Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. März 2007

Das Gebet des Herrn

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Viele Monate lang haben wir die Wirklichkeit des göttlichen Lebens, die Herrlichkeit Gottes betrachtet in seinem Wesen, in seinem Wirken und in seiner Offenbarung. Und es kommt darauf an, dass wir das alles festhalten, was wir zusammen überlegt und uns angeeignet haben. Damit wir es festhalten können, hat uns Gott einen Mahner gegeben, einen Mahner, der uns an alles erinnert, was er uns gesagt hat. Dieser Mahner ist das Gebet des Herrn, das „Unser Vater“ oder wie wir in den Übersetzung von Pater noster sagen, das Vaterunser. Es besteht aus einer Anrede, aus sieben Bitten und einem Schlusswort, nämlich „Amen“.

Die Anrede lautet: „Vater unser, der du bist im Himmel“. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde als Vater ansprechen. Wir düfen es nur, weil Jesus uns gelehrt hat. Wir dürfen ihm den vertrauensvollen Namen „Vater“ geben, und so beginnt dieses Gebet mit einem Ausruf des Vertrauens: „Vater unser“, denn zu einem Vater kann man Vertrauen haben, auch wenn der himmlische Vater weit, unendlich weit über jedem irdischen Vater steht. Er hat etwas Väterliches an sich, und das weckt unser Vertrauen. Vater unser ist er, weil er uns geschaffen hat, wenn auch mit vielen Zwischenursachen, nicht unmittelbar jede einzelnen, er hat ja seine Geschöpfe für die Weitergabe des Lebens bestellt, und er ist unser Vater auch in der Erlösung. Er hat uns in sein göttliches Leben hineingerufen in der Taufe, in der Firmung. Wir dürfen am Leben der Gnade, am dreifaltigen Leben Gottes teilnehmen.

Es heißt aber dann: „Vater unser, der du bist im Himmel.“ Das unterscheidet den himmlischen Vater von jedem irdischen Vater. So wertvoll und so kostbar mancher irdische Vater sein mag, er ist unermesslich getrennt von dem Vater im Himmel. Wir bezeichnen die Seinsweise Gottes mit einem treffenden Ausdruck als „Transzendenz“, d.h. als Grenzüberschreitung. Gott überschreitet jede Grenze der Erfahrung. Er wohnt in „unzugänglichem Licht“. Gott hat eine Wirklichkeit, in die kein Mensch einzudringen vermag. Das ist ausgedrückt mit dem Worte „der du bist in deinem Himmel“. Gott überragt alles Irdische. Wir sagen: „Vater unser.“ Warum? Ja, weil wir eben als Brüder füreinander beten. Der Einzelne betet für alle, und alle beten für den Einzelnen. Für sich zu beten zwingt uns die Not; für andere zu beten nötigt uns die Bruderliebe.

Dann kommen drei Bitten, die sich unmittelbar auf Gott richten, auf Gottes Ehre. Wir machen uns zuerst die großen Anliegen Gottes zu eigen, nämlich seinen Namen, sein Reich und seinen Willen. Sein Name. „Geheiligt werde dein Name!“ In dieser Bitte flehen wir, dass alle Menschen in herzlicher Frömmigkeit Gott die schuldige Ehre geben, die Ehre geben im Gebet und im heiligen Opfer, die Ehre geben in der Werktagsarbeit und in den Plagen der Arbeit, die Ehre geben in den Stunden der Prüfung und des Leidens. Wir sind ja auf Erden, um ihn zu verherrlichen; das ist ja das Ziel unseres Lebens, ja das ist der Zweck unseres Lebens. Und deswegen ist es so angebracht zuflehen. „Geheiligt werde dein Name!“ Es muss uns schmerzen, meine Freunde, es muss uns weh tun, es muss uns quälen, dass es Menschen gibt, die Gott nicht kennen und die ihn nicht anerkennen, die seinen Namen also nicht heiligen. Das muss uns wirklich in tiefster Seele berühren, und deswegen, weil uns das berührt, flehen wir: „Geheiligt werde dein Name!“ von allen, von uns, aber auch von allen anderen. Alle Geschöpfe sollen Gott verherrlichen, denn daran hängt unser Heil.

Dann geht es weiter: „Zu uns komme dein Reich!“ O, das Reich Gottes ist die Wirklichkeit, die wir am meisten ersehnen, und zwar in einem mehrfachen Sinne. „Zu uns komme dein Reich“ um uns, denn in gewisser Hinsicht ist ja die Kirche der Herold und der Anfang des Gottesreiches. Wenn wir also flehen: „Zu uns komme dein Reich!“, dann wollen wir, dass unsere Kirche über die ganze Erde verbreitet wird, dass sie alle Menschen in sich versammelt, dass sie auch die Gespaltenen, die Abgespaltenen zurückruft in das Reich des Sohnes unseres himmlischen Vaters. „Zu uns komme dein Reich!“ Aber dann auch das Reich in uns, denn wir tragen ja das Gottesreich in gewisser Hinsicht in uns in der heiligmachenden Gnade. Das ist Gottes Reich. Und dass diese Gnade in uns bleibe, dass sie in uns wachse, dass sie sich vermehre, das ist auch in dieser Bitte enthalten: „Zu uns komme dein Reich!“ Und schließlich das Reich Gottes über uns. Auch das soll kommen, nämlich dass uns Gott, wenn die Stunde schlägt, in sein himmlisches Reich aufnimmt, dass er uns in den Himmel aufnimmt. Das ist auch in dieser Bitte enthalten. Wir wollen, dass dieses Reich Gottes zu uns kommt, wenn Gott uns abberuft. Und schließlich hat diese Bitte noch einem vierten Sinn, nämlich dass einmal der neue Himmel und die neue Erde sich herabsenkt, dass der Zustand eintritt, wo es keine Sonne und keinen Mond mehr braucht, weil Gott die Leuchte im Reiche Gottes ist. „Zu uns komme dein Reich!“ Nach diesem Reiche schauen wir aus, und nach diesem Reiche verlangen wir.

„Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden!“ Im Himmel ist ein jedes Geschöpf dem Willen Gottes freudig und für immer untertan. Die Engel und die Heiligen des Himmels beten Gottes Willen an. Da geschieht wirklich sein Wille. Aber er soll auch auf Erden geschehen, dieser Gotteswille. Wir sollen die Kraft finden und den Mut, den Willen Gottes zu erfüllen, der sich ausspricht im sittlichen Naturgesetz und in der Offenbarung. Diesen Willen Gottes sollen wir uns zu eigen machen, ihn sollen wir erfüllen. Die Bitte bedeutet also gewissermaßen, dass alle Menschen so treu und gewissenhaft nach dem Willen Gottes leben, wie die Engel und Heiligen es tun. Laß uns so beten, wie du gebetet hast, o Herr, am Ölberg: Nicht wie ich will, sondern wie du willst. Es war einmal ein junger Mann sehr krank, und er sollte sterben. Aber wollte nicht sterben. Da besuchte ihn ein Priester. Der Priester sagte zu ihm: „Wir sollen zusammen beten.“ „Ja“, sagte der Kranke, „das wollen wir.“ „Ich bete vor, uns Sie beten nach.“ „Ja, das will ich tun.“ „Vater unser im Himmel“ – „Vater unser im Himmel.“ „Geheiligt werde dein Name!“ – „Geheiligt werde dein Name!“ „Dein Reich komme!“ – „Dein Reich komme!“ „Mein Wille geschehe!“ Da stutze der Kranke: „Nein, nein“, rief er unter Tränen, „so darf es nicht heißen. Dein Wille geschehe!“ Da hatte er ihn gefunden, den Leidenswillen, da hatte er ihn gefunden. Das ist also der Sinn dieser Bitte: Gottes Wille soll geschehen. „Du sorgst weit mehr für mich, als ich selbst für mich sorgen kann“, so steht im Buch von der Nachfolge Christi. „Was du mit mir tust, das kann nicht anders als gut sein.“ Und deswegen: „Dein Wille geschehe!“

Jetzt haben wir die drei großen Bitten um Gottes Verherrlichung abgeschlossen und kommen zu den vier Bitten, die uns selbst betreffen. Jetzt kommen unsere Anliegen zur Sprache: das tägliche Brot, die Erlösung von Versuchung und Schuld und Übel. „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Wir bitten nicht für alle Zukunft, wir bitten für die Gegenwart. Wenn es für heute nur reicht, wollen wir zufrieden sein. „Sehe ich den Weg auch nicht, wenn ich nur sehe jeden Schritt!“ So hat Kardinal Newman gebetet, und das reicht. Wie viele Menschen haben nicht das tägliche Brot, den täglichen Reis oder das tägliche Angebot des Meeres! Man hat schon gesagt: Ja, das kann man doch die Eskimos nicht beten lehren: „Gib uns unser tägliches Brot!“ Die leben doch von den Fischen und von den Robben. Meine lieben Freunde, das Gebet „Gib uns unser tägliches Brot!“, das ist so zu verstehen: Gib uns alles, was zum Leben unbedingt notwendig ist. Das heißt natürlich: Gib uns auch zu trinken, denn ohne Trinken können wir auch nicht leben. Gib uns auch eine Behausung, denn wir können nicht unter freiem Himmel unser Leben verbringen. Gib uns eine Bekleidung, denn wir können nicht bloß und nackt herumlaufen. Also wenn wir beten: „Gib uns unser tägliches Brot!“, dann meinen wir damit: Gib uns alles, was zur Erhaltung des Lebens notwendig ist.

„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ Durch Schwäche, Leichtsinn und Bosheit haben wir gesündigt. Unsere Sündigkeit bringen wir jetzt vor Gott und wollen umkehren, wie es der verlorene Sohn getan hat, und beten: „Vergib uns unsere Schuld!“ Gott will uns aufnehmen, aber unter einer Bedingung: wie auch wir vergeben unseren Schuldigern! Menschen, die uns etwas angetan haben, die uns ein Leides zugefügt haben, die uns verleumdet, gequält, misshandelt, geringgeschätzt haben: erst müssen wir ihnen vergeben, dann dürfen wir auf die Vergebung Gottes hoffen. Also: Verzeihe uns unsere Sünden, wie wir auch denen verzeihen, die uns beleidigt haben. Dabei müssen wir uns noch den Unterschied klar machen; denn es ist etwas ganz anderes, wenn Gott verzeiht, oder wenn wir sagen: Ich verzeihe dir. Wir können die Sünde – auch des anderen – nicht wegnehmen, aber Gott nimmt sie weg. Er wirft sie in den Abgrund seines Erbarmens, und sie ist vernichtet für alle Ewigkeit. Das können wir nicht. Aber wir können selbstverständlich dem Bruder erklären: Was du mir angetan hast, das will ich dir nicht mehr vorhalten, das soll begraben sein im Erbarmen Gottes.

„Und führe uns nicht in Versuchung!“ Diese Bitte ist von manchen schon falsch verstanden worden, als ob Gott den Menschen in eine Gelegenheit führen würde, wo er zur Sünde kommt. Nein, so ist das nicht gemeint. Diese Bitte besagt: Laß uns nicht in Gelegenheiten kommen, in denen wir unterliegen. Denn Gott führt niemanden in Versuchung; er erprobt die Menschen, gewiß, er lässt Leides über sie kommen, aber in die Gelegenheit zum Bösen führt Gott niemanden. Was uns in die Versuchung führt, das ist die eigene böse Begierlichkeit, das ist die Welt, die im argen liegt, das ist der Satan. Und vor ihnen soll Gott uns schützen.

Es hat einmal einer das schöne Gebet erfunden: „Herr, schütze mich nur vor mir selber!“ Ein herrliches, ein ergreifendes Gebet, meine Freunde. Schütze mich nur vor mir selber, nämlich vor den Untiefen meines Wesens, vor meiner bösen Begierlichkeit. Schütze mich nur vor mir selber! Und das ist auch eingeschlossen in dieser Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Halte gefährliche Versuchungen von uns fern, gib uns kräftige Gnaden, ihnen zu widerstehen.

„Sondern erlöse uns von dem Bösen!“ Oder von dem Übel. Im griechischen Text heißt es tatsächlich: „Apo tou ponerou“, das heißt: von dem Bösen. Aber damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass wir auch um Erlösung von anderen Übeln, die aus dem Bösen stammen, beten. Denn das Böse, also die Sünde, ist tatsächlich das schlimmste Übel, aber es ist nicht das einzige. Verwirrung, Unsicherheit, Verzweiflung sind auch Übel, und auch um die Erlösung von ihnen dürfen wir beten, wenn wir sagen: „Erlöse uns von dem Bösen! Erlöse uns von dem Übel!“ Die anderen Leiden, die Gott über uns kommen lässt, Krieg, Hunger, Krankheit können uns zum Heile sein. Das Böse kann uns nicht zum Heile sein. Und deswegen muss an erster Stelle und zuoberst gebetet werden: „Erlöse uns von dem Bösen!“ Schiller sagt mit Recht: „Der Übel größtes ist die Schuld.“

Das Wort „Amen“ ist gewissermaßen das Signum, das Gott unter unsere Bitten setzt. Es ist die Antwort, die Gott dem Betenden gibt. Es hat den Sinn: Fürwahr, dein Gebet ist erhört.

Das Vaterunser, meine Freunde, ist das vortrefflichste Gebet, das es gibt. Denn erstens hat es uns Gott gelehrt, und zweitens enthält es alles, was für Zeit und Ewigkeit notwendig ist. Wer das Vaterunser richtig betet, übt dabei die wichtigsten Tugenden. „Vater unser im Himmel“, das ist die Tugend des Glaubens. „Geheiligt werde dein Name!“ Das ist Frömmigkeit. „Zu uns komme dein Reich!“ Das ist die Hoffnung. „Dein Wille geschehe!“ Das ist die Gottergebung. „Vergib uns unsere Schuld!“ Das ist die Selbstliebe. „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, das ist die Nächstenliebe. „Unser tägliches Brot“, das ist Genügsamkeit und Gottvertrauen. „Und führe uns nicht in Versuchung!“ Das ist das Gebet um die Treue. „Erlöse uns von dem Übel!“ Das lehrt uns die Furcht Gottes.

Im Zweiten Weltkrieg entsandte die deutsche Seekriegsleitung Hilfskreuzer. Das waren Handelschiffe, die man armierte, mit ein oder zwei Kanonen versah, mit einer Besatzung, und die man in ferne Meere schickte, damit sie dort feindliche Schiffe aufbrächten und sich ihrer Ladung bemächtigten oder sie versenkten. Solche Hilfskreuzer wurden also ausgesandt. Sie waren jedem feindlichen Kriegsschiff hoffnungslos unterlegen. Ein solcher Hilfskreuzer unter dem Kommandanten Rogge, der später noch in der Bundeswehr gedient hat, entdeckte eines Nachts neben sich ein großes feindliches Kriegsschiff. Wenn dieses Kriegsschiff den Hilfskreuzer bemerkte, dann wurde er in Grund und Boden geschossen. Aber wie durch ein Wunder: Das feindliche Kriegsschiff glitt vorbei, und der Hilfskreuzer blieb unbehelligt. Der Kapitän Rogge versammelte die Mannschaft auf dem Deck, und was tat er? Er betete mit ihr das Vaterunser. Geschehen im Zweiten Weltkrieg auf einem deutschen Hilfskreuzer.

Ach, meine Freunde, in jeder heiligen Messe beten wir ja: „Durch heilbringende Anordnung gemahnt und durch göttliche Belehrung angeleitet, wagen wir zu sprechen: Vater unser.“ Wollen wir es immer andächtig, gefüllt mit heiligem Begehren und mit göttlicher Ergebung tun.

Amen.

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