Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Ostern
18. Mai 2025

Warum musste das Opfer des Christus vollbracht werden?

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Adam, der Urmensch, der Stammvater des Menschengeschlechtes, wurde in eine übernatürliche Seinsordnung erhoben, in eine Gottesnähe, die ungeschuldete göttliche Gnade ist. Gott legte den Adel der Gotteskindschaft in seine Seele. Als vollkommener Mensch, als der schlechthin schöne und glückliche Mensch, als Kind Gottes trat er in diese Welt ein. Doch er hat seine Würde und seinen Reichtum nicht bewahrt. Er übertrat Gottes Gebot und fiel in die Strafe, die Gott angedroht hatte. Durch Adams Fall wurde dieses hohe Menschentum für immer zerstört und ein anderes Menschentum, das Menschentum der Begierlichkeit, der Sünde und des Todes, heraufgeführt. Es ist der Mensch von heute. Die Natur, in der er geboren wird, ist die gefallene, gottentfremdete Natur des Stammvaters. Ein geheimer widergöttlicher Instinkt ist in ihr, heimlicher Sklaventrotz, der Gott als Last empfindet und sich gegen ihn wehrt. Wenn Menschen dieser verderbten Natur sich ergeben, wird die Naturschuld zur persönlichen Schuld. Adams Urschuld wuchert als Erbschuld in der Menschheit fort. Darum steht die gefallene Natur gleich ihrem gefallenen Stammvater unter dem Zorn und Fluch Gottes. Das ist seine Antwort: „Du sollst des Todes sterben.“ Der gefallene Mensch hat Gott verloren. Damit büßte er die außernatürlichen Vorzüge ein. Es erwacht das ungeordnete Begehren, der blinde alogische Trieb. Es stirbt der Logos unter der gierigen Umarmung des Eros. Die Erde gebiert Krankheit und Schmerzen. Der Tod fällt über den Menschen. Der Mensch verfällt dem Gericht und der ewigen Strafe. Mit hartem Griffel stellt Paulus fest, wie im gefallenen Menschen Fleisch, Sünde, Gesetz und Tod ihr trauriges Werk vollbringen. Wie keiner weiß er aus eigener Erfahrung, was es um diese Unerlöstheit ist. „O, ich unglücklicher Mensch. Wer wird mich befreien vom Leibe dieses Todes“ (Röm 7,24). Ein Furchtbares ist die Erbschuld und ihre Folgen. Gott erschuf uns in natürlicher und übernatürlicher Schicksalsverbundenheit mit dem Stammvater. Diese Urtatsache der solidarischen Verbundenheit des Menschengeschlechtes ist die Voraussetzung unserer Erlösung.

Die gefallene menschliche Natur ist in sich selbst gebrochen und krank, und darum kann sie sich nicht selbst erlösen. Sie leidet unter einer unmessbaren Schuld, unter ihrer Schuld gegen Gott. Das ist ihre Krankheit: der beleidigte, zürnende, strafende Gott. Und darum steht ihre Erlösung bei Gott allein, bei seinem barmherzigen Vergebungswort. Wir wissen, dass Gott dieses Wort sprach. Er sprach es durch seinen menschgewordenen Sohn. Christus erschien, um die gefallene Menschheit aus ihrer Hörigkeit von Adams Schuld zu befreien und sie als neue Einheit und Gemeinschaft sich selbst einzugliedern.

Gott konnte die Erlösung, d.h. die Befreiung des Menschen von der Knechtschaft der Sünde, die Vernichtung der Gottesferne, die Heimholung aus der Verlorenheit auf mannigfache Weise bewirken. Nur eines musste immer geschehen: die Umwandlung des menschlichen Sinnes in Reue und Liebe, die Wegwendung des menschlichen Herzens von der Sünde und seine Hinwendung zu Gott. Von allen Möglichkeiten wählte Gott die höchste: die Erlösung durch den menschgewordenen Gottessohn. Gott ließ das Böse zu, weil er die Menschwerdung des Logos von vornherein beschlossen hatte und in ihr die Möglichkeit einer überreichen Erlösung sah. Warum in Christus? Warum im Menschgewordenen und Gekreuzigten? Warum vergibt uns Gott nicht aus dem Reichtum seiner Barmherzigkeit durch ein bloßes Wort seiner schöpferischen Allmacht? Es ist die Frage nach dem Sinn unserer Erlösung durch Christus. Warum erlöst uns Gott auf diesem Wege? Gott forderte Genugtuung. Er ließ die Wiederbegnadigung des Menschen von ihr abhängig sein. Der Mensch sollte der Schwere der Sünde, des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Heiligkeit und Unheiligkeit innewerden. Indem Gott seine Liebe gerade im Kreuzestod Christi offenbart, enthüllt er sie in der Weise der Gerechtigkeit. Die Liebe Gottes ist in innigem Bunde mit der Gerechtigkeit wirksam. Sie sieht nicht in gutmütigem Gewährenlassen über die Sünde hinweg. Das würde dem Menschen nichts helfen. Sein Herz würde das Böse nicht ausstoßen und das Gute nicht in sich hineinnehmen. Es würde keine Umwandlung geschehen. Nein, Gott schenkt dem Menschen nichts von der Schwere der Sühne und Genugtuung. Aber darin erweist sich seine Güte, dass er sie selbst in der menschlichen Natur vollzieht. An dem Grauen dieses Sterbens wird der Mensch der furchtbaren Abgründe inne, welche die Sünde aufreißt. Zugleich wird er von der Verzweiflung, in die ihn der Anblick der Unheimlichkeit der Sünde stoßen könnte, zurückgerufen zu Vertrauen und Liebe, zu Mut und Tapferkeit, zu Gott, der selbst daran geht, die Schrecken der Sünde zu überwinden. Wenn Gott selbst in die menschliche Geschichte einging, um das Grauen der Sünde zu tragen und abzutun, dann kann keine Macht des Bösen, mag sie sich in der Kirchen- oder Weltgeschichte, im eigenen oder fremden Leben in den wüstesten Formen austoben, das Vertrauen auf den Sieg des Guten töten. Die im gekreuzigten Gottessohn verwirklichte Liebe Gottes kann der Gläubige nicht mehr übersehen. Im Opfertod des vielgeliebten Sohnes, in seinem Gehorsam und in seiner Entsagung bis zum Kreuze, in seinem sterbenden Verstummen, in seinem tragenden Schweigen, in seinem vergossenen Blut verströmt sich Gottes Güte so offenkundig, dass jeder, der guten Willens ist, sie erfährt. Denn deutlicher und glaubhafter gibt sie sich nirgends mehr kund. Das Größte und Höchste ist die geopferte Liebe. Darüber hinaus gibt es keine.

Aber ein bloßer Mensch hätte Gott nicht genugtun können. Eine menschliche Hingabe, eine menschliche sühnende Tat stünde immer diesseits jener unendlichen Kluft, welche die Schuld des Menschen gegen Gott aufgerissen hatte. Dann bliebe der düstere Tatbestand einer ungesühnten Gottesschuld in alle Ewigkeit bestehen. So verwehrt Gottes Gerechtigkeit jede Möglichkeit, dass ein bloßer Mensch vollwertige Genugtuung leiste. Es ist die Majestät und der Schrecken der Gerechtigkeit Gottes, der über dem Weg der Erlösung liegt. Seine erlösende Tat umschließt nicht nur die Vergebung der Schuld und die schöpferische Erneuerung des Menschen, sondern ebenso die volle Wiedergutmachung und Sühne, die vollgültige Leistung jener Genugtuungspflicht, mit der der sündige Mensch sein Verhältnis zu Gott belastet hatte. Es ist Gottes Gerechtigkeit, die eine unendliche Sühne heischt. Es ist seine Liebe, die eine unendliche Sühne gibt. Gerechtigkeit und Liebe begegnen sich in der Menschwerdung des Sohnes Gottes. So sehr ist Gott der ganz andere, dass er seine Herrlichkeit wahrt, indem er sich ihrer entäußert; dass er seine Ehre schützt, indem er sie dahingibt; dass er das Leben für uns erwirbt, indem er für uns stirbt. So ist er der geborene Mittler zwischen Gott und Welt. Alle Schuldhaft der Menschen kann er auf sich nehmen. Und er kann sie in unendlicher Vollkommenheit überwinden und tilgen, weil er Gott ist. Im Geheimnis der Menschwerdung wurde demnach unsere Erlösung grundgelegt und angebahnt.

Und wie wurde die Genugtuung vollzogen? Als der neue Adam macht sich der Erlöser alles Leid von innen her in seinem bittersten Gehalt zu eigen, um es in freiem Leidensgehorsam dem himmlischen Vater als unendliches Lob-, Dank- und Sühnopfer für die Menschheit darzubringen.

Es ist die menschliche Natur allein, in der und durch die alles Erlöserleiden geschieht. Die Gottverlassenheit der gefallenen Menschennatur war auf ihn gelegt. Von Judas, dem Verräter, bis zur kreischenden, grölenden Volksmenge und bis zum lästernden Schächer ist das Menschliche, Allzumenschliche aus seinen dunkelsten Kellern hervorgeholt und entfesselt. Jesus stirbt wie ein Verbrecher, und noch über sein Grab schlagen die Wellen des Hasses, der Verleumdung und der Niedertracht. Die Eigenart des Opfers Jesu liegt darin, dass Jesus ganz und gar auf sich allein zurückgestoßen ist; dass ihm des Vaters Hilfe von innen wie von außen her versagt wird; dass er den entsetzlichen Straffolgen des erbsündlichen Frevels sowohl in seinen inneren Bedrängnissen wie in seiner äußeren Leidensgeschichte ausgeliefert ist. Ein Neues ist hier erschienen: das Opfer eines Menschen, das ein Opfer ohne Makel und Fehl ist, aufsteigend aus dem zerbrechlichen Grund menschlicher Bedingtheit und doch hinwiederum alle Bedingtheit überwindend, ein Ja zu Gott, so volltönend und absolut, dass alles Nein der Menschen darin verschlungen ist. Das Opfer aller Opfer ist hier, der höchste, geistigste, freieste Akt der Anbetung und Sühne, unvergleichlich in seinem Gehalt und Eigenwert, dass er der reinste, vollkommenste Preis der göttlichen Herrlichkeit bliebe, auch wenn die ganze Welt in Unglauben und Sünde verharrte. So aber wurde dieses Opfer die erlösende Mitte alles gotterfüllten Seins und Geschehens; es wurde die Verdienstursache unserer Erlösung. Indem Jesus die Tat seines Leidensgehorsams mit höchster sittlicher Freiheit um der Menschen willen vollzog, leistete er im Kleid des Menschlichen jene Genugtuung, welche die Menschheit ihrem Schöpfer schuldete. Und weil es der Sohn Gottes war, der dieses Leiden um der Menschen willen auf sich nahm, darum eignet diesem Leiden ein unendlicher Sühnewert, ein Wert, den keine Schuld der Menschen je vermindern oder zerstören kann. Und darum kommt es uns allen zugute. Wie zu Beginn der Menschheitsgeschichte die gesamte Menschheit durch Adams Schuld dem Bann der Sünde verfiel, so entsprach es der göttlichen Weisheit und Liebe, dass in dem neuen Menschen (welcher Christus ist) zugleich die ganze erlöste Menschheit gesetzt ward; dass er das Haupt ist und wir sein Leib sind; dass sich darum Christentum nicht anders denn als Gemeinschaft der Erlösten, als Kirche, bezeugen kann. So flammt an demselben Kreuz, an dem sich die unheimlichen Schauer der göttlichen Gerechtigkeit brechen, zugleich Gottes unendliche Liebe und Barmherzigkeit empor. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,18). „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seines eigenen Sohnes nicht schonte, sondern ihn für uns dahingegeben hat“ (Röm 8,32). Wir stehen vor einer Offenbarung der göttlichen Liebe, derart überschwänglich, unbegreiflich und über alles Maß, dass vor dieser Torheit Gottes alle Menschenweisheit zerrinnt und dass nur mehr großes Schweigen um sie ist.

Amen.

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