Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Was ist der Mensch? (Teil 4)

3. Februar 2002

Die Bedeutung des Betens für die menschliche Existenz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir haben an einem der vergangenen Sonntage gesehen, was Gott uns sein will, nämlich unser großes Geheimnis, unser großes Erlebnis, unser großer Reichtum und unsere große Verheißung. Gott will das alles für uns sein. Aber er will es nur sein, wenn wir auf seine Absichten eingehen. Gott will, daß wir in ihm unser Glück, unseren Frieden und unsere Freude finden, aber das geschieht nicht ohne unser Zutun, und das, was an erster Stelle dafür verlangt wird, fassen wir zusammen in dem Begriff Beten. Wenn wir beten, dann kann Gott das werden, was er sein will, nämlich unser großes Geheimnis, unser großes Erlebnis, unser großer Reichtum und unsere große Verheißung. Wir müssen beten, damit Gott das uns werde. Wenn wir beten, wenn wir Gott in unserem Bewußtsein tragen, wenn unser Bewußtsein durchdrungen ist von Gott, dann wird uns Gott im Gebet unsere übernatürlich wirkende Kraft, eine Quelle von Ideen für unseren Geist und ein persönlich nahes Du.

Gott wird uns im Gebet, wenn wir wollen, eine übernatürlich wirkende Kraft, denn wir können ja nicht beten, wenn Gott uns nicht die Kraft zum Gebete gibt. Wenn Gott uns nicht zieht, können wir nicht zu ihm kommen. Es ist ein eherner Grundsatz der katholischen Sakramentenlehre und Gnadenlehre: Wenn Gott nicht vorher zu uns kommt, dann kommen wir nicht zu ihm. Er muß den ersten Schritt tun, und dann sind wir imstande, in der Kraft seiner Gnade zu beten. Gott ist eine übernatürliche Kraft, eine übernatürlich wirkende Kraft. Aber wir müssen für diese Kraft bereit sein. Das ist das Entscheidende. Es ist tatsächlich so: Bereit sein ist fast alles, bereit sein auf Gottes Kommen, bereit sein auf Gottes Erscheinen.

Nun ist es aber mit dem Kommen Gottes so, wie es hohe Herren an sich haben: Man wartet auf sie, und sie kommen nicht, sie lassen den armen Schlucker warten. Und so kann es geschehen, daß wir lange, lange auf Gottes Gnade, auf Gottes Anregung, auf Gottes Wirken in unserer Seele warten, und es rührt sich scheinbar nichts. Unsere Aufgabe ist es, Gott zu bitten, ihn anzuflehen und auf ihn zu warten. Wenn er uns bestellt, müssen wir da sein. Wenn er sagt: Am Sonntagmorgen erwarte ich dich, dann müssen wir zu ihm kommen. Da kann man nicht sagen: Ich will Ski fahren gehen, oder ich will ausschlafen. Wenn Gott uns eine Verabredung gibt, müssen wir sie einhalten. Viele andere Gelegenheiten gibt es, in denen Gott eine übernatürlich wirkende Kraft sein will. Jede heilige Kommunion ist eine solche Gelegenheit. Da kann man nicht sagen: Ich spüre nichts, ich merke keine Wirkung, ich habe schon so viele Kommunionen empfangen, und ich bin immer noch in meinen Schwächen behaftet. Das kann man nicht sagen, denn vielleicht warst du nicht genügend bereit, als du die Kommunion empfingst; vielleicht hast du vergessen, daß die Sakramente wirken nach Maßgabe der Disposition. Das ist ein eherner Grundsatz der katholischen Sakramentenlehre: Die Sakramente wirken nach Maßgabe der Disposition, d.h. der Vorbereitung, der Empfänglichkeit, der Hingabe, der Bereitschaft. So ist es auch bei anderen religiösen Ereignissen. Man kann sagen: Ja, diese Predigt gibt mir nichts; das habe ich schon manchmal gehört. Vielleicht ist eine unter hundert Predigten, die dir etwas gibt, deswegen mußt du warten, mußt du da sein. Du kannst nicht sagen: Ich bleibe der Predigt fern. Bereitschaft ist fast alles, wenn es darum geht, Gott als übernatürlich wirkende Kraft zu erspüren.

Gott ist aber zweitens auch eine Quelle von Ideen für unseren Geist. Wenn wir richtig beten, dann wird unser Geist bereichert durch Gott. Viele beten nicht richtig. Der Römische Katechismus hat die schöne Weisheit ausgesprochen: Beten ist gut, wenn man gut betet. Eine sehr einfache, aber doch sehr tiefe Wahrheit. Beten ist gut, wenn man gut betet. Viele beten, aber sie beten nicht gut, und deswegen spüren sie auch nichts davon, daß Gott eine Quelle von Ideen für unseren Geist ist. Es gibt verschiedene Arten, wie man diese Quelle ausschöpfen kann. Eine Art besteht darin, daß man langsam, betrachtend ein Buch, ein religiöses, ein anregendes Buch liest – langsam und betrachtend; nicht schnell, nicht diagonal, nicht flüchtig, sondern die Sätze, die Worte verkostend. Nicht das Viel-Wissen, nicht das Viel-Lesen festigt die Seele, sondern das innere Verkosten, daß wir stehen bleiben bei dem, was uns etwas gibt, was uns etwas sagt, was uns anregt. Nicht darüber hinweg lesen, nicht sagen: Ich muß fertig werden, nein, wir müssen nicht fertig werden, wir müssen nur unsere Seele nähren lassen durch betrachtendes Lesen der Wahrheiten des Glaubens.

Eine andere Weise, zu beten, ist die künstlerische Betrachtung. Wenn man die Kunstwerke Gottes betrachtet, dann kann man daraus viele, viele Anregungen schöpfen. Eines der Hauptwerke Gottes ist die Natur. Aus der Natur können wir Anregungen schöpfen, um zu Gott zu finden und um für unser Leben Gewinn zu erzielen. „Seh‘ ich den Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du aufgestellt – was ist der Mensch, daß sein du gedenkst, der Erdensohn, daß du ihn ansiehst!“ Hier im 8. Psalm hat der Beter uns eine Quelle eröffnet, wie Gott uns bereichern kann. Den Himmel ansehen, den gestirnten Himmel, die Sonne, die Sterne, die Berge, die Täler, die Höhen. Die Sonne vor allen Dingen ist immer wieder ein Symbol für Gott, ein Ausdruck Gottes. Im 18. Psalm preist der Beter die Sonne: „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Himmelsgewölbe. Tag um Tag raunt es die Kunde, Nacht um Nacht bringt es die Botschaft. Das sind nicht Reden und Worte, deren Klang nicht vernehmbar. In alle Welt dringt ihr Mahnruf hinaus, ihr Wort bis ans Ende der Erde. Dem Sonnenball schuf er am Himmel ein Zelt, der tritt wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, frohlockt wie ein Held, den Weg zu durcheilen. Am Saume des Himmels kommt er hervor, kehrt um erst am anderen Ende. Nichts kann sich bergen vor seiner Glut.“ Wahrhaftig, wir müssen mit dem Philosophen Imanuel Kant sagen: „Zwei Dinge müssen einen immer wieder mit staunender Bewunderung erfüllen, nämlich der gestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns.“ So ist es. Auch Werke aus Menschenhand können uns zu Gott führen. Die bildende Kunst ist geeignet, uns eine Ahnung von Gott zu vermitteln. Ein Kirchenbau: Wenn man in Mainz in die Peterskirche geht, dann kann man sich dort anregen lassen durch die vielen herrlichen Gemälde und Gestalten, die Menschenkunst und Menschengeist geschaffen hat.

Wenn man betet, soll man bildhaft beten. In früheren Zeiten hat man den Rosenkranz in folgender Weise gebetet: Den Gläubigen wurde immer ein Bild von dem Geheimnis des Rosenkranzes gezeigt. Das hat man ihnen erklärt, und danach hat man mündliche Gebete angeschlossen. Heute noch finden Sie in manchen Kirchen solche fünfzehn Bildstöcke, die die Geheimnisse des Rosenkranzes enthalten. Der Rosenkranz ist tatsächlich ein Bilderweg, und man kann den Rosenkranz gut so beten, daß man sich Bilder zusammensucht und an ihrer Hand den Weg des Herrn von seinem Eintritt in die Welt bis zu seiner Wiederkehr zum Vater verfolgt. Ähnlich ist es mit dem Kreuzweg. Der Kreuzweg ist auch eine Serie von Bildern, und wir sollten und oder wir könnten uns Bilder zusammensuchen, an deren Hand wir den Herrn, sein Leiden, sein Sterben betrachten. Das ist ein Gebet, ein gutes Gebet, ein besseres Gebet, als wenn man immerfort nur plappert und die Gebete häuft. Ich zitiere einen der größten Theologen der katholischen Kirche, nämlich Thomas von Aquin: „Die Andacht leidet zumeist durch die Länge des Gebetes.“ Ich wiederhole: „Die Andacht leidet zumeist durch die Länge des Gebetes.“ Und kein Geringerer als der unvergeßliche Kardinal Faulhaber von München hat einmal den schönen Satz gesagt: „Die Andacht darf nicht unter übervielen Andachtsübungen ersticken.“ Die Andacht darf nicht unter übervielen Andachtsübungen ersticken. Man kann also auch die Andacht abwürgen durch allzu große Häufung.

Man kann auch zum Gebet kommen durch die tönende Kunst. Es gibt so viele herrliche Werke der Tonkunst, die einen zu Gott erheben können. Ich erinnere mich, wie ich als Student in München einmal die Johannespassion von Bach erlebte unter der Stabführung von Wilhelm Furtwängler – ein unvergeßliches Erlebnis. In der Johannespassion kann man wirklich, wenn man nicht sich verschlossen hat, beten. Man betet wortlos, aber man betet mit inniger Hingabe an Gott. So gibt es viele Werke der Tonkunst, die uns anregen können. Wer könnte gleichgültig bleiben, wenn er die großen Messen von Haydn, Mozart, Beethoven hört! Wer könnte bei der Missa Solemnis ungerührt bleiben! Und selbst Werke, die ja an sich nicht kirchliche Kunst sind, etwa die Symphonien von Bruckner, vermögen uns anzuregen und zu Gott zu führen. Vor kurzem war ein Interview zu lesen mit dem großen Dirigenten Günther Wand, der sein 90. Lebensjahr vollendet hat. Günther Wand sagte: „Die Bruckner-Symphonien kann man nur verstehen, wenn man ein gottgläubiger Mensch ist.“ Aber wenn man ein gottgläubiger Mensch ist, dann kann man von ihnen Anregungen empfangen, und dasselbe gilt von den Symphonien Beethovens. Kein Geringerer als Papst Pius XII. ließ sich in seiner Todeskrankheit die Symphonien Beethovens vorspielen.

Gott ist eine Quelle von Ideen für unseren Geist. Er ist es auch, indem er uns lehrt, psychologisch zu betrachten, also etwa das Seelenleben Jesu uns vorzustellen, was er empfunden hat, was er gedacht hat, was ihn getrieben hat, was ihn erfreut hat. Sich in das Seelenleben Jesu hinein versetzen, das ist eine schöne, eine wunderbare Form des Gebetes. Aber da darf man natürlich nicht hinweghuschen, nicht Akkordarbeit leisten wollen im Gebet, sondern muß langsam und bedächtig und mit immer neuer Intensität in das Leben Jesu eindringen wollen. Dasselbe kann man tun mit dem Leben Mariens. Man kann sich das Leben Marias vorstellen, wie sie die Botschaft vom Engel empfing, wie sie den Jesusknaben im Schoße trug, wie sie im ganzen verborgenen Leben mit ihm war. Das alles ist eine herrliche Gelegenheit, in betrachtendes Gebet zu kommen. Ja, selbst die Menschen, die Mitmenschen, sind eine Möglichkeit, uns mit Gott zu verbinden. Wenn man sich fragt: Wie kann dieser Mensch so sein? Warum ist er so? Was hat er vielleicht durchgemacht? Was habe ich ihm vielleicht angetan? Wenn man das überlegt, dann kommt man ins Gebet, nämlich dann empfindet man Scham und Reue, und dann macht man Vorsätze: Ich will mich bessern, ich will auf ihn zugehen. Wie mancher Mensch blüht auf, wenn man ihm etwas schenkt, wenn man ihm etwas anbietet, wenn man freundlich, gütig, geduldig mit ihm ist. Da blüht mancher Mensch auf. Das müssen wir im Gebet vorbereiten; dazu müssen wir uns im Gebet erziehen. Ich habe einmal einen Herrn kennengelernt, der hatte eine Liste. Auf der Liste standen alle Menschen, mit denen er in Berührung kam. An oberster Stelle stand der, den er überhaupt nicht ausstehen konnte. Dann kamen die anderen, die erträglicher waren, und erst am Schluß kam der Mensch, mit dem er sich sehr gut verstand. Diese Liste hat er durchgebetet, diese Liste hat er durchbetrachtet, und auf diese Weise hat er das Verhältnis zu seinen Mitmenschen verbessert. Sie sehen, das ist eine Weise, Gott zu dem werden zu lassen, was er uns sein will, nämlich unser großer Reichtum, unser großes Erlebnis, unser großes Geheimnis.

Und schließlich noch ein Drittes, nämlich Gott ist auch ein persönlich nahes Du. Er ist uns so nahe wie das Kleid – ach, was sage ich: Er ist uns näher als das Kleid, das wir tragen. Er ist so nahe wie die Luft, die wir atmen, nein, näher als die Luft, die wir atmen. „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Wir können zu ihm sprechen. Unser zartes Stimmchen dringt zu ihm. „Wenn ein Mensch betet“, sagt ein Mystiker, „dann nehmen die Engel das Gebet auf und tragen es zu Gott.“ Gott nimmt unser Gebet an, er hört es. Es verhallt nicht im All, es dringt an sein Ohr, wenn wir so anthropomorph sprechen dürfen. Das mündliche Gebet sollte sich auf dreifache Weise vollziehen, erstens indem man mit eigenen Worten betet, indem man also selbst formuliert. Das muß nicht meisterhaft wie ein Schulaufsatz sein, sondern es kann ein Stammeln sein, es kann ein Rufen in Not sein, es kann ein Überschwang der Freude und der Dankbarkeit sein, aber mit eigenen Worten beten ist unerläßlich. Nicht nur Gebetsformeln sprechen, sondern mit eigenen Worten das Empfinden der Seele vor Gott tragen. Freilich sind wir nicht so reich, daß wir uns damit begnügen können. Wir bedürfen auch der Gebetsformeln. Es gibt ja so viele herrliche Gebete, die von großen Geistern geschaffen worden sind, von frommen Seelen. Es gibt einen Gebetsschatz, den wir uns aneignen können. Es gibt vor allem die vielen, vielen schönen Gebete, die in der Heiligen Schrift sind. Ich finde, daß diese Gebete die ergreifendsten sind. Also ich zitiere einige: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ So rief der Vater des besessenen Knaben. Ich glaube, d.h. ich will glauben, ich möchte glauben, aber mein Glaube ist schwach. Hilf meinem Unglauben! Oder denken wir an den blinden Bettler, der rief: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Das kann doch jeder von uns sprechen: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner! Denn was haben wir nötiger als das Erbarmen Gottes? Und der Blindgeborene. „Was willst du?“ fragte ihn der Herr. „Daß ich sehend werde.“ Ja, das müßten doch auch wir erbitten, daß wir sehend werden, daß wir sehen, worauf es ankommt in unserem Leben. Und der Aussätzige: „Wenn du willst, kannst du mich rein machen.“ Wie schön! Es kommt alles auf das Wollen des Herrn an. Er kann es, aber er muß wollen. Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Das können wir Unreinen doch wahrlich ihm nachbeten! Oder denken wir an das Gebet des armen Zöllners: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ Eines der ergreifendsten Gebete, die ich kenne. Herr, sei mir Sünder gnädig! Da liegt alles drin, nämlich Vertrauen, aber auch Scham und Reue. Herr, sei mir Sünder gnädig! Und dann gibt es noch ein letztes, vielleicht allerschönstes Gebet, das aus der Heiligen Schrift stammt, und das lautet: „Herr, gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Ja, wer das dem Schächer nachbeten könnte! Wer so in seiner Sterbestunde Vertrauen haben könnte, wer so demütig und im Bewußtsein seiner Schuld flehen könnte, ja um den bräuchte einem nicht bange zu sein. „Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“

Amen.

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