Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die geoffenbarte Wahrheit (Teil 11)

24. August 1997

Die Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntniskraft

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Religion und Offenbarung unterscheiden sich wesentlich. Religion ist der Versuch des Menschen, Gott zu finden, zu Gott zu gelangen. Offenbarung ist das Unternehmen Gottes, der zu den Menschen kommt. Von der Religion zur Offenbarung führt keine Brücke; denn die Religion entsteht aus dem religiösen Bedürfnis des Menschen, die Offenbarung ergeht aufgrund der Liebe Gottes. Wir sind dabei, die katholische Religion als die Offenbarungsreligion, als die einzige Offenbarungsreligion zu erweisen. Sie ist total von den Religionen, die Menschen erfunden haben, verschieden.

Nun wissen wir, daß es eine natürliche Religion gibt, also eine Religion, die sich aus der Erkenntnis der Naturordnung ergibt. Der Mensch vermag aufgrund schlußfolgernden Denkens aus der Natur, aus der Geschichte und aus dem Gewissen auf Gott zu schließen. Da könnte jemand die Frage stellen: Ja, ist denn darüber hinaus auch eine Offenbarungsreligion notwendig? Warum genügt denn nicht die natürliche Religion? Warum muß eine übernatürliche Religion, von Gott selbst geschaffen, zu uns kommen? Die Antwort lautet folgendermaßen: Wenn der Mensch zu einem übernatürlichen Ziel bestimmt ist, muß es auch eine übernatürliche Religion geben. Ein übernatürliches Ziel besteht darin, daß der Mensch an der Erkenntnis Gottes selbst teil hat, daß er in das Leben Gottes selbst aufgenommen wird. Wenn Gott den Menschen zu einem übernatürlichen Ziel bestimmt hat, muß er auch eine übernatürliche Religion begründen. Aber die übernatürliche Religion, die Offenbarungsreligion, ist auch für die natürliche Religion notwendig, nicht absolut, aber moralisch. Was besagt das? Der Mensch vermag mit seinen natürlichen Kräften aus Natur, Geschichte, Gewissen Gott zu erkennen. Aber seine Erkenntnis ist dunkel, unsicher, mit Irrtümern behaftet. Die meisten Menschen haben weder Zeit noch Fähigkeiten, den Weg der Erkenntnis zu gehen, der nun einmal erforderlich ist, um aus den natürlichen Gegebenheiten Gott zu erkennen. Die natürliche Religion ist auch nicht allgemein. Viele Menschen vermögen nicht zu der Reinheit eines klaren Gottesbegriffes durchzustoßen, und wir können zeigen aus der menschlichen Erfahrung, aus der Religionsgeschichte und aus der Philosophiegeschichte, daß die Erkenntniskräfte des Menschen, aber auch seine sittlichen Kräfte nicht ausreichen, um allgemein, irrtumsfrei und sicher aus den Geschöpfen auf den Schöpfer zu schließen.

Zunächst mag das gezeigt werden an unserer allgemeinen Erfahrung. Jawohl, wir nehmen nichts zurück: Der Mensch vermag aus der Natur auf Gott zu schließen. Aber die Sprache der Natur ist nicht eindeutig. Erkennen wir Gott aus den Blumen, oder erkennen wir Gott auch aus den Todesschreien der Geschöpfe, die sich gegenseitig verzehren? Wie erkennen wir Gott, wenn Vulkane ganze Landschaften, ja ganze Inseln zerstören? Welchen Gott erschließen wir aus den Erdbeben, die Menschen, Häuser und Ortschaften vernichten? Gott in der Natur ist ein verborgener Gott, und das begründet die Sehnsucht der Menschen, Gott so zu erkennen, wie er wirklich ist, daß Gott uns selbst die Deutung liefert, warum die Natur so grausam und unfühlend sein kann.

Wir vermögen Gott aus der Geschichte zu erkennen. Die Geschichte, sagt man, ist das Gericht, die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Gewiß. Aber wer vermag dieser Gerichtsverhandlung bis zum Ende beizuwohnen? Wir haben nur Ausschnitte, kurze Epochen, die wir überhaupt überschauen können. Uns liegt auch nur die Oberfläche der Geschichte zutage; die Beweggründe, die letzten Motive sind uns nicht zugänglich. Und so kommen die Menschen zu der absurden Schlachtenphilosophie, die da sagt: Wer siegt, mit dem ist Gott, wer unterliegt, den hat Gott verworfen. So eine primitive, törichte Philosophie macht sich der Mensch zurecht aufgrund der Erfahrungen der Geschichte. Gott redet in der Geschichte, aber seine Worte sind schwer zu deuten.

Gott spricht auch im Gewissen. Niemand kann sagen, er habe Gott gesehen. Keiner aber kann sagen, er habe Gott nicht gespürt. Der Mensch besitzt einen Wächter in seiner Brust, der ihm sagt, was er tun soll, und der ihn warnt vor dem, was er nicht tun darf. Aber wir alle wissen, wie betrügerisch der Mensch mit seinem Gewissen umgeht. Der Mensch deutet in das Gewissen das hinein, was er gern tun möchte. Er biegt das Gewissen, er biegt es nach seinen Wünschen, Leidenschaften und Begierden. Und so ist auch das Gewissen keine klare Quelle einer reinen Erkenntnis Gottes. Die Erfahrung bezeugt uns: Die Möglichkeit, aus Natur, Geschichte, Gewissen Gott zu erkennen, besteht. Aber sie wird häufig nicht verwirklicht. Der Mensch ist durch Trübung seiner Erkenntniskraft und durch Verkehrung seiner Willenskraft häufig nicht imstande, ein reines Bild von Gott zu gewinnen.

Das bezeugt zweitens die Religionsgeschichte. Wenn man die Ergebnisse betrachtet, die in den letzten 100 – 120 Jahren von der Forschung über die verschiedenen Religionen zutage gefördert worden sind, dann sieht man: Die religiöse Verderbnis ist fast allgemein. Die Menschen haben Religionen, sie haben Religionen begründet, aber es sind Religionen, die einen reinen Gottesbegriff und eine hohe Sittlichkeit häufig nicht zu bilden vermögen. Animismus, Fetischismus, Dämonenglaube, Polytheismus – das ist das Resümee der Religionsgeschichte über die Gottesvorstellungen der Menschen. Denken wir an unsere germanischen Vorfahren. Auch sie hatten eine Religion, aber diese Religion war nichts anderes als die Verkörperung von Naturkräften. Die germanische Religion war, was die Vorstellungen von Gott angeht, Gottes unwürdig. In ihr kämpfen die Götter mit Riesen, und die Riesen besiegen sie. Die Riesentöchter und die Göttinnen leben in einer schwülen Atmosphäre der Sinnlichkeit. Klare Begriffe von Gott haben unsere Vorfahren nicht zutage fördern können. Oder denken wir an andere Religionen, etwa in Ägypten. Ägypten hatte eine hohe Kultur, aber die Religion der Ägypter war nicht hochstehend. In Memphis verehrte man den heiligen Stier, Apis. Er wurde als Verkörperung des Gottes Ptah angesehen. Er wurde gehegt und gepflegt. Wenn er starb, wurde er einbalsamiert und im Serapion beigesetzt. Man verehrte auch Käfer und Schlangen. In Indien wurden neugeborene Mädchen dem Elephantengott dargebracht.

Die Sittlichkeit, welche die selbsterfundenen Religionen gebracht haben, ist häufig sehr tiefstehend gewesen. Selbstmord galt als selbstverständlich erlaubt. Elternmord war zulässig. Die Sklaverei und die Sklavenmißhandlung galten als gottgewollt. Der Kult war häufig verderbt. Wir wissen von Tempeln, in denen Prostitution getrieben wurde, Tempelprostitution. Es wurden Opfer gebracht, aber welche grauslichen Opfer! In Uppsala haben unsere germanischen Vorfahren Menschenopfer dargebracht. Die Religionsgeschichte zeigt uns ein ständiges Auf und Ab, ein Gegen- und Widereinander. Kein Wunder, daß die Menschen sich gesehnt haben nach einer Offenbarung, nach einem Kommen Gottes zu ihnen, der die unzulässigen und unzulänglichen Formen ihrer Religion klären und ablösen sollte.

Und was soll ich drittens sagen von der Philosophiegeschichte? Philosophie ist keine Religion; Philosophie ist menschliches Nachdenken über die Gründe und das Wesen des Alls. Wie viele Philosophien hat es gegeben! Unzählige. Und sie alle widersprechen sich. Es gibt keine zwei, die übereinstimmen. Viele Definitionen, Positionen, Systeme, aber keines vermag zur Wahrheit durchzustoßen. Keines hat sich behaupten können; keines hat vermocht, sich überall durchzusetzen. Es gibt keine unumstrittenen Thesen eines Philosophen. Der eine vertritt den Empirismus, der andere den Rationalismus, der eine die Transzendentalphilosophie, der andere den Empiriokritizismus. Die Philosophie vermag uns keine sicheren Kenntnisse zu liefern. Sie ist ohne Halt, weil sie aus dem Herzen des Menschen, aus seiner begrenzten und getrübten Erkenntniskraft hervorgeht und deswegen immer wieder in die Irre führt.

Wenn es so ist, meine lieben Freunde, daß die natürliche Religion nicht zu klaren Begriffen von Gott und zu einer unumstößlichen Sittlichkeit führt, daß der Mensch aus seinen Erfahrungen nicht sicher und irrtumsfrei zur Erkenntnis Gottes und seines Willens durchstoßen kann, daß auch die Philosophie uns keine Lösung der Welträtsel zu geben vermag, dann versteht man, daß die besten Menschen aller Zeiten ihre Hände ausgestreckt haben zum Himmel und gerufen haben, daß Gott sich ihnen neigen möge, daß Gott sich ihnen zeigen möge, daß er zu ihnen kommen möge, um ihre Vorstellungen zu läutern und ihre irren und irrigen Ansichten zu berichtigen.

Aber nicht nur die Unzulänglichkeit des menschlichen Bemühens, Gott zu finden, hat die Sehnsucht nach der Offenbarung hervorgerufen. Auch da, wo verhältnismäßig hohe Religionen lebten, war die Sehnsucht der besten Menschen darauf gerichtet, daß Gott sich ihnen offenbaren möge. Sie suchten eine wirkliche Wesenserkenntnis Gottes. Sie wollten nicht nur sein Dasein erkennen, sondern auch, wie er in sich ist und was er von ihnen begehrt. Sie suchten nach einer vollen Klärung des heiligen Willens Gottes. Eine solche, meine lieben Freunde, ist erfolgt. Es ist einmal geschehen, daß sich der Himmel geöffnet hat und daß Gott herniedergestiegen ist, um den Menschen über sich, seinen Willen und das Ziel des Menschen eine Offenbarung zu schenken. Darüber wollen wir an den kommenden Sonntagen uns bedenken.

Amen.

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