Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gebote Gottes (Teil 14)

5. Oktober 1986

Pflichten der Obrigkeit gegen die Untergebenen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Bei der Betrachtung des 4. Gebotes haben wir am vergangenen Sonntag darüber nachgedacht, welche Pflichten wir gegenüber der Obrigkeit, der geistlichen und der weltlichen Obrigkeit, haben. Pflichten haben die Untergebenen gegen die Obrigkeit, aber Pflichten hat auch die Obrigkeit gegenüber den Untergebenen. Wir wollen am heutigen Sonntag in vier Sätzen die Pflichten der Obrigkeit gegenüber den Untergebenen zusammenfassen.

Der erste Satz lautet: Niemand soll sich zu einem Amte drängen, dem er nicht gewachsen ist. Wir alle kennen den Ehrgeiz im Menschen. Die Menschen, viele Menschen wollen etwas gelten, wollen etwas werden, wollen etwas bedeuten. Es gibt einen gesunden Kern in diesem Streben, nämlich durch Leistung sich zu der Höhe zu erheben, die Gott einem bestimmt hat. Es gibt aber auch ein ungesundes Ehrstreben, einen ungesunden Ehrgeiz, den man schon manchmal an Schülern beobachten kann, die sich verzehren, um gute Noten zubekommen, um sich hervorzutun vor anderen.

Erst recht ist dieser Ehrgeiz verderblich, wenn er auf obrigkeitliche Ämter sich richtet. Denn weniges ist für ein Volk, ist für eine Kirche so schlimm wie die Tatsache, daß in diesem Volke, in dieser Kirche Personen Ämter bekleiden, denen sie nicht gewachsen sind. Um ein Amt zu bekleiden, muß man die Fähigkeiten haben, die dazu erforderlich sind. Man muß auch den Charakter besitzen, den das Amt braucht, denn nicht nur intellektuelle oder manuelle Fähigkeiten sind für ein Amt gefordert, sondern auch Tugenden, Charaktereigenschaften. Die Großen unserer Kirche, die Großen der Heilsgeschichte haben eher abgewehrt, wenn ihnen ein Amt angetragen wurde. Moses, der Führer des israelitischen Volkes, wehrte sich gegen den Ruf Gottes, und immer wieder war er geneigt, dieses Amt, das Gott ihm übertragen hatte, aufzugeben. Augustinus, Ambrosius hielten sich nicht für würdig, die Ämter zu bekleiden, zu denen sie berufen wurden. Papst Gregor der Große floh in einen Wald, als man ihn zum Papst machen wollte.

Alle diese Männer waren geeignet für die Ämter, die sie bekleiden sollten. Aber es ist ein Zeichen ihres Wissens um die Anforderungen der Ämter, daß sie zunächst sich weigerten, sie anzunehmen.

Im Kirchenrecht, das der oströmische Kaiser Justinian erließ, wurde als Zeichen der Eignung eines Mannes für das Bischofsamt angegeben: Er muß sich weigern, es zu übernehmen. Also die Weigerung, dieses Amt zu bekleiden, galt als ein Zeichen der Erwählung. Wir begreifen, wie wichtig es ist, daß dieser Satz Geltung behält: Niemand soll nach einem Amte streben, dem er nicht gewachsen ist, für das er nicht die Fähigkeiten und die Eignung besitzt. Wer dagegen erkennt, daß er befähigt und geeignet ist, der soll auch danach streben, gemäß seiner Fähigkeit und Eignung Verwendung zu finden, der soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, ja, der hat manchmal die heilige Pflicht, ein Amt zu übernehmen, damit nicht schlechtere Bewerber, ungeeignete Kandidaten in die Funktionen einrücken.

Der zweite Satz lautet: Wer ein obrigkeitliches Amt bekleidet, soll sich nichts darauf einbilden, sondern an seine Verantwortlichkeit denken. Das Amt als solches, die Ehrenstellung, macht den Menschen nicht besser. Sie verändert ihn nicht. Was den Menschen ehrt und was ihn besser macht, das sind Tugenden, das ist die Bekämpfung der Fehler, das ist die Ausrottung der Laster. Diese Tugenden ehren und erheben den Menschen. Wer sich auf sein Amt etwas einbildet, der zeigt damit nur, wie beschränkt und wie armselig er selbst ist. Das Amt ist ein Dienst, und dieser Dienst verlangt Verantwortlichkeit. Wer ein Amt bekleidet, sollte daran denken, daß er vor Gott einmal Rechenschaft für die Verwaltung des Amtes ablegen muß. Und je höher das Amt, desto größer die Verantwortung, desto schwerer die Rechenschaft.

Beim letzten Gericht wird Gott einmal das Wirken der Amtsträger wägen und sie vor dem Angesichte der gesamten Menschheit richten. Die Verantwortlichkeit also soll den Amtsträger prägen, und nicht ein falscher, unangebrachter Stolz auf seine Ehrenstellung. Herodes war ein König, und Maria und Josef waren einfache Leute, doch wie sind sie geehrt, von Generationen und Generationen von Christen. Und was ist mit Herodes?

Das faulige Holz leuchtet in der Finsternis, aber bei Tageslicht betrachtet, erkennt man die Verwesung. Und so sollte es auch beim Amtsträger sein; nicht ein unangebrachter Hochmut sollte ihn geleiten, sondern eine heilige Furcht vor der Rechenschaft, die er einmal ablegen muß. Der heilige Thomas von Villanova – ein Spanier – hat einmal das schöne Wort gesagt: „Seitdem ich Bischof bin, habe ich eine heilige Furcht vor dem Gericht in mir.“

Der dritte Satz in unseren Überlegungen lautet: Wer ein Amt bekleidet, soll auf das Wohl des Volkes bedacht sein, unparteiisch und gerecht. Denn das Amt wird einem Menschen nicht übertragen, damit er sich damit Vorteile verschafft, damit er in den Genuß von Vorzügen kommt, sondern das Amt wird ihm übertragen zum Besten des Volkes. Da hat Friedrich II. von Preußen schon richtig gesehen, wenn er sagte: „Ich bin der erste Diener meines Staates.“ Wahrhaftig, das ist das Amt, das in Kirche und Staat übertragen wird: ein Dienst am Volk, ein Dienst am Gemeinwohl, nicht zum Nutzen der Einzelperson, die sich damit bereichern könnte, sondern zum Segen für die anvertrauten Menschen. Dieses Amt ist unparteiisch zu führen, unparteiisch, das heißt ohne Ansehen der Person. Es darf also nicht eine Bevorzugung, eine ungerechtfertigte Bevorzugung bestimmter Menschen vor anderen geschehen – der Reichen vor den Armen, der Mitglieder einer Partei vor den Nichtmitglieddern, der Angehörigen einer bestimmten Klasse vor denen einer anderen Klasse, nein, unparteiisch und gerecht muß das Amt geführt werden. Der heilige Thomas Morus hat einmal das schöne Wort gesprochen: „Wenn mein Vater, den ich über alles liebe, zu mir mit einer Rechtssache käme, und auf der anderen Seite der Teufel, den ich über alles hasse, und der Teufel hätte recht, dann würde ich dem Teufel sein Recht verschaffen.“

Ungerechte Richter, ungerechte Amtsträger sind aus der Geschichte in großer Zahl bekannt. Wir wissen, daß Pilatus ein ungerechter Richter war. Er verurteilte den unschuldigen Jesus zum Tode, obwohl er von seiner Unschuld überzeugt war, aus Furcht vor dem Volke. Die Menge drohte ihm: „Wenn du diesen freiläßt, bist du kein Freund des Kaisers mehr,“ und das wollte er ja bleiben. Und doch hat ihn eines Tages sein Schicksal ereilt. Er wurde angezeigt, verlor seinen Posten und wurde verbannt. Ein gerechter Oberer, Obrigkeitsträger, wird niemanden ungehört verurteilen. Im Sachsenspiegel, dem alten Rechtsbuch unserer germanischen Vorfahren, steht das schöne Wort: „Eenes Mannes Rede ist keenes Mannes Rede. Man soll sie hören beede!“ Und so haben es die Großen im Amt getan. Alexander, der makedonische König, sagte, wenn ihm eine Klage vorgetragen wurde: „Ein Ohr gewähre ich dem Kläger, das andere dem Verteidiger.“

Der vierte Satz, den wir über die Obrigkeit sagen wollen, lautet: Die Amtsträger sollen ihren Untergebenen durch das Beispiel voranleuchten. Worte sind nicht schwer zu machen, Worte sind billig. Aber Beispiele, Beispiele des Lebens sind schwer, und deswegen sind sie so selten. Die Obrigkeitsträger sollen ein Vorbild sein, ein Vorbild der Tugenden, die sie von ihren Untergebenen erwarten; denn die Untergebenen richten sich nach ihnen, sie schauen auf sie. Und wenn sie Fäulnis und Laster auf den Thronen und auf den Amtsschemeln sehen, dann werden sie geneigt sein, diese Fäulnis und diese Laster nachzuahmen.

Ein Mann wie König Ludwig XV. von Frankreich war ein lasterhafter Mensch. Er hat jahrzehntelang den französischen Thron mit seinen Leidenschaften beschmutzt. Und wie das nun so ist: Diese Verfehlungen lassen sich nicht verbergen, sie werden bekannt, das Gerücht von ihnen verbreitet sich. Und so dringt sein Verhalten ins Land und schafft eine allgemeine Atmosphäre des Libertinismus, aber auch der Empörung; und so hat nicht zuletzt Ludwig XV. mit seinen Lastern, bei denen er Hunderte von unbescholtenen Mädchen verbraucht hat, den Weg zur Französischen Revolution bereitet.

Die Vorgesetzten sollen durch ihre Tugenden die Untergebenen erleuchten, sie sollen ihnen ein Wegweiser sein, sie sollen zu den guten Eigenschaften führen, die sie selbst erworben haben; und sie sollen für ihre Untergebenen beten. Vor einigen Jahren trafen sich einmal Schüler einer oberschlesischen Schule zu einem Wiedersehenstreffen, und es war auch ein alter Lehrer dieser Schule dabei. Da fragten ihn die Schüler: „Sagen Sie einmal: Warum haben wir eigentlich Sie so gern gehabt? Warum haben wir so an Ihnen gehangen?“ Da sagte dieser alte Lehrer: „Ich bin jeden Tag in die heilige Messe gegangen, und ich hatte immer in der heiligen Messe einen Klassenspiegel bei mir, wo die Namen aller Schüler aufgeführt sind, und ich habe jeden Tag für jeden meiner Schüler gebetet.“ Das ist wahrhaft ein Vorgesetzter nach dem Herzen Gottes.

Wir, meine lieben Freunde, haben keine hohen Stellungen und sind von geringem Einfluß. Aber in dem Bereich, der uns anvertraut ist, und jeder hat einen solchen, in dem Bereich wollen wir uns bemühen, uns auszuzeichnen im Dienste Gottes, wollen wir unsere Angehörigen und Anvertrauten erleuchten durch die Tugenden, um die wir uns mühen, und wollen an die Verantwortung denken, die wir für sie alle haben.

Amen.

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