Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Das Wesen Gottes (Teil 16)

8. Mai 1997

Die Barmherzigkeit Gottes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Eine besondere Form der Liebe Gottes ist die Barmherzigkeit. Die Barmherzigkeit ist die Liebe Gottes zu der in Not und Sünde geratenen Kreatur. Das Erbarmen Gottes ist nicht der Wille, das Elende und Schwache in seinem Elend und in seiner Schwäche zu erhalten. Es ist auch nicht ein bloß gefühlsmäßiges Mitleid oder eine innere Erregung. Nein, das Erbarmen Gottes ist der wirksame Wille, das in Not und Elend und Sünde geratene Geschöpf aus Not und Elend und Sünde zu befreien. Damit verbunden ist freilich die Innigkeit der Liebe, wie sie Gott eigen ist.

Die Barmherzigkeit Gottes wird in den Schriften unseres Glaubens an vielen Stellen deutlich gemacht. Es mag den Anschein haben, als ob im Alten Testament die Gerechtigkeit und Strenge Gottes den Vorrang vor der Barmherzigkeit hätten. Aber auch das Alte Testament bietet eine Fülle von Zeugnissen über Gottes Erbarmen. Vor allem in den Psalmen wird immer wieder das Erbarmen Gottes mit den Armen und Bedrückten, mit den Witwen und Waisen, mit den Fremdlingen aufgezeigt. Im Psalm 9 heißt es: „Denn des Armen wird nicht für immer vergessen, des Elenden Hoffnung wird nicht auf ewig enttäuscht.“ An einer anderen Stelle, im Psalm 12, heißt es: „Ob der Not der Bedrückten, ob des Jammers der Armen, wohlan, spricht der Herr, will ich aufrichten, will ich aufstehen, dem zu helfen, der darum ruft.“ Der Prophet Isaias hat an mehreren Stellen die Barmherzigkeit Gottes gepriesen. „Ja, dem Geringsten warst du ein Hort, ein Hort dem Armen in seiner Not, ein Obdach vor dem Wetter, ein Schatten vor Sonnenglut.“ Und wieder an einer anderen Stelle, im Psalm 82, da ist eigentlich der ganze Text dem Lob Gottes über seine Sorge für die Armen und Bedrückten geweiht. „Gott hält Gericht im Kreis der Götter. Wie lange wollt ihr ungerecht richten, für Frevler Partei ergreifen? Schafft Recht den Geringen, Verwaisten; den Armen, Bedrückten verhelft zum Recht! Er rettet den Niederen, den Schwachen, befreit sie aus Frevler Hand.“ Man sieht: Gott ist ein Gott, der Erbarmen übt an den Schwachen und mit den Elenden. Vor allem natürlich richtet sich das Erbarmen Gottes auf den Menschen, der in Sünde gefallen ist. Gott ist ein Gott, der gern verzeiht. So heißt es beim Propheten Isaias: „Denn wie ein Weib, das verlassen und von Herzen betrübt ist, ruft der Herr dich zurück. Kann man die Gattin der Jugend verschmähen, spricht dein Gott. Ich verließ dich nur eine kurze Zeit, doch mit großem Erbarmen führe ich dich heim. In ausbrechendem Zorn habe ich einen Augenblick nur mein Antlitz vor dir verborgen, doch in ewiger Huld erbarme ich mich deiner, spricht der Herr, der Erlöser.“ Aus Erbarmen ruft Gott zur Umkehr und zur Buße. Er will, daß der Sünder sich bekehre und durch die Bekehrung Verzeihung erlange. Wiederum beim Propheten Isaias: „Bedenke dies, Jakob und Israel, du bist ja mein Knecht. Ich habe dich gebildet; mein Knecht bist du. Israel, du wirst von mir nicht vergessen. Ich fege deine Frevel wie Wolken hinweg, deine Sünden wie leichtes Gewölk. So kehre zurück zu mir, denn ich will dich erlösen.“ Ebenso nimmt Jeremias den Ruf zur Umkehr auf. „Hierauf sagte der Herr zu mir: Gerecht steht die Abtrünnige Israel da im Vergleich zu der Treulosen Juda. Geh, rufe diese Worten gegen Norden hin aus und sprich: Kehre zurück, Abtrünnige Israel – Spruch des Herrn. Ich will nicht mehr zornig blicken auf euch, denn ich bin gnädig – Spruch des Herrn. Ich grolle nicht ewig. Nun erkenne deine Schuld, daß du dem Herrn, deinem Gott, die Treue gebrochen und bald hierhin und bald dorthin liefst zu heidnischen Göttern unter jedem grünenden Baum. Auf meinen Ruf aber hörtet ihr nicht.“

Das Erbarmen Gottes nimmt vor allem die Gestalt der Langmut an. Ein klassisches Beispiel dafür ist sein Verfahren gegenüber der großen Stadt Ninive. Ninive war eine glänzende, aber auch lasterhafte Stadt, und es wurde dem Propheten Jonas von Gott aufgetragen, in die Stadt hineinzugehen und zu verkünden: „Noch vierzig Tage, dann wird Ninive vernichtet, wenn es sich nicht bekehrt!“ Die Niniviten haben diesen Ruf zur Buße gehört. Sie haben ihre Festtagskleider ausgezogen und sich mit Asche bestreut. Sie haben ein allgemeines Fasten ausgerufen; der König stieg herab von seinem Throne. Durch diese Bekehrung blieb Ninive vor der Vernichtung verschont. Der Prophet Jonas war freilich darüber erzürnt, denn ihm wäre es lieber gewesen, Gott hätte seine Ankündigung wahrgemacht. Doch Gott hat ihn ob seiner Hartherzigkeit getadelt. „Ach, Herr,“ so betete Jonas, „das ist es ja, was ich dachte, als ich noch in meiner Heimat war. Gerade darum wollte ich zuvor nach Tarsis fliehen, denn ich wußte, du bist ein gnädiger und barmherziger Gott, langmütig und reich an Erbarmen und läßt dich das Unheil gereuen.“ Und dann in seiner Erbitterung darüber, daß seine Ankündigung nicht in Erfüllung ging: „Nun aber, Herr, nimm doch mein Leben weg von mir, denn es ist besser für mich zu sterben als zu leben.“ Aber Gott hielt ihm seine Unzufriedenheit vor. „Ist es recht von dir, so mißmutig zu sein?“

In seinem Erbarmen gebietet Gott auch Einhalt seinem Zorne. Der Zorn Gottes ist seine Liebe über dem sich gegen ihn auflehnenden Geschöpf. Das Geschöpf, das sich gegen Gott auflehnt, empfindet seine Liebe als Zorn. Aber diesem Zorn gebietet Gott Einhalt, meisterlich geschildert im Psalm 103: „Der Herr ist barmherzig und gnädig, geduldig und reich an Liebe. Drum hadert er nicht für immer und trägt nicht für ewig nach. Nicht nach unseren Sünden tat er an uns, nicht nach unserer Meintat vergalt er uns. Denn so hoch der Himmel über der Erde, so groß ist seine Liebe zu den Frommen. So weit der Aufgang vom Untergang, so weit entfernt er von uns unsere Sünden. Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr seiner Frommen.“ Und in diesem Erbarmen nimmt er auch Rücksicht auf die Schwäche des Sünders. Er weiß, daß der Mensch nur Gras ist und wie die Blume des Feldes vergeht. „Voll Erbarmen ließ er nach die Schuld und raffte niemals gänzlich die Menschen hinweg. Gar vielmals hielt er zurück seinen Zorn und ließ nicht seinen ganzen Grimm erwachen. Und er gedachte, daß wir aus Fleisch seien, ein Hauch, der hinweht und nicht wiederkehrt.“ So wird schon an vielen Stellen, aus denen ich eine Auslese getroffen habe, im Alten Testament die Barmherzigkeit Gottes verkündet.

Im Neuen Testament ist diese Verkündigung womöglich noch überboten. Denn Jesus verkündet den barmherzigen Vater im Himmel. „Seid barmherzig“, fordert er die Menschen auf, „wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ Und er selber war der barmherzige Heiland gegenüber den Menschen in Not, in Elend und in Sünde. Deswegen hat er so viele Kranke geheilt, Tote erweckt; er hat Mitleid gehabt mit den Menschen, die in der Wüste vor Hunger zugrundezugehen drohten. Er hat die Sünderin aufgenommen, die ihm die Füße salbte. Er hat die Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrt, die ihr angedroht wurde. Er hat den Schächer am Kreuze noch im letzten Augenblick gerettet. Und so ist im Neuen Testament oft vom Gott des Erbarmens die Rede, etwa im 2. Korintherbrief, wo Paulus schreibt: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Erbarmungen und Gott allen Trostes!“ Und im Titusbrief stehen die ergreifenden Worte: „Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorsam, verirrt, Sklaven von mancherlei Begierden und Lüsten, lebten in Bosheit und Neid, waren verabscheuungswürdig und voll Haß gegeneinander. Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Heilandes erschien, hat er, nicht aufgrund von Werken der Gerechtigkeit, die wir etwa getan, sondern nach seinem Erbarmen uns gerettet durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geiste.“ Um nun noch ein letztes Wort aus dem 1. Petrusbrief anzuführen: „Gepriesen“, so heißt es da, „sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zur lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.“

Es ist eine der schönsten Aufgaben des christlichen Predigers, von der Barmherzigkeit Gottes zu sprechen. Doch auch der wohlmeinendste Prediger darf nicht verschweigen, daß Gottes Barmherzigkeit zwar grenzenlos ist, aber nicht bedingungslos. Gottes Erbarmen geht nur über jenen, der seine Schuld einsieht, bekennt, bereut und den Vorsatz zur Besserung hat. Gottes Barmherzigkeit ist an die Bedingung geknüpft, daß der Mensch sich bekehrt. Der heilige Pfarrer von Ars, der die Tiefenschau in Gott hatte, hat einmal das schöne Wort gesprochen: „Niemand ist deswegen verdammt worden, weil er zuviel gesündigt hat, aber viele Menschen sind in der Hölle, weil sie eine Sünde begangen haben, die sie nicht haben bereuen wollen.“ Das ist theologisch einwandfrei, und wir dürfen einem Heiligen von der Qualität des Pfarrers von Ars mehr trauen als einem Theologen wie Hans Urs von Balthasar oder wie immer er heißen mag. Die Barmherzigkeit Gottes, die sich als Langmut bekundet, treibt den Menschen zur Bekehrung. Gott ist langmütig, das heißt, er läßt dem Sünder Zeit, damit er sich bekehren kann. Gott weiß eben: Der Mensch braucht eine gewisse Zeit, um sich vom Bösen abzuwenden und dem Guten zuzuwenden; und Gott läßt ihm gewöhnlich die Zeit. Aber diese Zeitspanne ist eine Gnade Gottes. Sie dient nicht dazu, daß sich der Sünder in seiner Sünde verhärtet, sondern daß er sich von seiner Sünde löst. Der heilige Augustinus hat einmal das schöne Wort gesagt: „Einen hat Gott im letzten Augenblick gerechtfertigt (nämlich den Schächer), damit niemand verzage, aber auch nur einen, damit niemand die Bekehrung bis zum Tode verschiebe.“ Ein wunderbares Wort. Einen hat Gott im letzten Augenblick gerechtfertigt, damit niemand verzage, aber auch nur einen, damit niemand die Bekehrung bis zum Tode verschiebe. Die Geduld und die Langmut Gottes treibt uns also zur Buße an. Seine Barmherzigkeit wird uns gewährt, und wir dürfen ihrer sicher sein, aber nur, wenn wir uns vom Bösen abwenden. Es wäre vermessen, wenn man auf Gottes Erbarmen rechnen wollte, ohne sich vom Bösen zu scheiden.

Im 50. Psalm wird in ergreifender Weise das Erbarmen Gottes mit dem gefallenen Menschen laut. „Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner großen Huld. Nach der Fülle deiner Erbarmungen tilge meine Missetat!“ Und im Magnificat, das wir Priester jeden Tag in der Vesper beten, heißt es: „Sein Erbarmen währet von Geschlecht zu Geschlecht“, aber jetzt kommt die Bedingung: „bei denen, die ihn fürchten!“ Wer keine Gottesfurcht hat, wer nicht entschlossen ist, die Sünde zu meiden, der hofft vergebens auf Gottes Erbarmen.

Amen.

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