Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Abenteuer des menschlichen Lebens (Teil 6)

27. Juli 2003

Das Zusammenleben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Begegnungen zwischen Menschen sind häufig, aber nur wenige Begegnungen sind fruchtbar. Wenn sich zwei Menschen begegnen, dann ist es in der Regel so, daß sie flüchtig ihren Namen murmeln, den der andere nicht versteht, und daß sie aneinander vorübergehen, als ob sie sich nie begegnet wären. Es kommt bei Begegnungen der Menschen in der Regel nur zu einer kurzen Vorstellung, und wenn sie auch längere Zeit nebeneinander hergehen, so ist doch dieses Nebeneinanderhergehen meistens leer. Sie bedeuten einander nichts, es geschieht nichts, sie bleiben unberührt und unbeteiligt. Selbst wenn Menschen lange miteinander zu tun haben, dann ist es doch in der Regel so, daß sie ihre Auseinandersetzungen und Kämpfe haben, ihre kleinen Aufmerksamkeiten und noch öfter ihre Widerwärtigkeiten, sie reiben sich aneinander, sie stoßen einander, und sie treten einander. Im übrigen bleiben sie völlig gesondert und unberührt. Das zeigt sich, wenn sie auseinandergehen. Das ist ein kurzer, oberflächlicher Abschied, bei dem keine Erinnerung bleibt. Weitaus die meisten Menschen werden eben vom Alltag zerrieben, und diese alltäglichen Dinge, dieses Geschwätz des gewöhnlichen Verkehrs, diese Intrigen und diese Unterhaltungen, diese Gehässigkeiten, die sie miteinander austauschen, verhindern, daß irgendeine Größe in ihr Leben kommt. Sie werden vom Straßenstaub und vom Bürostaub erstickt und überschüttet.

Und doch könnte in diesen alltäglichen Begegnungen etwas geschehen. Es könnte, wenn die Menschen aufmerksam wären, in diesen Begegnungen sich etwas ereignen, was bis in den Grund der Seele reicht. Das ist nämlich die große Kunst der Menschenseele, daß sie aus Kleinem etwas zu machen versteht, daß sie aus Alltäglichem etwas Ungewöhnliches zu schaffen vermag. Alle diese Begegnungen können in eine tiefe und reiche Seele hineingenommen werden und können zu erlesenen Kunstwerken der Geduld, der Aufmerksamkeit, der Rücksichtnahme und der Liebe werden. Es gibt Menschen, deren Seelen wie ein fruchtbarer Acker sind, und dieser Acker nimmt jedes Samenkorn auf, läßt sich befruchten. Jede Begegnung regt diese Menschen an, inspiriert sie gibt ihnen etwas und läßt sie aus zufälligen Gesprächen mit einem Straßenarbeiter, mit einem Dienstboten, mit dem Briefzusteller eine Befruchtung erfahren, läßt sie etwas lernen, läßt sie zu einem guten Entschluß und zu einem guten Werk kommen, zu einer inneren Ausweitung und Erwärmung.

Ich sprach einmal mit einem Pfarrer, der jede Woche eine bestimmte Bahnstrecke zurückzulegen hatte. Er sagte mir: „Auf dieser Bahnstrecke geschieht nichts.“ Aber eines Tages hatte er einen Volksmissionar bei sich zu Gast, und der Volksmissionar wußte in seinen Predigten von einer ganzen Fülle von Erlebnissen zu berichten, die er auf eben dieser Bahnstrecke gemacht hatte. Dieser Priester besaß die Fähigkeit, die Augen offenzuhalten und das Ohr zu erschließen. Er hatte die Kraft, aus scheinbar völlig unerheblichen Begegnungen etwas Großes, etwas Erhellendes, etwas Belehrendes zu machen.

Die Menschen, die aus solchen Dingen lernen, verlieren sich dabei selbst nicht. Sie büßen ihre Überlegung und ihre Kritik dabei nicht ein. Doch freilich, es gibt auch Menschen, die von einer solchen Eindrucksfähigkeit sind, daß sie darüber sich selbst verlieren. Jeder Eindruck, den sie aufnehmen, wirft sie gleichsam um, gibt ihnen eine neue Form. Jede Erfahrung wird für sie zu einer Kursänderung, jeder Anstoß wird für sie zu einem Umfall. Das sind schwache, labile Menschen, die in solcher Weise auf Begegnungen reagieren. Und wenn es nicht immer gleich bei der ersten Begegnung so ist, daß sie umknicken, so doch häufig nach längerer Zeit, da bricht ihre Überzeugung zusammen, da fällt ihre Tugend dahin, da verleugnen sie und vergessen sie, was sie einmal mit Überzeugung angenommen hatten.

Als Knabe gab ich einmal einem Mädchen Nachhilfeunterricht. Es war ein frommes Mädchen, es war ein gläubiges Mädchen. Dieses Mädchen war imstande, einen berühmten Verwandten, den sie hatte, nämlich den Schauspieler Emil Jannings, auf seinem Sterbebett zu bewegen, den katholischen Glauben anzunehmen. Und doch, als dieses Mädchen nach der Vertreibung aus Schlesien nach Hamburg kam, lernte sie dort einen protestantischen Pastor kennen, gab ihren Glauben auf und heiratete diesen Pastor. In einem Nu war alles verschwunden, was sie in ihrer Jugend mit Überzeugung angenommen und praktiziert hatte. Sie war umgefallen, sie war umgestürzt worden durch diese Begegnung.

Es sollen aber doch solche Begegnungen nicht zum Unheil werden, sondern zum Heile. Sie sollen nicht Schreckliches und Schlimmes für den Menschen bringen, sondern Schönes und Gutes. Und solche Menschen können manchmal eine schicksalhafte Begegnung erfahren – zum Guten oder zum Schlimmen. Manchmal ist eine solche Begegnung wie ein Blitz. Als Jesus Johannes traf, da hat er nur ein kleines Wörtchen gesagt: „Folge mir nach!“ Und er verließ den Vater und die Netze und das Schiff, und er folgte ihm nach. Als Paulus vor Damaskus die Lichterscheinung hatte: „Saulus, warum verfolgst du mich?“, da stürzte er vom Pferde, und da war er verwandelt. In einem Nu hatte sich seine Seele dem göttlichen Jäger ergeben, war er getroffen und für sein ganzes Leben verwandelt. Manchmal vollzieht sich eine solche Verwandlung in langer Zeit, in Jahren, wie das Wachsen einer Pflanze. Aber auch da kann es zu einem schicksalhaften Begegnen kommen, zu einer das innerste Wesen des Menschen durchdringenden Umwandlung.

Die Kraft , die in solchen Begegnungen wirksam wird, ist gewöhnlich die Liebe. Die Liebe vermag den Menschen zu verwandeln. Mit der Liebe paart sich häufig das Vertrauen; es kommen auch Bewunderung und Hoffnung dazu. Eine ganze Palette von Haltungen vermag eine solche Verwandlung, eine solche Verwandlung aus Begegnung im Menschen hervorzurufen. Und die Wirkung dieser Begegnung ist immer eine Wandlung zum Schlimmen oder zum Guten. Die Begegnung zum Schlimmen führt dann zu einer Hörigkeit, zu einem Verfallen, zu einem Verfallensein an den Mephisto, an den Versucher, der den Menschen in seine Richtung führt und sein ganzes Inneres umdreht. Die Seele wird durch einen solche Magier der Verführungskunst fast widerwillig in den Bann geschlagen, und die so Verfallenen können bis zur Verzückung oder bis zu Verbrechen einem solchen Verführer folgen. Aber umgekehrt ist es auch mit der Begegnung zum Guten. Auch eine solche Begegnung kann einen Menschen bis in seine Tiefen verwandeln und mit dem anderen zusammenschließen. Eine solche schicksalhafte Begegnung kann sich ereignen, wenn ein von Gott berufener Mensch einen anderen findet. Denken wir etwa an Franz von Assisi. Als er in seiner Hingegebenheit an Gott, in seiner Armut und in seiner Begeisterung Menschen begegnete, da fühlten sie sich von ihm angerufen und folgten ihm nach, verließen ihre Arbeit und ihre Heimat und teilten sein armes Leben. Ähnlich war es bei Bernhard von Clairvaux. Er, der Sohn aus adeligem Geschlecht, war imstande, andere, Hunderte von Menschen zu begeistern, ins Kloster zu führen, sie zu einem Leben der Nachfolge Christi einzuladen und auf diese Weise eine Gefolgschaft zu begründen. Es geht eben von diesen Menschen eine Anziehungskraft aus, der Gutwillige nicht widerstehen können, weil sie ihr nicht widerstehen wollen. Sie erhalten durch diese führenden Menschen eine neue Kraft, einen neuen Sinn ihres Lebens, eine neue Güte, eine aufopfernde Liebe und einen heiligen Wagemut, eine übermenschliche Leidenskraft.

Solche führende Menschen werden für die anderen nicht nur zum Freund, sondern zum lichten Engel, ja zur Erscheinung Gottes. Solche Begegnungen gibt es in zahlloser Weise im historischen Leben Jesu, in seiner irdischen Daseinsweise und im verklärten Leben Jesu, in seiner himmlischen Daseinsform. Noch immer weiß der Herr Menschen zu berufen, Menschen an sich zu ziehen, Menschen, die alles verlassen, Menschen, die ihm hingegeben sind, die ihm ergeben sind und die ihm geweiht sind und die ihr Leben ihm widmen und ihr Dasein ihm schenken.

Solche gnadenhafte Begegnungen,  meine lieben Freunde, sind wahre Schicksale, die über einen Menschen kommen. Auch derjenige, der die Anziehungskraft ins sich trägt, von dem die Anziehungskraft ausgeht, auch dieser hat eine große Aufgabe und trägt eine schwere Bürde, denn er weiß um seine Verantwortung für die, die er an sich zieht und die ihm folgen. Er weiß, daß auch ihn Furcht und Ekel und Traurigkeit überfallen kann, daß Ölbergsstunden über ihn kommen können, wo er zum Vater ruft, er möge den Kelch vorübergehen lassen.

Nicht jedem Menschen sind solche Begegnungen beschieden, aber ein jeder sollte die Fähigkeit haben, solche Begegnungen zu machen. Ein jeder sollte die Empfänglichkeit haben, die Hingebungskraft in sich verspüren, die sich eben dem anderen zuneigt, von dem er weiß, das ist der von Gott mir gesandte Führer. Wer diese Empfänglichkeit nicht besitzt, dem fehlt der Wille zur Größe, und von einer solchen Art war der reiche Jüngling. Der Herr war ihm begegnet; es war eine wunderbare Begegnung. Aber er ging aus dieser Begegnung ohne Entschluß, leer und mit traurigem Herzen hinweg. Er hatte sich versagt, und deswegen ließ der Herr ihn gehen. Er hatte nicht den Mut, sich zu verlieren, und so hat er sich auch nicht gefunden.

Amen.

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