Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
24. November 2002

Das Dogma von der Menschwerdung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, die Dogmen des Christentums zu betrachten. Wir hatten gesagt, diese Dogmen sind nichts Totes, sondern etwas Lebendiges. Sie sind lebendig in doppelter Weise, einmal durch die Tatsache, durch die Wirklichkeit, die in ihnen ausgesprochen wird, zum anderen durch unseren Glauben, durch unsere Überzeugung von ihrer Wirklichkeit.

Die Lebensmacht, die Lebendigkeit und die Kraft des Dogmas zeigt sich vor allem in den Dogma von der Menschwerdung. Dieses Dogma ist lebensmächtig und lebenskräftig, denn dadurch ist die Kirche gegründet worden. Seitdem Johannes die unsterblichen Worte schrieb: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“, seit diesem Tage haben sich unzählige Knie gebeugt, um dem auf Erden angekommenen Gott zu huldigen. Seit der Menschwerdung Gottes hat eine ganze Literatur sich gebildet, haben die Werke der Kunst dieses Ereignis verherrlicht. Wer denkt nicht an die ergreifenden Töne im Credo der Missa Solemnis von Beethoven, wenn es heißt: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“! Dreimal am Tage künden von allen Türmen der Christenheit die Glocken den Jubelruf: „Der Engel brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geiste.“ Und im dunklen Lauf des Jahres scheint ein heller Klang auf an Weihnachten, wenn wir die Menschwerdung Gottes feiern. Ja, wir zählen die Jahre nach diesem Ereignis. Jedes Jahr ist ein Jahr des Herrn, nämlich ein Jahr des auf Erden erschienenen Herrn und Gottes. Dieses Dogma von der Menschwerdung ist wahrhaftig ein lebendiges und lebenweckendes Dogma durch seine Tatsache und durch unseren Glauben an diese Tatsache.

Die Tatsache der Menschwerdung ist schon deswegen bewundernswert, weil sie ein Werk Gottes ist. Es ist das zweite Werk Gottes. Das erste Werk Gottes war die Schöpfung. In der Schöpfung hat Gott, der unbewegte Beweger, die ursachlose Ursache, eine ganze Welt geschaffen, hat Gott aus dem Nichts eine Welt ins Leben gerufen, ist durch sein mächtiges Wort eine neue außergöttliche Wirklichkeit geschaffen worden. Aber durch die Menschwerdung ist ebenfalls eine Schöpfung erfolgt, eine neue Schöpfung und eine Schöpfung, die über die erste hinausliegt. Was in der ersten Schöpfung geschah, das ist gewaltig und fruchtbar. Aber was in der zweiten Schöpfung geschah, das ist noch gewaltiger und noch fruchtbarer. In der ersten Schöpfung hat Gott, der geniale Geist, die Gedanken seines Geistes verwirklicht, aber wir wissen, daß auch der größte Künstler immer in seinem Schaffen zurückbleibt hinter den Ideen, hinter dem Glanz seiner Gesichte, und daß seine schöpferischen Befehle nicht so umgesetzt werden, wie sie sich in seinem Inneren darstellen. Und so bleibt es auch bei den Schöpfungen Gottes so, daß die Schöpfungswerke weit zurückbleiben hinter dem Schöpfer. Sie sind in weiter Entfernung von dem Schöpfer gelegen. Gewiß, wir können aus der Schöpfung den Schöpfer erkennen, aber wir können aus der Schöpfung nur dunkel die Größe dieses Schöpfers ahnen. Die Werke Gottes liegen weit, weit entfernt von Gott selbst. In unersteiglichen Höhen und in unerschöpflichen Tiefen wohnt Gott. Er ist infolge der Schöpfung ein wirksamer Gott, doch er bleibt ein verborgener Gott. Seine Wirklichkeit überragt alle seine Geschöpfe.

Aber im zweiten Werk Gottes, in der Menschwerdung, ist er uns nahe gekommen. Da ist er nicht bloß der Herr der schöpferischen Befehle, der die Dinge ins Dasein ruft. Da ist er nicht bloß der ursachlose Verursacher, der alles schafft. Da ist er auch nicht mehr bloß der tragende Grund, der alles ins Leben ruft. Nein, in der Menschwerdung ist er uns nahe gekommen, so nahe, daß man mit dem Finger auf ihn zeigen kann: Seht, das Lamm Gottes! So nahe, daß er Wohnung bei uns genommen hat, daß er sich in unsere Zeltwohnung hineinbegeben hat. Er ist ein Mensch geworden. Und der Mensch steht ja in der der Mitte aller Weltstraßen, dort, wo alle Geschöpfe sich treffen, die hellen und die dunklen, die geistigen und die nichtgeistigen Geschöpfe. Ein Mensch wollte Gott werden.

Da ist, meine lieben Freunde, die große, die erschütternde, die bewegende Frage beantwortet, die alle Leidträger, alle weinenden, alle ratlosen und hilflosen, alle enttäuschten und verbitterten Menschen bewegt: Wo ist nun dein Gott? Diese Frage ist nun gelöst: Hier ist dein Gott, hier, wo Jesus Mensch geworden ist aus der Jungfrau Maria, hier, wo er Zeltwohnung bei uns aufgeschlagen hat, hier ist er da. Und wenn er da ist, ist er auch wirksam. Was da ist, ist auch wirksam. Er ist in die Reihe der Weltkräfte eingetreten. Er ist auf den Schauplatz der Weltbewegungen gekommen, ja, er ist selbst ein Weltkämpfer und ein Weltarbeiter geworden. Die Welt kann nun nie mehr so werden, wie sie vor der Menschwerdung Gottes war. Seitdem Christus, der Gottessohn, Mensch geworden ist, ist die Welt verändert. Sie ist konsekriert, sie ist geweiht. Es ist seitdem lichter, heller in dieser Welt geworden.

Das wissen wir ja schon aus unseren menschlichen Erfahrungen, wie es uns tröstet, wenn eine Blume, ein Tier in unser Dasein tritt, oder gar, wenn ein Mensch uns besucht. Wenn das ein starker, ein schöner, ein tapferer, ein zuverlässiger, ein heiliger Mensch ist, wie sind wir getröstet und aufgerichtet! Und nun ist dieser Mensch gekommen, dieser wirklich einmalige, dieser einzigartige, dieser besondere Mensch, der Gottmensch. Da kann es nicht anders sein, als daß er Helligkeit, Kraft und Reichtum, Sicherheit, Mut und Freude mit sich bringt. Es kann nicht anders sein; denn wo Gott ist, da ist das Licht; wo Gott ist, da ist die Kraft; wo Gott ist, da ist der Reichtum; wo Gott ist, da ist der Trost. Schon mit seinem Kommen muß etwas Neues in unserer Welt geschehen sein, etwas Neues und Einzigartiges, etwas Großes und Erhabenes.

Die Tatsache, daß Gott Mensch geworden ist, wird aber nun uns bewußt. Sie wird von uns aufgenommen, und sie bestimmt unser Denken und Wollen. Wir glauben an sie, und dieser Glaube an die Tatsache hat eine doppelte Wirkung. Er bedeutet die Entscheidung für den Geist und die Entscheidung für die Güte.

Das Kommen Gottes in die Welt besagt die Entscheidung für den Geist. Sie kennen alle die pantheistischen Erklärungsversuche, wie die Welt und das All entstanden sein soll: im Anfang eine dumpfe, dunkle, unbewußte Masse Stoff, und die ringt sich dann in ungemessenen Zeiträumen empor zur Bewußtheit, zur Lebendigkeit, ja zum Geist, und auf dem Gipfel, auf dem vorläufiigen, aber vielleicht auch auf dem endgültigen Gipfel, da steht der Mensch. Der Geist steht also am Ende; am Anfang ist nur dumpfe, stumpfe Masse. Das Unbewußte und Unpersönliche steht am Anfang. Dagegen erhebt sich das Dogma von der Menschwerdung. Nicht das Unpersönliche, sondern das Persönliche steht am Anfang. Nicht die dumpfe Masse, sondern der Geist, der Geist Gottes, steht am Anfang. Nicht etwas Unvollkommenes arbeitet sich empor zum Besseren, sondern der Vollkommenste von allen geht in das Unvollkommene ein, nimmt eine menschliche Natur an. Der Geist steht am Anfang. Das freie, schöpferische Ja, das Helle, Bewußte, Persönliche, die Initiative, die ist am Beginn von allem. Das ist auch in unserem Leben so, das ist auf der ganzen Welt so, das gilt für alle menschlichen und göttlichen Verhältnisse. Nicht der Zwang, sondern die Freiheit bestimmt alles, nicht das Dunkle und Dumpfe führt empor, sondern das Helle und Lichte begibt sich hinab. Es ist kein Zufall, meine lieben Freunde, daß die europäische Bevölkerung, die das Christentum, wenn auch noch so unvollkommen, angenommen hat, seit Jahrhundeten zum führenden Teil der Menschheit gehört, daß von ihr die großen Entdeckungen und Erfindungen ausgehen. Sie ist der große Kulturträger und Lebensträger, und das hängt offensichtlich zusammen damit, daß sie das Dogma von der Menschwerdung, wenn auch noch so unvollkommen, in sich aufgenommen hat. In dieser Menschheit ist die lähmende Angst vor dem Schicksal der freudigen Sicherheit der Geborgenheit in Gott gewichen. In dieser Menschheit ist die Macht des Denkens und des Wollens über die dunkle Triebhaftigkeit Sieger geworden. Die Menschwerdung, der Glaube an die Menschwerdung besagt den Glauben an die Sieghaftigkeit des Geistes. Sie ist eine Entscheidung für den Geist.

Sie ist auch eine Entscheidung für die Güte. Wenn Gott ein Mensch geworden ist, wenn er in diese Welt herabgestiegen ist, dann kann das nur besagen, daß das Dasein ein Wert ist. Es ist nicht so, daß man am Dasein verzweifeln muß. Es ist nicht so, daß das Dasein und das Leben ein Fluch ist, den man abschütteln muß, sondern wenn Gott ein Mensch geworden ist, dann muß das Dasein, das Aufbauen, das Erschaffen etwas Wertvolles, etwas Reiches, etwas Erstrebenswertes sein. Und erst recht muß das Menschsein etwas Wertvolles, etwas Erhebendes, etwas Beglückendes sein. Gott ist ja nicht abgefallen zum Unvollkommenen, sondern er, der Vollkommene, hat sich etwas Wertvolles angeeignet. Das Menschsein kann seitdem nicht ein fluchwürdiges Schicksal, ein jämmerliches Los, eine beweinenswerte Geworfenheit sein. Nein, seitdem Gott ein Mensch geworden ist, muß trotz aller Begrenztheit und Dunkelheit das Menschsein etwas Wertvolles und etwas Beglückendes sein.

Und auch die Menschheit, die Menschheit insgesamt muß etwas Großes und etwas Erhebendes sein, weil Gott aus Liebe zu ihr in der Mitte wohnen wollte. Die Menschheit, so bedrückend sie us manchmal anmuten kann, so beweinenswert so vieles in der Menschheit ist, die Menschheit als solche, das Ewige, das Wesentliche der Menschheit muß etwas Großes, etwas Wertvolles, etwas vor Gott Wertvolles sein. Deswegen kann man auch die Menschen, jeden Menschen lieben. Jeder Mensch hat etwas Liebenswürdiges an sich. Jeder Mensch ist, weil Gott seine Natur angenommen hat, uns aufgegeben, ihn anzunehmen und ihn zu lieben. Ja, auch das eigene Leben, so dunkel und so beklagenswert es oft sein mag, so befleckt und so widerwärtig es uns manchmal vorkommen mag, auch das eigene Leben muß liebenswert sein. Denn Gott hat die menschliche Natur angenommen und damit auch unser Leben geheiligt. Er hat uns den himmlischen Vater geoffenbart und damit gezeigt, daß wir von Gott angenommen sind, daß wir von Gott geliebt sind. Er hat zu uns kommen wollen und unter uns wohnen wollen. Das Dogma von der Menschwerdung läßt uns deswegen die Erde, den Menschen und unser Leben lieben, und alle Verzagtheit und Verzweiflung kann von uns abfallen, wenn wir uns in dieses Dogma, dieses lebenskräftige Dogma von der Menschwerdung, hineinversetzen. Dieses Dogma, das wir jeden Tag preisen und jubelnd verkünden: Er ist ein Mensch geworden! Er ist ein Mensch geworden und hat unter uns gewohnt!

Amen.

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