Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Gott erkennen (Teil 10)

13. November 1994

Die Erkenntnisfähigkeit von Wahr und Falsch

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn jemand von Ihnen in einem Textilgeschäft zwei Meter eines bestimmten Stoffes kauft, dann kann er sich darauf verlassen, daß ihm das rechte Maß zugemessen wird. Jede Verkäuferin weiß, was ein Meter ist. Wenn Sie denselben Kauf in Frankreich tätigen oder in der Tschechoslowakei, auch da dürfen Sie gewiß sein, daß Sie genau das Maß erhalten, das Ihnen vorschwebt, eben das Metermaß.

Wie kommt es denn, daß in vielen, in den wichtigsten und in den bedeutendsten Ländern überall das gleiche Maß im Gewerbe und im Handel herrscht? Das kommt daher, daß alle Metermaße an einem Urmeter abgemessen sind. Dieses Urmeter liegt in Sèvre bei Paris, und dieses Urmeter wird jetzt 200 Jahre alt, denn es ist im Jahre 1795 geschaffen worden. Damals hat die französische Nationalversammlung beschlossen, den vierzigmillionsten Teil des Meridians, also des Breitengrades, der durch Paris geht, als Urmaß einzusetzen. Man hat einen Stab hergestellt aus neunzig Teilen Platin und zehn Teilen Iridium, der, in einer Kammer bei 0 Grad verwahrt, als das Urmeter gilt. Und von diesem Urmeter haben alle Metermaße in den Ländern, die das metrische Maßsystem haben, ihr Maß genommen.

Nun ändert sich die Erdoberfläche; die Messungen werden genauer. Und so hat man seit 1960 für die feinen physikalischen Untersuchungen ein noch genaueres Maß gefunden, und das ist die Wellenlänge Lambda der orangefarbigen Spektrallinie des Gases Krypton. Aber auch das ist ein Urmeter. Es ist das Urmaß für alle anderen Metermaße, die im physikalischen Bereich, wo ja die größte Genauigkeit herrschen muß, angewandt werden.

Warum erzähle ich Ihnen die Geschichte vom Urmeter? Weil es, meine lieben Freunde, eine Urnorm auch des geistigen Lebens des Menschen geben muß und gibt. Dies ist das Wesen des sogenannten noetischen Gottesbeweises. Wir wissen, daß es Gesetze im Weltall gibt, die Keplerschen Gesetze, das Newtonsche Schwerkraftgesetz, die Gesetze der Elektrizität, das Ohmsche Gesetz, und wir wissen, daß diese Gesetze stimmen. Sie sind der Natur abgelauscht, und sie geben das wieder, was uns die Natur lehrt. Aber auch im geistigen Leben, in unserer Brust drinnen, gibt es Gesetze. Wir werden gleich sehen, daß sie dreifacher Art sind. Diese Gesetze lassen sich auch nur erklären, wenn man sie auf ein Urgesetz, auf eine Urnorm, zurückführt, und das kann niemand anderes sein als Gott. „Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nicht erblicken. Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken?“ hat Goethe einst formuliert und damit angedeutet, daß wir, weil Gott entstammend, Göttliches in uns tragen, göttliche Kräfte, die uns befähigen, die Gesetze des geistigen Lebens in uns zu verwirklichen.

1. Woher kommt der Unterschied von wahr und falsch? Wir gebrauchen diesen Unterschied täglich. Wenn jemand eine Rechnung aufstellt – 7 plus 5 gleich 11 –, dann sagen wir, das ist falsch, 7 plus 5 ist 12. Das geistige Erkennen gehorcht bestimmten Gesetzen der Logik. Es kann nicht gleichzeitig etwas sein und nicht sein. Entweder es ist, oder es ist nicht. Das ist das Gesetz vom Widerspruch. In unserem Denken ist eine Anlage dafür, Denkgesetze zu beobachten. Diese Denkgesetze sind allgemein gültig. Man kann dagegen verstoßen – dann muß man's bezahlen! Aber sie lassen sich nicht ändern. Woher stammen diese Denkgesetze? Die Offenbarung sagt es uns: „Gott setzte dem Menschen sein Auge ins Herz, um ihm die Größe seiner Werke zu zeigen.“ Also, weil wir gleichsam Gottes Auge eingesetzt bekommen haben, weil wir Gottes Fähigkeit, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Sosein und Anderssein zu unterscheiden, besitzen, deswegen sind wir fähig, deswegen sind wir in der Lage, diese Denkprozesse vorzunehmen. „Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nicht erblicken. Läg' nicht in uns des Gottes eig'ne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken?“ Die Urnorm unserer geistigen Betätigung ist der allmächtige und allwissende Gott, der uns die Fähigkeit gegeben hat, zwischen Wahr und Falsch, zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Sosein und Anderssein zu unterscheiden.

2. Woher kommt unser Wissen um Gut und Böse? Es gibt sittliche Gesetze. Die Menschen können sich dagegen auflehnen; sie tun es ja oft genug. Aber selbst der verruchteste Mensch muß noch zugeben, daß es einen Unterschied gibt zwischen Gut und Böse, auch wenn er ihn nicht beachtet und ihn für sich nicht gelten läßt. Es gibt im Menschen eine Stimme, die spricht, das hast du recht getan, das war unrecht von dir. Die sittlichen Gesetze sind unumstößlich. Der Mensch hat sie gewiß nicht erfunden, denn sie sind ihm unbequem, und Unbequemes erfindet der Mensch gewöhnlich nicht. Die sittlichen Gesetze, die der Mensch vorfindet und  anerkennen muß, sind ihm von Gott gegeben, sie sind eine Mitgift seiner gottentstammten Natur. Wiederum sagt die Offenbarung: „Gott erfüllte ihn mit verständiger Einsicht und zeigte ihm Gut und Böse!“ Also daher kommt das Vermögen, Gut und Böse zu unterscheiden. Daher kommt die sittliche Anlage im Menschen, kommt sein, wenn auch manchmal unterdrücktes Streben, das sittlich Gute zu tun und das sittlich Böse zu meiden. Es gibt eine Urnorm des Sittlichen, und diese Urnorm nennen wir Gott.

3. Woher kommt das Wissen um Recht und Unrecht? In einem Staatswesen soll die Gerechtigkeit verwirklicht werden. Wir wissen, wie sich die Menschen auflehnen, wenn sie erkennen oder zu erkennen meinen, daß die Gerechtigkeit verletzt wird, etwa bei der Besteuerung. Es gibt eben eine Gerechtigkeit, die dem staatlichen Gesetz vorangeht und vorausliegt. Es gibt rechtliche Grundsätze, die vor aller menschlichen Gesetzgebung gelten. „Gemeinwohl geht vor Eigenwohl“, „Jedem das Seine“, „Dem Übeltäter gebührt Strafe“, das sind ein paar unumstößliche Gesetze, die uns zeigen: Wir haben ein Empfinden dafür, was Recht und Unrecht ist. Und unser Gerechtigkeitsempfinden lehnt sich auf, wenn die Gerechtigkeit verletzt wird, wenn die positiven Normen gegen das Naturrecht verstoßen.

Woher kommt dieses Empfinden für Recht und Unrecht? Woher stammt dieses Naturrecht? Woher ist das Wissen um Recht und Unrecht dem Menschen gegeben? Wiederum sagt die Offenbarung: „Gott lehrte die Menschen seine Satzungen. Er gebot ihnen Meiden allen Unrechts und schrieb einem jeden von ihnen die Pflichten gegen den Nächsten vor.“ Gott ist die Urnorm des Wahren, er ist die Urnorm des Guten, er ist auch die Urnorm des Rechten. Und diese Urnorm hat dem Menschen ein Gespür für das Wahre, für das Gute und für das Rechte gegeben. Der Mensch ist fähig, das Wahre vom Falschen, das Gute vom Bösen, das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden. Gott hat eben den Menschen nach seinem Bilde geschaffen. „Er schuf den Menschen aus Erde“, heißt es im Buche Sirach, „aber er verlieh ihm die Herrschaft über alles, was auf der Erde sich regt. Er rüstete ihn aus mit Kraft und schuf ihn nach seinem Bilde. Urteilskraft und ein Herz zum Denken gab er ihm.“

Jetzt wissen wir es also, meine lieben Freunde, daß man die Urteilskraft und das Herz im Menschen, das Empfinden für Wahr und Falsch, für Gut und Böse, für Recht und Unrecht, nicht psychologisch erklären kann, sondern daß es ontologisch erklärt werden muß, daß man es nicht zurückführen kann auf Erziehung oder Konvention, sondern daß man es ableiten muß vom Schöpfer, der dem Menschen die Fähigkeit zu diesen dreifachen Unterscheidungen ins Herz gesenkt hat. Und so können wir aus diesen Erkenntnisses schließen: Es muß ein oberster Gesetzgeber da sein, es muß ein oberster Herr da sein, der uns dieses Wissen um Wahr und Falsch, um Gut und Böse, um Recht und Unrecht eingepflanzt hat.

Nun müssen wir aber auch dieses Wissen benutzen. Nun müssen wir unsere Denkfähigkeit, unser sittliches Vermögen und unser Gerechtigkeitsempfinden einsetzen, daß wir danach handeln und daß wir danach leben. Wenn wir das tun, dann werden wir den schauen, der als Urnorm dieses Vermögen in unser Herz eingesetzt hat.

Amen.

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