Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Der Sündenfall (Teil 5)

10. Dezember 1989

Die übernatürliche Ausstattung des Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In Büchern über die Frühgeschichte des Menschen sind auch Abbildungen enthalten, Abbildungen, die nach der Meinung der Verfasser darstellen sollen, wie der erste Mensch ausgesehen und wie er sich verhalten hat. Da sieht man also Menschen mit vorstehendem Kinn, mit dicken Überaugenwülsten, mit flacher Stirn, behaart, mit der Keule in der Hand, wie sie den Tieren nachstellen, auf die Jagd gehen, oder wie sie Beeren und Pilze sammeln. Man stellt sich die ersten Menschen als Jäger und Sammler vor, die in ihrer körperlichen Erscheinung affenähnlich aussahen. Der religiöse Maler Gebhard Fugel in München hat auch ein Bild des ersten Menschen gemalt, das einen ganz anderen Eindruck erweckt. Da sieht man Adam, wie er steht mit erhobenen Armen, und Eva, die neben ihm kniet, und sie richten den Blick gen Himmel, und Gott segnet vom Himmel das erste Menschenpaar.

Ich sage nicht, daß diese Bilder sich widersprechen müssen. Selbstverständlich hat die Zivilisation sich entwickelt. Ohne Zweifel hat die Kultur eine Entwicklung durchgemacht. Aber Mensch bleibt Mensch; und wenn der erste Mensch eben ein Mensch war, besaß er auch die Intelligenz und den Willen eines Menschen, sosehr das äußere Erscheinungsbild durch Umwelteinflüsse sich gewandelt haben mag. Und deswegen ist das Bild, das Meister Fugel gemalt hat, sicher richtig. Auch der erste Mensch war ein Gottgläubiger, ein Anbeter. Wir dürfen uns die Unterentwickeltheit des ersten Menschen in bezug auf die Zivilisation nicht in falscher Weise vorstellen als eine Primitivität seines Geistes. Sein Geist war ein echt menschlicher und darum von hoher Intelligenz. Natürlich hat die Entwicklung der Werkzeuge und der Kunst einmal angefangen, aber Entdeckungen aus eiszeitlicher Epoche warnen uns davor, die Primitivität des ersten Menschen und seiner Abkommen zu übertreiben. Wenn wir die Felszeichnungen betrachten, die sich in den Höhlen der Sahara in Afrika erhalten haben, da sehen wir, daß auch unter den Menschen, die vor Tausenden von Jahren gelebt haben, schon Künstler waren. Oder wenn wir an die großen Werke der Baukunst denken, die im vorderen Orient geschaffen wurden, etwa in Baylonien oder in Ägypten, dann kommt uns eine Ahnung, daß der frühe Mensch von gleicher Intelligenz wie der heutige Mensch war.

Die Ausstattung der ersten Menschen bezog sich aber nicht nur auf die Natur, also auf Leib und Geist, sondern auch auf das Übernatürliche, also auf sein Verhältnis zu Gott. Und so sagt uns die Offenbarung mit absoluter Sicherheit erstens: Die ersten Menschen waren im Stande der heiligmachenden Gnade. Sie lebten also nicht fern von Gott, in Unkenntnis Gottes, sondern es umhüllte sie, ja es durchdrang sie die Freundschaft Gottes, die Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Die Erlösungslehre des Apostels Paulus läßt keine Zweifel daran, wenn er sagt: Es gibt zwei Adam, den ersten, den Gott aus dem Staub der Erde geschaffen hat, und den zweiten, den Christus. Christus hat das wiedergebracht, was der erste Adam verloren hat. Also muß der erste Adam es ja empfangen haben. Und was hat er empfangen? Die ursprüngliche Gerechtigkeit und Heiligkeit. Diese Ausstattung mit der heiligmachenden Gnade ist in der Schrift angedeutet, wenn die Heilige Schrift von einem kindesähnlichen Verhältnis der ersten Menschen zu Gott spricht. Arglos und gläubig, wie Kinder sind, so waren die ersten Menschen auch gegenüber Gott.

Die heiligmachende Gnade war aber nicht die einzige Ausstattung, die Gott ihnen gegeben hatte. Es gab nämlich zweitens auch noch präternaturale Gaben, also Gaben, die neben der Natur hergehen. Die heiligmachende Gnade überhöht die Natur, sie vervollkommnet sie und sie überhöht sie. Die präternaturalen Gaben statten die Natur in einer wunderbaren Weise aus, wie es der Natur an sich nicht ohne weiteres zukommt.

Es waren vier präternaturale Gaben, die Gott den ersten Menschen gegeben hatte. Die erste war die Freiheit von der bösen Begierlichkeit, von der Konkupiszenz. Was ist die böse Begierlichkeit? Nun, die böse Begierlichkeit ist das spontane sinnliche und geistige Streben im Menschen, das sich gegen die Macht der Vernunft und gegen die Kraft des Willens regt und auch dagegen durchhält und beharrt. Also der Zwiespalt im Menschen, daß er das Gute sieht und das Böse tut; die Zerrissenheit im Menschen, daß keine Harmonie mehr ist zwischen Geist und Körper, zwischen Wille und Verstand. Diese Konkupiszenz war den ersten Menschen nicht zu eigen. Die Konkupiszenz stammt aus der Sünde und führt zur Sünde. Ursprünglich also lebten die Menschen in völliger Harmonie mit sich selber. Die Heilige Schrift deutet das an, wenn sie sagt: „Sie waren nackt, und sie schämten sich nicht.“ Die böse Begierde war in ihnen noch nicht erwacht, und so störte sie die Nacktheit nicht, sie war kein Anreiz zur Sünde. Das ist ein Hinweis darauf, daß die ersten Menschen harmonisch gegliedert waren, daß ihnen der Anreiz zur Sünde fehlte.

Die zweite der außernatürlichen Gaben war die Unsterblichkeit. Die ersten Menschen sollten nach Gottes Willen nicht sterben. Es war ihnen nicht unmöglich, zu sterben, aber es war ihnen möglich, unsterblich zu sein. Das ist ein Unterschied, den schon Augustinus herausgearbeitet hat, das posse non mori im Unterschied zu non posse mori. Sie sollten nicht sterben, weil Gott ihnen dieses Geschenk der Unsterblichkeit geben wollte. Die Heilige Schrift läßt keinen Zweifel daran, daß der Tod die Folge der Sünde ist. „Durch einen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod,“ heißt es im Römerbrief des Apostels Paulus. Oder im Buch der Weisheit: „Gott hat den Tod nicht geschaffen.“ An einer anderen Stelle: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt.“ Der Tod ist der Sold der Sünde.

Mit dem Geschenk der Unsterblichkeit hängt drittens zusammen die Freiheit von Leiden. Der erste Mensch war von Schmerzen und Qualen frei. Er sollte dank seiner wunderbaren Ausstattung ein Leben in Freude und Frieden, in Ruhe und Sicherheit führen. Erst durch die Sünde kam das Leiden in die Welt. Und die Heilige Schrift läßt keinen Zweifel daran, daß die Leiden die Folge der Sünde sind. Es heißt nämlich im dritten Kapitel der Genesis: „Zur Frau sprach Gott: Viele Beschwerden will ich dir auferlegen bei deiner Mutterschaft. In Schmerzen sollst du Kinder haben, und doch wirst du nach deinem Manne verlangen, der über dich herrschen wird.“ Und ein paar Verse weiter, da heißt es zum Manne: „Mit Mühsal sollst du dich vom Erdboden nähren alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln soll er dir tragen. Im Schweiße deines Angesichtes wirst du dein Brot verzehren.“ Durch das Unheil, das der Mensch über sich gebracht hat, ist auch die Erde betroffen. Die Erde, die der Mensch mißbraucht hat, schlägt gegen ihn zurück. Und so sind die Schmerzen und die Leiden im Leben des Menschen zu erklären.

Die vierte präternaturale Gabe war eine eingegossene natürliche Kenntnis und übernatürliche Erkenntnis. Die ersten Menschen waren nicht tierähnlich, sondern sie besaßen von vornherein ein bestimmtes Wissen, ein ihrer Entwicklungsstufe angepaßtes Wissen. Das wird in der Heiligen Schrift deutlich angedeutet. Als der Herr die Tiere zu Adam führt, da weiß Adam jedem Tier den passenden Namen zu geben. Er kennt die Tiere, ihre Funktion, ihre Art, und so gibt er ihnen die ihnen angemessenen Namen. Er weiß auch sofort, was die Frau für ihn bedeutet. Er kennt die Bedeutung und die Zuordnung der Frau zu ihm. Das deutet auf sein Wissen hin. Und selbstverständlich hatten die ersten Menschen auch ein Wissen um Gott. Sie konnten Gott finden, sie konnten Gott erkennen, sie wußten, daß man sich zu Gott emporrichten muß, daß man beten und opfern muß, daß der Mensch seine Abhängigkeit von Gott anerkennen und ausdrücken muß, daß der Segen von Gott erbeten sein will und daß der Mensch seine Heimat nur in Gott finden kann. Das wußten die ersten Menschen.

Das also, meine lieben Freunde, war die Ausstattung der ersten Menschen, die heiligmachende Gnade und die vier präternaturalen Gaben Freiheit von Konkupiszenz, Unsterblichkeit, Freiheit von Leiden und ein Besitz von natürlichem und übernatürlichem Wissen. Alle diese Gaben hatten die ersten Menschen für das Menschengeschlecht erworben. Sie sollten das, was sie empfangen hatten, weitergeben. Es sollte sich gleichsam vererben auf ihre Nachkommen. Die menschliche Natur als solche war von Gott wunderbar ausgestattet worden.

Das Paradies war freilich kein Freizeitpark. Es ist ganz falsch, das Paradies mit einem Schlaraffenland zu verwechseln; denn im Schlaraffenland tut man nichts, weil einem alles von selbst in die Hände fällt. So war es im Urzustand nicht. Im Paradies wurde gearbeitet. Das steht auch in der Heiligen Schrift, daß Gott den Menschen beauftragte, die Erde zu bearbeiten und den Garten des Paradieses zu bewachen. Arbeit und Wachdienst war den Menschen auferlegt. Freilich fehlte der Arbeit die Erfolglosigkeit. Es fehlte der Fluch der Arbeit, der durch die Sünde über sie gekommen ist, aber sich ausarbeiten, tätig sein, am Schöpfungswerk Gottes in seiner Weise mitarbeiten, das sollte schon der erste Mensch.

Das ist das Paradies, meine lieben Freunde, das Paradies, von dem wir bald hören werden, daß es ein verlorenes ist. Vor einer Reihe von Jahren hielt einmal in Nordamerika ein Priester eine Volksmission, und er sprach über das verlorene Paradies. Nachher strömten die Menschen – das war eine bessere Zeit als heute, nicht wahr? – nachher strömten die Menschen zum Beichtstuhl, und auch ein alter Herr, auf einen Stock gestützt, näherte sich dem Beichtstuhl, schien dort zusammenzusinken; der Priester wollte ihm zu Hilfe eilen, aber es war nicht notwendig, der Greis stammelte nur: „Vater, das Paradies!“ Und dieses Paradies fand er, nachdem er im Beichtstuhl eine gute Beichte abgelegt hatte. Vater, das Paradies!

Amen.

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