottes deutlich ausgesprochen. Infolgedessen ist das Alte Testament, ist die Offenbarung des Alten Testamentes eine Vorform der Gnadenoffenbarung des Neuen Testamentes. Im Alten Bunde wird uns Gott geschildert als Vater des Volkes und als Vater der einzelnen Menschen. Ja, er ist sogar der Vater der Heiden, nicht nur des eigenen Volkes. Er ist der Richter und Rächer, aber er ist auch der Erbarmer und der Segenspender. Er führt das Volk, er leitet die einzelnen, er hat Moses berufen, er hat Josue geführt, er hat Deborah den Sieg verliehen. Hier ist deutlich erkennbar, welchen Fortschritt die Vorstellung von der Gnade in den Menschen gemacht hat. Hier freilich unter dem Einfluß der Gnade, die selbstverständlich viel stärker wirksam war als im außerbiblischen Bereich. Ganz ergreifend spricht sich das Bewußtsein oder die Ahnung von der Gnade in den Propheten des Alten Bundes aus, etwa wenn es bei Isaias heißt: „Mögen weichen die Berge und wanken die Hügel, so soll doch meine Liebe nicht weichen von dir, mein Heilsbund nicht wanken, spricht der Herr, der Erbarmer.“ Und in einem ergreifenden Gebet hat Jeremias sich an den alttestamentlichen Gott gewandt: „Der Thron der Herrlichkeit, erhaben von Anbeginn, ist unseres Heiligtums Stätte. Du Hoffnung Israels, Herr, alle, die dich verlassen, werden zuschanden, die von dir weichen, werden in den Staub geschrieben, denn sie haben verlassen den Quell lebendigen Wassers, den Herrn. Heile mich, Herr, daß ich Heilung finde! Steh mir bei, daß mir Hilfe werde, denn dir gilt mein Lob. Siehe, sie sagen zu mir: Wo bleibt die Drohung des Herrn? Sie treffe doch ein; ich drängte dich nicht zum Unheilsgericht, nach dem Unheilstag habe ich nicht begehrt. Du weißt, was mir über die Lippen kam, vor dir liegt es offen. Werde mir nicht zum Schrecknis, du meine Zuflucht am Tage des Unheils.“ Ganz deutlich ist hier, wie das Erbarmen Gottes, und das ist ja ein Ausfluß seiner Gnädigkeit, angerufen wird.

Ganz offenbar liegt die Gnade dann im Neuen Testament. Das Neue Testament hat viele Worte für die Wirklichkeit, die wir Gnade nennen. Der Evangelist Johannes spricht, wenn er von der Gnade reden will, von der Wiedergeburt, von dem neuen Leben. Er spricht von der Gemeinschaft mit Christus; er spricht von Licht und Leben. Die drei ersten Evangelisten meinen dasselbe, wenn sie vom Reich Gottes, von der Herrschaft Gottes, vom Reich der Himmel reden. Damit ist immer die Gnade gemeint. Beim Apostel Paulus ist dann der Ausdruck Gnade besonders klar ausgebildet. Er kommt in seinen Schriften 117 mal vor. Das griechische Wort heißt Charis. 117 mal spricht Paulus davon, er ist gewissermaßen der Apostel der Gnade geworden. Aber auch in dem von ihm beeinflußten Schrifttum kommt die Gnade vor, so bei Lukas im Evangelium und in der von ihm verfaßten Apostelgeschichte. Im Evangelium 8 mal, in der Apostelgeschichte 17 mal.

Was bedeutet nun der Ausdruck Gnade im Neuen Testament? Er hat vier Bedeutungen. Einmal bedeutet Gnade die gnädige Gesinnung Gottes, die Gunst Gottes, das Wohlwollen Gottes über seiner Schöpfung. Zweitens besagt Gnade die gesamte Führung Gottes in der Geschichte. Die ganze Heilsveranstaltung ist Gnade. Drittens wird als Gnade bezeichnet die einzelne Gabe, die Gott dem Menschen verleiht. Wir werden dann später sehen, daß die Theologie sie unterscheidet in Wirkgnade und heiligmachende Gnade. Und schließlich viertens wird Gnade auch als Eigenschaft des Menschen bezeichnet, der die Gnade empfangen hat. Das Wort Gnade selbst bedeutet ursprünglich Schönheit, Edelmut, Anmut, Uneigennützigkeit, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit. Alle diese Nuancen des Begriffes sind in den christlichen Begriff der Gnade eingegangen: Schönheit, Edelmut, Anmut, Uneigennützigkeit, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit. Das deutsche Wort Gnade ist aus einer indogermanischen Wurzel emporgewachsen, nämlich net, und kommt also im Indischen genau so wie im Althochdeutschen vor, im Mittelhochdeutschen – genade, ginade. Das deutsche Wort Gnade besagt soviel wie sich huldvoll einem anderen zuneigen – sich huldvoll einem anderen zuneigen. Und auf Gott angewendet ist es eben die Huld, die Gott den Menschen erweist.

Diese Gnade wird uns, so Gott will, an den kommenden Sonntagen noch viel beschäftigen. Aber wir wissen heute schon: Die Gnade ist eine übernatürliche Gabe, die Gott dem vernünftigen Geschöpf um Christi willen und nach dem Urbild Christi aus Liebe geschenkweise zur Teilnahme am innertrinitarischen göttlichen Leben verleiht. Amen.

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