Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Was ist der Mensch? (Teil 2)

20. Januar 2002

Der Sinn der menschlichen Existenz

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Solange Menschen leben, haben sie über sich selbst nachgedacht. Die Frage ist noch nicht zur Ruhe gekommen: Was ist der Mensch? Sogar in den Psalmen erhebt sich diese Frage: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst?“ Die Antworten auf diese Frage lauten sehr verschieden. Sie reichen von der Vergötzung des Menschen bis zur Verdammung. In der Gegenwart sind wohl die negativen Antworten überwiegend. Der Mensch, sagt man, sei ein „arrivierter Affe“. Andere behaupten, der Mensch sei eine Fehlkonstruktion. Wenn man die Existentialisten fragt, dann sagen sie: Der Mensch ist eine sinnlose Leidenschaft. Wir Gläubigen denken auch über den Menschen nach, aber wir lassen unser Denken erleuchten durch das Wort der Offenbarung. Wir fragen: Wie denkt Gott über den Menschen? Was sagt Gott vom Menschen? Diese Frage wollen wir heute stellen und zu beantworten versuchen, und dabei wollen wir sagen: Der Mensch ist 1. ein Bote Gottes, er ist 2. ein Knecht oder eine Magd Gottes und er ist 3. ein Pilger Gottes.

Der Mensch ist ein Bote Gottes. Das Wort „Bote sein“, „Botschaft bringen“, „gesendet werden“ kommt in der Heiligen Schrift unzählige Male vor. Alle Geschöpfe werden von Gott gesandt. Vom Licht heißt es im Buche Baruch: „Er, der das Licht ausschickt und es sendet, der es ruft, und mit Zittern gehorcht es; froh leuchten die Sterne auf ihren Warten. Er ruft sie, sie sagen: Hier sind wir. Sie leuchten mit Freuden vor dem, der sie schuf.“ Boten sind auch die ersten geistigen Geschöpfe, die Gott schuf. Die Engel sind Boten. Der Name „angelus“ heißt Bote; die Engel sind Boten Gottes. Sogar der Gründer des Neuen Bundes, Jesus Christus, ist ein Bote. Er heißt der Künder des großen Ratschlusses oder der Bote des großen Ratschlusses. Boten sind auch die Menschen, die Jesus ausgesandt hat. Seine Apostel nennt er Gesandte, apostoloi, das heißt Ausgesandte, Boten. Ja, was bringen die Geschöpfe Gottes denn für eine Botschaft? Sie alle sollen etwas aussagen von Gott. Sie sollen ein Wörtlein über Gott sagen, einen Strahl von seinem Lichte. Alle diese Boten künden etwas von Gott, daß Gott existiert, daß er Licht ist, daß er Leben ist, daß sie von ihm ausgehen und zu ihm zurückkehren und daß sie die Botschaft ausrichten müssen: Kommt, laßt uns ihn anbeten! Das ist die Botschaft, die alle Geschöpfe ausrichten.

Aber da ist ein Unterschied. Die untermenschlichen Geschöpfe, die Pflanzen, die Tiere sind schon alles, was sie sein können. In ihrem Sein ist schon alles enthalten, was sie von Gott ausrichten sollen. Eine Blume, die da steht und blüht und glänzt, kündet etwas von der Schönheit und von der Liebenswürdigkeit Gottes. Sie können nichts anderes sagen, als was sie in ihrem Sein schon vorfinden. Anders beim Menschen. Auch der Mensch ist eine Botschaft nach seinem Sein, also als Geist und als Körper. Gott hat ja gesagt: „Laßt ihn uns schaffen nach unserem Bild und Gleichnis!“ Er offenbart also etwas von Gott. Aber ihm ist darüber hinaus aufgegeben, die Botschaft Gottes zu formulieren. Nicht nur durch sein bloßes Dasein kündet er von Gott, sondern durch das, was er tut und was er aus sich macht. Es ist ihm eine Botschaft Gottes aufgetragen, die er formulieren muß, und je nachdem, ob es ihm gelingt, diese Botschaft Gottes zu formulieren, dann wird er ein schönes Lied auf Gottes Herrlichkeit. Wenn es ihm mißlingt, dann ist das eine Disharmonie, eine Kakophonie.

Ein Kind von zwei bis drei Jahren ist ein wahrer Lobpreis auf Gottes Herrlichkeit. Wenn man ein solches Kind ansieht, dann spürt man etwas von der Liebenswürdigkeit Gottes: die großen, geöffneten Augen, der helle Blick, die fragenden Züge in seinem Gesicht. Ein solches Kind ist von naturhafter Schönheit. Wenn diese Schönheit zu einer sittlichen wird bei einem guten Menschen, bei einem vollkommenen Menschen, bei einem heiligen Menschen, dann erleben wir wieder etwas von der Schönheit, von der Liebenswürdigkeit, von der Herrlichkeit Gottes. Es sind viele Menschen über diese Erde geschritten, Völkerzertrümmerer und Reichebauer, aber zusammentreffen möchten wir mit den Menschen, die Gottes Lied so freudig und so schön gesungen haben wie Franz von Assisi oder Theresia von Avila. In ihnen ist die Herrlichkeit Gottes ausgesagt. Wenn aber der Mensch seine Botschaft schlecht formuliert, dann wird er zu einer Schande für Gott. Dann erhebt sich die Frage: Soll das ein Geschöpf Gottes sein? Und viele Menschen werden irre an Gott, wenn sie diese Geschöpfe sehen und wenn diese Geschöpfe gar noch behaupten: Wir sind gläubig, wir sind fromm. Da werden viele Menschen irre an Gott.

Es ist also unsere Aufgabe, über uns Gewissenserforschung zu halten und zu fragen: Bin ich ein Bote Gottes? Was sehen die Menschen, wenn sie mich kennenlernen? Finden sie durch mich zu Gott, oder verlieren sie den Weg zu Gott? Erhelle ich diese Menschen, oder bin ich ein Finsterniselement? Es wäre furchtbar, wenn auch nur von einem von uns die Menschen sagen müßten: Der Gott, den dieser Mensch verehrt, mit dem Gott will ich nichts zu tun haben. Das wäre furchtbar. Der Mensch ist ein Bote Gottes. Er hat eine Botschaft auszurichten, und sein ganzes Schicksal, sein ganzes Lebensziel hängt damit zusammen, hängt davon ab, wie er diese Botschaft ausrichtet. Eine ungeheure Verantwortung liegt über uns, nämlich die Botschaft Gottes so zu formulieren, daß die Menschen, wenn sie uns sehen, den Vater im Himmel preisen.

Der Mensch ist zweitens ein Knecht oder eine Magd Gottes. Gott hat ihn in seinen Dienst genommen für ein Werk. Er stellt ihm eine Aufgabe. Er erwartet von ihm eine Leistung. Diese Aufgabe zu erkennen ist nicht schwer. Man braucht nicht zu wissen, was in 20 Jahren sein wird, man muß nur wissen, was heute und morgen und vielleicht übermorgen uns aufgegeben ist. Es hat einmal ein weiser Mann gesagt: Welches ist denn der Stein der Weisen? Der Stein der Weisen ist der Meilenstein, und zwar der nächste Meilenstein. Geh nur von einem Meilenstein zum anderen, dann erfüllst du todsicher den Willen Gottes. Immer das tun, was getan werden muß, immer die Aufgabe erledigen, die jetzt dringend ist: darin ist der Wille Gottes enthalten, darin sind wir Knechte und Mägde Gottes. Und das ist es ja eben: Wir suchen immer auszuweichen, wir suchen immer etwas anderes zu tun; wir wollen nicht das, was als Pflicht vor uns liegt, sondern wir suchen auszubüxen, zu trödeln, wie Kinder mit ihren Schulaufgaben trödeln, statt das in Angriff zu nehmen, was uns Gott jetzt und hier aufgetragen hat. Es ist nicht schwer zu erkennen, welches Werk Gott von uns getan wissen will. Das ist nicht schwer. Wir brauchen nur unsere Anlagen zu betrachten, unsere Natur, die Verhältnisse, in die wir hineingeboren sind, die Menschen, die uns umgeben: Das ist die Aufgabe Gottes. Nicht anderswo und nicht irgendwo, sondern hier und jetzt, da ist die Aufgabe Gottes uns gestellt.

Die Aufgabe Gottes, das Werk Gottes kann kurz sein oder lang. Verschiedenen von uns ist es ein langes, manchmal ein langweiliges Werken und Mühen. Die Aufgabe Gottes kann in einem Leiden bestehen. Vielleicht will Gott aus uns ein leidgereiftes Wesen machen, denn im Leiden kommt die höchste Schönheit, die bezauberndste Kraft eines Menschen zum Vorschein. Es kann auch sein, daß Gott einen Menschen nur für die Todesstunde erschaffen hat, daß er im Tode das leisten soll, was Gott von ihm begehrt. Der Mensch Jesus Christus war vor allem für die Todesstunde geschaffen. Ob es nun lang oder kurz ist, ob es schwer oder leicht ist: Wenn Gott etwas von uns will, dann ist es immer groß, und dann müssen wir uns unter diese Last beugen, denn eine Belastung kann es sein, immer das gleiche tun, immer von vorne anfangen, sich nicht aussuchen dürfen, was man gern tun möchte, sondern dem Auftrag Gottes, wie er jetzt und hier an uns gestellt wird, gehorchen. Da kann ein Mensch müde werden, da kann er zusammenbrechen.

Es hat einmal einen solchen Menschen gegeben, den Propheten Jeremias. Der ist unter der Last des Auftrages Gottes fast zusammengebrochen. „Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören. Du hast mich gepackt und bezwungen. Zum Gelächter bin ich geworden tagaus, tagein. Alle Welt spottet meiner. Ach, wenn ich rede, muß ich aufschreien: Unrecht, Gewalt, und muß ich rufen, denn das Wort des Herrn trägt mir ein Schmähung und Spott jeden Tag.“ Hier sehen wir, wie ein Knecht Gottes unter der Last Gottes fast zusammenbricht.

Die Aufgabe, die Gott uns stellt, macht aber unsere Würde aus. Es ist die Ehre, die Gott uns antut, daß er uns für einen Dienst annimmt. Wir haben also etwas Brauchbares an uns, weil wir einen Auftrag Gottes haben. Die Menschen sind schnell fertig mit dem Urteil: Der ist unbrauchbar, mit dem kann man nichts machen. Der Auftrag, den Gott dem Menschen gibt, den kann jeder leisten. Was Gott von ihm verlangt, das kann er, und weil Gott etwas von ihm verlangt, ist er brauchbar. Es gibt keine unbrauchbaren Menschen. Eine Schule der Psychologie führt die seelischen Leiden darauf zurück, daß die Menschen Minderwertigkeitsgefühle haben. Sie bilden sich ein: Ich kann nichts, ich vermag nichts, man will nichts von mir wissen, ich habe keine Stimme, ich habe kein Gedächtnis. Solche Menschen machen sich minderwertig. Sie sind nicht minderwertig, aber sie machen sich durch solche Gedanken minderwertig. Von Gott her ist kein Mensch minderwertig, hat jeder Mensch einen Auftrag, eine Brauchbarkeit, und es ist eine Spannung im Himmel und in der Hölle und im ganzen Universum: Wie wird der Mensch werden? Was wird aus ihm werden? Welche Richtung wird er gehen? Wird er Schönheit oder Schmutz, wird er Helligkeit oder Dunkel, wird er Licht oder Finsternis? Diese Spannung steht über jedem Menschen.

Der Mensch ist ein Knecht oder eine Magd Gottes. Er ist aber auch drittens ein Pilger Gottes. Er ist unterwegs. Ein versprengtes Jesuswort, das nicht in den Evangelien steht, lautet: „Die Welt ist eine Brücke. Gehe hinüber, aber baue dein Haus nicht auf ihr!“ In diesem Wort ist sehr gut das Pilgerdasein des Menschen ausgedrückt. Der Mensch ist unterwegs, und alles in der Welt ist unterwegs. Die ganze Schöpfung läuft und rennt und rast. Wenn wir den Astronomen glauben dürfen, dann dehnt sich das Weltall mit ungeheurer Geschwindigkeit aus, die Sterne rasen im Weltraum umher, und die Elektronen sind mit unglaublicher Geschwindigkeit unterwegs. Man hat – und das ist der genialen Technik zu verdanken – Großrechner gebaut, die 100 Milliarden Operationen in einer Sekunde vornehmen. 100 Milliarden Operationen vermögen die Großrechner in einer Sekunde zu leisten.

Da sieht man, daß die ganze Schöpfung unterwegs ist. Ja, wohin eilt sie denn? Nun, selbstverständlich zu Gott! Sie kommt von Gott, und sie will zu Gott, und da muß sie laufen, da muß sie sich eilen. Aber es ist eben ein Pilgerweg. Es ist ein Weg zum Heiligtum, ja, es ist ein Weg zur Heimat. Mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung waren zehntausend griechische Söldner in das Feld gezogen in Kleinasien, in Persien, und nachdem sie aus dem Solddienst entlassen waren, suchten sie den Weg zurück in die Heimat. Ihr Anführer Xenophon hat ihre Tagesmärsche aufgezeichnet. So viele Meilen haben wir heute zurückgelegt, immer wieder, tagelang, wochenlang, monatelang, so viele Meilen – eine eintönige Lektüre. Aber einmal kamen sie auf eine Höhe, und da lag vor ihnen das Meer, das blaue Meer, das griechische Meer, das Meer der Heimat. Da riefen sie: „Das Meer! Das Meer!“ Denn jetzt wußten sie: Jetzt waren sie gerettet.

So ähnlich ist es bei uns. Auch wir sind Pilger, unterwegs zum Heiligtum, zur Heimat. Und daraus ergibt sich, daß wir nicht stillestehen dürfen, daß wir nicht ausruhen dürfen, daß wir nicht ersterben, nicht erstarren dürfen. Wir müssen gehen, immer gehen. Manchen von uns fällt manchmal die Neigung an: Ich mag nicht mehr, und ich will nicht mehr; es ist genug. Nein, meine lieben Freunde, weitergehen, weitergehen, bis wir am Pilgerziel angelangt sind. Weitergehen, bis wir das Heiligtum erreicht haben. Nicht müde werden, nicht ermatten, nicht aufgeben. Es ist ein Pilgerweg, und auf einem Pilgerweg gilt das Wort des Psalmes: „Wie freute ich mich, als man mir sagte: Wir gehen zum Haus des Herrn!“ Es ist nicht ein Weg von Sklaven, die in die Sklaverei geführt werden, nicht der Weg eines Volkes, das in die babylonische Gefangenschaft abgeführt wird, auch nicht der Weg von Verbannten, die nach Sibirien geschafft werden. Nein, es ist ein Weg zum Heiligtum, zur Heimat, zu Gott.

Wenn wir das begriffen haben, daß wir Boten Gottes, daß wir Knechte und Mägde Gottes, daß wir Pilger Gottes sind, dann werden wir ganz anders das Gebet des Herrn beten. Wenn es dann heißt: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden“, dann wissen wir, dieser Wille soll auch durch uns geschehen, denn wir sind die Boten Gottes, wir sind die Knechte und Mägde Gottes. Wir sollen das Lied, das er in uns gelegt hat, lauter und freudig und liebenswürdig singen. Und wenn wir beten: „Dein Wille geschehe“, dann wissen wir noch einmal: Er muß geschehen, denn wir sind die Knechte und Mägde Gottes. Dein Wille geschehe durch mich in alle Ewigkeit.

Amen.

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