Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
10. Juli 2022

Gottes Unsichtbarkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Gott Israels ist ein verborgener Gott, heißt es bei dem Propheten Isaias. Gott wohnt „in unzugänglichem Licht“, schreibt der Apostel Paulus an seinen Schüler Timotheus. Die Juden wie die Christen bekennen sich zu einem Gott, der nicht gesehen werden kann. Für manche Menschen ist die Unsichtbarkeit Gottes ein Problem. Ein Kind fragte: Warum soll ich an jemanden glauben, den ich nicht sehen kann? In der sächsischen Industriestadt Riesa sagte einmal ein Mann zu mir: „Wenn doch Jesus einmal herauskäme aus dem Tabernakel!“ Er kommt nicht heraus. Das Alte Testament verkündet die Transzendenz Gottes. Sie besagt seine Immaterialität, seine Überräumlichkeit, seine Übersinnlichkeit, seine Überweltlichkeit, die der Erfahrung nicht zugänglich ist. Die Transzendenz schließt ein leibliches Sehen Gottes aus und fordert einen bildlosen Kult: „Du sollst dir kein Bild von Gott machen!“ Im Bild wird Jahwes Freiheit als eines „verfügbaren Machtträgers“ angetastet. Darum ist die (versuchte) Abbildung Gottes verboten. Moses wurde von Gott in Pflicht genommen. Er sollte in seinem Auftrag das Volk Israel aus dem Lande Ägypten führen. Moses bat Gott, ihn seine Herrlichkeit sehen zu lassen. Gott erklärte es für unmöglich. „Du kannst mein Angesicht nicht schauen. Kein Mensch sieht mich und bleibt am Leben.“ Moses durfte nur die „Rückseite“ Gottes sehen, aber nicht sein Angesicht schauen (Ex 33,18-23). Man sieht aus diesem Erlebnis: Gott zeigt seine Wirklichkeit, aber vergibt nicht seine Unsichtbarkeit. Obwohl Gott wesenhaft unsichtbar ist, sprachen die frommen Israeliten vom „Sehen des Angesichts Gottes“, was zum Beispiel beim Besuch des Tempels geschah. Damit ist die Erfahrung göttlicher Nähe gemeint, die aber seine Unsichtbarkeit nicht gefährdet. Nirgends im Alten Testament, weder bei Theophanien noch bei prophetischen Erscheinungen (Is 6, Ez 1), wird Gott sichtbar.

Dem Judentum stand die Unsichtbarkeit Gottes im irdischen Bereich fest. Für die Rabbinen ist Ex 33,20 („Kein Mensch sieht mich und bleibt am Leben“) die Grundlage für die Überzeugung, dass kein Mensch in diesem Äon Gott sehen kann. Gott heißt öfter „der, der sieht und nicht gesehen wird“. Als das Judentum der griechischen Philosophie begegnete, dachte es weiter über die Unsichtbarkeit Gottes nach. Denn dort wurde eine natürliche Gotteserkenntnis gelehrt, die Unsichtbarkeit Gottes aber festgehalten. Der „ungesehene Gott“ wird zu einer Bezeichnung der jüdisch-hellenistischen Gotteslehre, besonders häufig bei Philon.

Das Neue Testament lehrt die Unsichtbarkeit Gottes wie das Alte Testament. Der Brief an die Kolosser stellt Christus als das Bild Gottes, „des Unsichtbaren“, vor, (Kol 1,15). Der Apostel Petrus spricht die Empfänger seines ersten Briefes an: „Ihn – Jesus Christus – liebt ihr, obschon ihr ihn nicht gesehen habt, an ihn glaubt ihr, ohne ihn zu schauen“ (1 Petr 1,8). Der Brief an die Hebräer bemerkt von Moses, er habe im Glauben Ägypten verlassen, den Zorn des Königs nicht gefürchtet; „denn er hielt sich an den Unsichtbaren, als sähe er ihn“ (Hebr 11,27). Der erste Brief an Timotheus sagt Gottes Unsichtbarkeit in einer Lobpreisung aus: „Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit“ (1 Tim 1,17). Diese Aussage wird in demselben Brief noch entfaltet und Gott gepriesen als „der selige und alleinige Machthaber, der König der Könige und der Herr der Herren, er, der allein Unsterblichkeit besitzt und in unzugänglichem Lichte wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch zu sehen vermag“ (1 Tim 6,16).

Das Neue der urchristlichen Botschaft besteht darin, dass Christus das (wesensgleiche) „Bild“ des unsichtbaren Gottes ist und als Inkarnierter in seiner Person den Vater „sehen“ lässt. Der Apostel Philippus sagte zu Jesus; „Herr, zeige uns den Vater.“ Jesus entgegnete: „So lange Zeit (schon) bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). An einer anderen Stelle sagte Jesus: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45). Unerachtet der Sichtbarkeit des Logos hält Johannes an der Unsichtbarkeit Gottes fest: Im Prolog seines Evangeliums heißt es: „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der an der Brust des Vaters ruht, der hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18). Der erste Johannesbrief wiederholt: „Niemand hat Gott je gesehen“ (1 Joh 4,12). „Nicht dass den Vater jemand gesehen hätte; nur der von Gott Stammende hat den Vater gesehen“ (Joh 6,46).

Nicht im Widerspruch zur Unsichtbarkeit Gottes steht seine Erkennbarkeit. Die Kirche hat stets daran festgehalten: Gott kann mittels der geschaffenen Dinge mit dem natürlichen Licht der Vernunft mit Sicherheit erkannt werden. Die natürliche Erkennbarkeit Gottes beschränkt sich auf das Erkennen Gottes als des Urgrundes und jener Bestimmungen, ohne die er sich nicht als Urgrund denken lässt. Die Erkenntnis Gottes ist jedenfalls grundsätzlich möglich. Das natürliche Erkennen verschafft uns Gewissheit über die Existenz und die Schöpfertätigkeit Gottes. So lehrt das alttestamentliche Buch der Weisheit: „Aus der Größe und der Schönheit der Geschöpfe wird durch Vergleiche ihr Schöpfer erschlossen“ (Sap 13,5). Die Offenbarung liefert uns weitere Kenntnisse über Gott, auf die wir ohne sie nie gekommen wären. Sie erschließt uns zu ihrem Teil Gottes Wesen und Wirken. Doch ist einschränkend zu sagen: Die Wirklichkeit des über alles Maß Vollkommenen, Unendlichen, Unfassbaren, das Dasein und Wesen Gottes vermögen wir nicht anders als durch Begriffe festzuhalten, die unserer Erfahrungswelt entlehnt sind. Niemand hat Gott je gesehen. Wir haben keine unmittelbare Wesensschau Gottes. Wir können deshalb Gott nur mit Hilfe fremder Erkenntnisbilder festhalten und beschreiben. D.h. durch Begriffe, die ursprünglich nur Geschöpfliches besagen und die erst von ihrer geschöpflichen Unvollkommenheit gereinigt und nach ihrem positiven Gehalt ins Unendliche gesteigert werden müssen, um das göttliche Wesen unserem natürlichen Erkennen fassbar zu machen. Was wir nur immer von Gott aussagen, ist darum nicht eine erschöpfende Aussage. Es enthält Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit und hat insofern lediglich eine Art Richtungssinn. Nur „vergleichungsweise“ können wir von Gott reden (Sap 13,5). Wir sind uns dabei bewusst, dass alle unsere Vorstellungen unendlich weit hinter dem Wesen Gottes zurückbleiben. Alle unsere Gottesnamen sind nur „Schüchternheiten“, die sich gern an Gott anschmiegen möchten und doch nur aus weiter Ferne ihn grüßen können.

Wie lässt sich die Unsichtbarkeit Gottes begründen? Warum ist Gott unsichtbar? Die Unsichtbarkeit Gottes hat ihren inneren Grund nicht in der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, sondern darin, dass Gott kein dinglich-erfassbarer Teil dieser Welt ist. Gott ist eine jenseitige Wirklichkeit. Er ist der total Andere. Das göttliche Wesen ist unendlich. Die Unendlichkeit Gottes besagt die grenzenlose Fülle des göttlichen Seins, die höchste, in keine endliche Kategorie eingehende Vollkommenheit Gottes, die wesentlich über allen Seinsstufen des geschaffenen Seins steht. Der Unendlichkeit des göttlichen Wesens entspricht die Unendlichkeit seiner Erkennbarkeit. Zum erschöpfenden Begreifen des Unendlichen ist eine unendliche Erkenntnisschaft erforderlich. Über eine solche verfügt kein Geschöpf. Folglich können nur im unendlichen, absoluten Wesen Erkennbarkeit und Erkennen real identisch zusammenfallen. Kein geschaffener Geist kann Gott begreifen. Gott kann nur sich selbst begreifen. Ein vom Menschen begriffener Gott wäre kein Gott; er wäre seinesgleichen. Die Unbegreifbarkeit Gottes ist unaufhebbar. Selbst nach erfolgter übernatürlicher Offenbarung bleibt Gott nach christlichem Verständnis unbegreiflich. Auch in der ewigen Anschauung ist Gott kein adäquater und deshalb kein direkter Erkenntnisgegenstand des Menschen.

Die Unsichtbarkeit Gottes teilt sich auch seinem Wirken mit; es ist weder wägbar noch messbar noch zählbar. Dies gilt in erster Linie für die Gnade. Was ist Gnade? Die Gnade ist jede übernatürliche Gabe, die Gott einem vernünftigen Geschöpf aus ungeschuldetem Wohlwollen zur Erlangung des ewigen Heils verleiht. Die Gnade ist eine geschaffene, übernatürliche Wirklichkeit, die der Seele von Gott eingegossen wird und in der Weise einer Seinsbeschaffenheit (oder Qualität) ihr bleibend anhaftet. Sie ist eine Teilnahme an der göttlichen Natur. Es gibt Menschen, die an der Nichterfahrbarkeit der Gnade leiden. Sie möchten die Gnade, die Gott den Menschen schenkt, spüren, fühlen, empfinden, erfahren. Sie meinen, das Kommen der Gnade müsse wie das Einsickern oder Einträufeln einer Flüssigkeit in den Leib spürbar sein. Beim Empfang der Sakramente der Taufe und der Firmung ersehnen sie eine bemerkbare, wahrnehmbare Einwirkung Gottes auf ihrer Seele. Von der Aufnahme des eucharistischen Herrn erwarten sie spürbare Freude, Erhebung und Stärkung. Diese Ansichten oder Wünsche sind unhaltbar und unerfüllbar. Das Übernatürliche ist übersinnlich und unerfahrbar. Es kann niemals als solches in unser Bewusstsein eintreten, sonst wäre es nicht übernatürlich. Die Einwohnung des Heiligen Geistes, die heiligmachende Gnade, die das Prinzip der Übernatur in uns ist, kann man nicht erleben oder fühlen oder erfahren. Man kann nicht spüren, ob man die Gnade hat oder nicht hat. Es wäre ungesund, wenn man es erfahren wollte, oder wenn man Schlüsse daraus zöge, wenn man es nicht erfährt. „Ihn (Gott), den Künstler, wird man nicht gewahr, bescheiden verhüllt er sich in ewige Gesetze“ (Don Carlos 3,10). Der Zustand des Lebens in der heiligmachenden Gnade lässt sich nicht konstatieren, wie man am Thermometer die Wärme ablesen kann. Das Innewerden Gottes kann nicht den schwergewichtigen, groben und handgreiflichen Charakter der sinnlichen Erfahrung besitzen. Es gibt kein erlebendes Erfassen der göttlichen Gnade selbst, sondern lediglich den Abdruck ihrer Wirkungen. Diese Wirkungen verweisen als Zeichen auf das Übernatürliche. Ein in der Gnade lebender Mensch verhält sich anders als ein Mensch, dem die Gnade fehlt.

Es lässt sich zeigen, dass Gott und das Übernatürliche unsichtbar, nicht wahrnehmbar sein und bleiben muss. Was erfahrbar ist, das kann untersucht, gemessen und gezählt werden. Wenn Gott sichtbar, greifbar, berechenbar wäre, wäre er ein Gegenstand der geschöpflichen Welt und nicht deren Schöpfer. Eine dinghafte, sinnenfällige, handgreifliche Wirklichkeit kann nicht Gott sein. Es fehlt ihr die Unendlichkeit. Dass Gott nicht messbar ist, ist eine seiner wesentlichsten Eigenschaften. Es kann kein bemächtigendes Begreifen Gottes geben. Nur so bleibt Gott auch in der Erkenntnis (des Menschen) Gott. Wenn die Unendlichkeit und Vollkommenheit Gottes sich zeigen würde, könnte kein menschliches Augen diesen Anblick ertragen, ohne geblendet zu werden. Die Augen des Menschen halten ja nicht einmal den Anblick der Sonne aus. Brigitta von Schweden meinte, dass, wenn ein Mensch Gott sehen würde, wie er wirklich ist, seine Körperfunktionen wegen der Freude seiner Seele stillstehen würden. Die Unsichtbarkeit verbürgt die Unverfügbarkeit Gottes und der göttlichen Dinge. Ein Gott, der sichtbar ist, wäre in die Gewalt der Menschen gegeben. Er wäre nicht mehr der transzendente und souveräne Herr der Schöpfung, sondern deren Bestandteil; das heißt: Er hätte aufgehört, Gott zu sein. Wenn Gott sichtbar wäre, dann wäre er angreifbar. Denken Sie an die zahlreichen Feinde Gottes. Sie würden sich auf einen Gott, den sie erreichen können, stürzen und ihn umzubringen versuchen; einmal ist es ihnen ja schon gelungen. Wie es einem Gott ergeht, der den Menschen sichtbar wird, lässt sich an dem Schicksal Jesu Christi ablesen. Ein begriffener, ein durchschauter Gott verlöre seine Göttlichkeit. Die Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung ist auch Ausdruck der barmherzigen und heilvollen Vorsicht Gottes. Er hält sich, indem er sich seinen Geschöpfen zuwendet, zugleich mit der Übermacht des Glanzes seiner Göttlichkeit zurück, damit sie frei und im Frieden mit ihm in dieser Welt leben können. Gott hat die Menschen aus Liebe geschaffen und erwartet von ihnen Liebe. Aber er wollte Liebe von Wesen, die intelligent und in ihrer Wahl frei sind; sie sollen ihren Schöpfer ohne äußeren Zwang verherrlichen. Nur wenn Gott der Verborgene bleibt, kann er vom Menschen aus freiem Willen geliebt werden.

Lassen Sie mich das Ergebnis unserer Überlegungen kurz zusammenfassen. Die Unsichtbarkeit Gottes ist kein Mangel, sondern ein Wesensmerkmal seiner Gottheit. Sie ist notwendig gegeben mit seiner Geistigkeit und Unendlichkeit. Die Materie ist das Prinzip der Endlichkeit, der Beschränktheit. Gott aber ist immateriell. Gott kann nicht zum Gegenstand empirisch wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht werden. Er ist notwendigerweise außerhalb der Reichweite der empirischen Wissenschaften, weil er kein Materialklumpen und auch keine Energiequelle ist. Man kann ihn weder beobachten noch mit ihm herumexperimentieren. Die Naturwissenschaften sind beschränkt auf den Bereich jener Tatsachen, die man innerhalb der Natur beobachten, beschreiben, analysieren, vergleichen und systematisieren kann. Gott ist kein Bestandteil der Natur, sondern ihr Schöpfer. 1. Unsere Gotteserkenntnis ist eine bloße Spiegelerkenntnis. Eine solche Erkenntnis steht im Gegensatz zur Anschauungserkenntnis von Angesicht zu Angesicht. Die irdische Gotteserkenntnis ist eine abstraktive, mittelbare, inadäquate. 2. Unsere Gotteserkenntnis ist rätselhaft. Unser Verstand kann hienieden Gott nur nach Analogie der Geschöpfe denken. Alle Begriffe, mit denen wir Gott auffassen, stellen ihn nicht dar, wie er in sich ist, sondern nur nach Ähnlichkeit geschöpflicher Vollkommenheit. 3. Unsere Gotteserkenntnis ist lückenhaft, sie ist Stückwerk. Unser Gottesbegriff kann nie ein eigentlicher, sondern stets nur ein uneigentlicher (improprius, analogus) sein. Deswegen haftet ihm eine große Unvollkommenheit an. Der Münchener Kardinal Michael Faulhaber erkannte in der (von der Kirche gelehrten) Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit Gottes die Echtheit und Richtigkeit des katholischen Glaubens. Er erklärte einmal: „Ich würde eher an einer Glaubenslehre irrewerden, in der alles klar wie Wasser und durchsichtig wäre bis auf den Grund. Denn damit wäre bewiesen, dass ein solcher Glaube Menschengedanken enthielte, keine Gottesgedanken.“

Amen.

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