Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
3. April 2022

Unser Jesus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Bewusstsein Jesu hat sein Verhältnis zum himmlischen Vater die Hauptrolle gespielt. Wir wollen sehen, was Gott Vater von Jesus, seinem Sohn, den er zur Erde gesandt hat, erwartet hat, was Jesus geleistet hat, welches unser Verhältnis zu Jesus ist.

I. Was Gott Vater von Jesus, seinem Knecht, erwartet hat

Im Buch des Propheten Isaias findet sich ein Lied, das Gott selbst in den Mund gelegt wird (Is 42). Es ist eine der schönsten Weissagungen des Alten Testamentes. Ihr steht die Erfüllung auf der Stirn geschrieben. Es kann kein Zweifel bestehen, wer mit dem dort vorgestellten Knecht Gottes gemeint ist. „Seht da, mein Knecht, so spricht der Herr, ich stütze ihn. Er ist mein Auserwählter, auf dem meiner Seele Wohlgefallen liegt. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, und er wird das Reich meines Willens aufrichten über das Volk. Er wird nicht schreien, er wird seine Stimme nicht erheben, man wird ihn nicht auf den Gassen hören. Das gebeugte Rohr wird er nicht brechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen. Aber gerade so wird er die Wahrheit zur Erfüllung bringen. Er wird nicht müde werden und nicht zusammenbrechen, bis er die Wahrheit durchgeführt hat auf Erden, denn die Inseln harren seines Gesetzes. So spricht der Herr, der die Himmel erschafft, der die Erde grundlegt, der Atem gibt allem Volk auf der Erde und Lebensgeist allen, die auf ihr wandeln. So spricht er: Ich, Jahwe, habe dich berufen zur Aufrichtung der Gerechtigkeit. Ich habe dich bei der Hand genommen und gehalten und ich bestimme dich, dass du öffnest die Augen der Blinden, dass du Gefangene aus der Gefangenheit führst und ihnen sagest: Kommt hervor! und den Blinden: Tretet ans Licht! Aus dem Haus der Gefangenschaft sollen treten, die in Finsternis sitzen. So spreche ich, Jahwe ist mein Name.“ Das ist die Unterschrift des Herrn unter sein Lied. Es ist das Lied der göttlichen Freude, des göttlichen Triumphes. Es zeigt die Freude Gottes über ein Werk außer ihm. Dass er sich darüber freuen kann, ist nur dadurch begreiflich, dass dieser Knecht ihm selbst gehört, ihm persönlich eigen ist.

Sehen wir, was von diesem Knecht erwartet wird: Gott, dem Herrn, wird er das Reich der Wahrheit aufrichten. Er wird die Herrschaft des göttlichen Willens begründen, des Willens Gottes über alle seine geistigen Geschöpfe, über die Menschen, über das Volk der Erde. Dieser Wille Gottes wurde von Anfang an nicht vollkommen durchgeführt wegen der Schwäche und Sündhaftigkeit der Menschen. Ihr Fall und ihr Abfall hat die Erde in Anarchie gestürzt, in Unordnung, Lüge, Mühsal und Bedrängnis. Nun soll der Wille Gottes auf Erden von allen Menschen durchgeführt werden. Und das soll der Knecht Gottes leisten. Indem er den Willen Gottes aufrichtet, soll er die Menschen herausführen aus ihrer Unfreiheit, aus der Finsternis ihrer Herzen, aus ihrer inneren Enge und ihren inneren Nöten ans Licht, in die Freiheit, in die Ordnung, in die Schönheit, in das Leben. Wir sehen hier deutlich, worauf es Gott ankommt, wenn er einen Menschen zu seinem Knecht oder seiner Magd macht, wenn er einen Dienst von ihm oder ihr erwartet. Jeder Dienst, der Gott erwiesen wird, geht auf Geschöpfe. Jeder Gottesdienst ist auch Menschendienst, jede Anbetung Gottes ist eine Befreiung und Erlösung des Menschen.

So wird dieser Knecht ein schweres Amt haben. Er wird sich nicht selbst gehören dürfen, er wird nur für andere da sein. Wenn ein Mensch Menschen befreien, wenn ein Mensch Seelen erlösen, wenn ein Mensch die Kerker der Erde öffnen will, dann kann er sonst nichts mehr tun. Das ist so etwas so Großes und Schweres, etwas, was den Einsatz der ganzen Persönlichkeit verlangt; etwas, in dem man sich verströmen muss, wobei nichts mehr übrig bleibt, kein Gedanke der Seele, keine Faser des Leibes, kein Blutstropfen, der nicht in dieses Werk hineinströmt. Dieses Werk ist so groß und so schwer, dass da nichts gespart werden kann und da nur die großen verschwenderischen Menschen etwas erreichen werden. Und so wird es mit ihm, dem Gottesknecht, sein. Er wird nur dem Volk, den Menschen gehören und darum für sich selbst nichts verlangen und nichts erwarten. Und so wird es für ihn bezeichnend sein, dass er selbstlos sein wird. „Man wird seine Stimme nicht auf den Gassen hören, er wird nicht schreien.“ Dort, wo man streitet und um die Güter der Erde kämpft; dort, wo die Menschen mit großem Geschrei einander alles wegzunehmen suchen; wo der Wettkampf um das Geld und die Güter, um Mammon und Genuss tobt, da wird man seine Stimme nicht hören; da wird er sich nicht einmengen; er wird keinen Anteil begehren von dieser Erde. Aber gerade indem er für sich selbst nichts verlangt, geradeso wird er die Wahrheit und das Recht zur Erfüllung bringen. Weil er für sich nichts verlangt, wird er eine reiche Hand haben, die auch das geknickte Rohr nicht bricht; wird er ein sanftes und gütiges Wort haben, das auch den glimmenden Docht nicht auslöscht. Selbst etwas so Hoffnungsloses wie ein geknicktes Rohr und einen glimmenden Docht, das von den Menschen für immer aufgegeben wird, das wird er nicht aufgeben. Er wird auch das noch mit zarter Hand betreuen. Es gibt für ihn nichts, was er verachten, nichts, was er verstoßen würde. Er wird von sich selbst sagen: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben als Lösepreis für viele zu geben.“ Das ist das Geheimnis der schöpferischen Güte, der lebendigmachenden Güte, hinter der die Selbstlosigkeit steht. Solange der Mensch etwas für sich behält, solange man seine Stimme auf den Gassen hört, so lange hat er keine pflegerische Hand, kein schöpferisches Wort, kein verstehendes Herz. Er ist nicht ganz frei, kann also auch nicht freimachen. Der Knecht Gottes aber wird ein ganz Freier sein, ein vollkommen Freier, der die Kerker der Erde öffnen kann. Obwohl er eine so schwere Aufgabe hat, wird er nicht müde werden und zusammenbrechen, bis er es durchgeführt hat. Welch rührendes Wort, das Gott siebenhundert Jahre ausdrücklich vorherverkündet hat: Er wird nicht müde werden. Denn das ist die große Versuchung aller Heilande und Menschenerlöser: das Müdewerden, das Mutloswerden, das Hartwerden. Der Gottesknecht wird nicht müde werden, so wie alle anderen Knechte, wie die Propheten müde geworden sind. Dieser Knecht wird es nicht werden, bis er einmal sagen kann: Es ist vollbracht. Dann wird er sein Haupt neigen und schweigen – dann erst. Bis dahin „harren die Inseln seines Gesetzes“, er darf nicht zusammenbrechen. Das ist die Erwartung, die Gott an seinen Knecht geknüpft hat.

II. Was Jesus geleistet hat

Es gibt in der Weltgeschichte keine einzige Gestalt, auf die das Lied vom Gottesknecht passt, und alles, was man an Deutungen sucht, ist so gekünstelt und unnatürlich, dass es sich von selbst richtet. Es ist nur einer gekommen, auf den es passt: Jesus. Das Lied vom Gottesknecht erfüllt sich zunächst im Wesen Jesu. Er ist mit Gott hypostatisch verbunden. Das Menschentum in ihm, alles in ihm gehört persönlich Gott, dem Sohn Gottes, dem Wort Gottes (Logos), der zweiten Person in der Gottheit. Der Leib und die Seele dieses Menschen sind persönlich von Gott getragen. Etwas Einzigartiges, weil es sich so in keinem anderen Geschöpf wiederholt und wiederholen kann. Daraus folgt, dass jeder Gedanke dieser Seele um Gott kreisen muss, dass Gott in diesem Bewusstsein stehen muss wie ein einziges ungeheures Feuergewölbe. Die Seele Jesu ist ausgefüllt von Gott. Jesus ist erfüllt von dem Gedanken an den Vater; dieser ist die beherrschende Idee in ihm. „Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ „Es ist meine Speise und mein Trank, dass ich seinen Willen tue.“ Der Auftrag des Vaters ist der Trost seines Lebens, die lebendige Kraft, aus der er lebt.

Wie hat sich die Erfüllung dieses Auftrags konkret gestaltet? Man könnte vermuten, dass das Leben eines solchen Menschen ein Leben in Licht und Glanz, in Kraft und Schönheit sein müsste. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Wie Jesu Leben geworden ist, wird geschildert in dem zweiten Lied vom Gottesknecht beim Propheten Isaias (Is 53). „Seht da, meinen Knecht! Der handelt, wie es sich gehört. Er steigt empor wie ein Reis vor Gott, wie ein Wurzelspross, aber aus dürstendem Land. So verwelkend sieht er aus, so schwach und hinfällig. Es ist nicht Schönheit an ihm oder Zierde zu schauen. Sein Aussehen ist nicht so, dass wir Verlangen nach ihm trügen, dem Verachteten und Letzten der Menschen, dem Mann der Schmerzen, der vertraut ist mit Siechtum. Wie einen Gezeichneten, vor dem man so sein Antlitz verhüllt, so war er verachtet, wir haben unsere Augen von ihm abgewendet. Er aber hat unsere Leiden getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir hielten ihn für einen Aussätzigen, der von Gott geschlagen ist und niedergebeugt. Er aber ist verwundet unserer Missetaten wegen, zerschlagen wegen unserer Vergehen. Zu unserem Heil lag Strafe auf ihm, durch seine Striemen wurden wir geheilt. Wie Schafe irrten wir alle umher, jeder ging seinen eigenen Weg. Der Herr hat die Schuld von uns allen auf ihn gelegt. Er wurde misshandelt, doch gab er sich willig darein. Er tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird.“ Das ist die Erfüllung, das erschütternde Bild eines Menschenlebens, des letzten aller Menschen. Wenn wir das Leben Jesu daraufhin durchsehen, schauen wir die Erfüllung. Es begann schon in Dunkelheit. Er musste der Verheißung wegen stammen von einem Königsgeschlecht, vom Hause Davids. Aber Maria und Joseph haben nichts mehr gespürt vom Glanz der alten Krone und der königlichen Herrlichkeit, die einmal in der Familie war. Es war ein verarmtes und entthrontes Königsgeschlecht. Arm war seine Mutter, arm war sein Nährvater. Gleich die Stunde seiner Geburt hatte den entsprechenden Charakter: Er fand keinen Platz auf dieser Welt, keinen Platz. Er, der gekommen ist, die Kerker der Erde zu öffnen, er, der Raum schaffen will für die Gedrückten dieser Erde, er selbst hat keinen Platz. Und so wird es weitergehen jahrtausendelang: Es ist kein Platz für ihn. Für alle hat die Erde Raum, nur nicht für ihn, nicht für das Beste, für das Wesentliche, für seine Religion, für seine Ethik, für seine Innerlichkeit, für sein Werk. Es wird immer ein kümmerliches Leben sein, das er auf Erden führt.

Und er hatte doch nichts gespart, er hatte alles eingesetzt, seine Kraft, seine Zeit, seine Ruhe, sein Gebet, seine Wundermacht, sein Bitten und Flehen, sein Lieben und Drohen. Er hatte Tag und Nacht gewirkt, er hatte mit glühender Seele gewirkt, mit seiner hinreißenden Persönlichkeit, mit einer Kraft, die niemand mehr zur Verfügung steht. Und das war der Erfolg! Ist es möglich, dass ein Einsatz von so ungeheurer Kraft erfolglos bleibt, dass, nach außen hin, nichts dabei herauskommt? Und als er starb, im Zusammenbruch, am Ende, da starb er verlassen von allen, die je mit ihm in Berührung gekommen waren. So bleiben ihm nur die paar Jünger. Sie hat er unterwiesen für sich allein, indem er einsame Wege ging, fern vom Volk und von den Städten. Die Großen im Lande, die Partei des Besitzes, der Macht, der Intelligenz, sie haben zunächst überhaupt keine Notiz von ihm genommen, später haben sie ihn auf die Seite geschafft. So war sein Leben scheinbar erfolglos. Als er am Kreuze starb, waren es noch fünf Menschen, die es wagten, bei seinem Kreuze zu stehen, vier Frauen und ein Mann.

Es ist erschütternd, wenn man die Geschichte seines Prozesses und seiner Verurteilung liest, dass keine einzige Stimme für ihn abgeben wurde. Eine Frau hatte sich für ihn verwendet, die Gattin des Pilatus, doch wohl nur aus abergläubischer Furcht, an seiner Persönlichkeit lag ihr nichts. Aber die vielen, denen er Gutes getan, die er gelehrt und geheilt hatte: wo waren jetzt alle die Kranken, die Blinden, die Lahmen, die Aussätzigen? Wo waren die Tausende, die er in der Wüste gesättigt hatte, die ihn zum König machen wollten? Keiner hat seine Stimme für ihn erhoben, keine ging vor die Richter und sagte: „Wir treten für ihn ein, wir kennen ihn, wir bürgen für ihn.“ Niemand, niemand. Verlassen von dem Volk, verlassen von seinen Jüngern starb er. Bis auf Johannes sind sie davongelaufen. Einer hat ihn verraten, einer hat ihn verleugnet. Verlassen schien er selbst von seinem himmlischen Vater. Dies ist das Geheimnis, das Rätsel seines Lebens, das wir nach den großen Erwartungen, die Gott an ihn geknüpft hat, nicht verstehen können. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Was muss er geschaut haben, als er in die weite Welt, in die Jahrtausende sah? Finsternisse, Ärgernisse, Abfall, Schlechtigkeit in den Menschen, die er herausführen wollte aus ihrer Enge, die er befreien wollte, die er zu Kindern seines Vaters machen wollte. Da musste es ihm wirklich vorkommen wie ein einziger ungeheurer Zusammenbruch, wie ein großer Fehlschlag seines Lebens.

Und so starb er am Kreuze, gehasst von allen, die da herumstanden, außer den Fünf, mit einem blinden Hass gehasst. Das Volk weiß nicht, worum es sich handelt. Sie schreien mit, weil alle schreien, ohne jeden Sinn und Grund. Es ist ein höhnischer Hass. Sie verhöhnen ihn wegen seiner Jünger, seiner Lehre, seiner Wunder. Ein grausamer Hass. Sie verspotten ihn um seiner Liebe willen. Wenn ein Mensch es gut gemeint hat und man lacht ihn deshalb noch aus, dann ist das über die Maßen bitter. Es ist ein heuchlerischer Hass. Sie tun so, als ob sie die Sachwalter Gottes wären, als ob sie Gott in Schutz nehmen müssten. „Er hat Gott gelästert.“ Welch eine Ironie. Welch eine furchtbare Satire. „Er hat Gott gelästert.“ So starb er am Kreuze – den elendesten, schmerzlichsten, schrecklichsten Tod; einen furchtbaren Tod im physischen und moralischen Sinne. Und diesen Tod, ausgerechnet den musste er sterben. Das ist sein Leben, die Erfüllung. So heißt es Gott dienen, ein Knecht und eine Magd Gottes sein bis zum letzten Atemzug. Das ist der Sinn. So groß und furchtbar und geheimnisvoll kann Gott sein, dass er den, der ihm am nächsten steht, so belastet, so niederdrückt. Ja, das ist möglich; so kann Gott sein. So hat er es gewollt.

III. Jesus und wir

Sehen wir, was der Herr erreicht hat durch seine Lebensleistung, den wirklichen Erfolg. Zunächst den Erfolg vor Gott. Er ist geschildert beim Propheten Isaias (Is 53). „Der Herr wollte ihn zermalmen in Leid.“ Wahrhaftig, das ist ihm gelungen. Das Leid war des Vaters Wille, und indem er ihm in allem folgte, schenkte ihm der Vater sein Wohlgefallen. Es war nicht umsonst, dass er wiederholt in seinem Leben die himmlische Stimme vernahm: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.“ Der Vater liebte ihn. Dieses Wort hat Jesus den stärksten Trost bereitet. Er hat es in einer Stunde einmal verraten, gleichsam mit einer leisen, innigen Seligkeit; in leisem Selbstgespräch hat er es verraten, was ihn im Innersten bewegte und erquickte: „Der Vater liebt mich.“ Ich stehe ihm nahe, auch wenn er mir ein unerhört schweres Leben bestimmt hat. Er liebt mich doch. Und wenn der Vater mich auch mit dem Kreuz belädt und wenn er mich auch in meiner letzten Stunde verlässt, der Vater liebt mich doch. Das ist der Stern in seinem Innern, der nicht untergeht. Wir sehen, woran ein Mensch im Letzten sich hängen muss und kann, was die letzte Tragkraft hat, selbst in einem so zertrümmerten Leben, wie seines gewesen ist. Der Vater liebt mich doch. Und der Vater „gab ihm die vielen“, er gab ihm die Seelen, die unzählbaren. Er hat ihm sogar „alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“. Alles liegt in seiner Hand; für alle Zukunft, für alle Ewigkeit wird es so sein. Etwas wird liebenswürdig, da Jesus es liebt. Was Jesus will und unterstützt, wird geschehen. Was Jesus verachtet und verwirft, ist zum Untergang bestimmt. Es sind ihm die Seelen zugewiesen. Er wird die Menschen zu Gott führen können und müssen. Es gibt keinen anderen Weg zu Gott als den Weg durch ihn. Wen er an die Hand nimmt, der kommt zum Vater. „Der Wille des Herrn wird in seiner Hand liegen.“ Das heißt: Gott tritt ihm gleichsam seinen Willen ab. Und wenn er sagt: „Ich will das“, so wird er da bleiben. Wenn er einen Menschen mitbringt und sagt: „Vater, Vater, ich will, dass das dein Kind sei“, so wird das ein Kind Gottes sein. Wenn er einen Menschen vom Untergang retten will, wird er gerettet werden. Ihm ist alle Gewalt gegeben. Er ist der Weg; ohne ihn gibt es keinen Zugang zu Gott.

Daraus folgt nun auch, was er bei uns bewirkt hat in unseren Herzen und was wir ihm leisten müssen. Fürs erste: dankbare Bewunderung, dass er zu Gott gegangen ist, dass er den steilen Weg gegangen ist, dass er das schwere Leben auf sich genommen hat; dass er sich bereit erklärt hat, dem Vater als Opfer zu dienen, um unseretwillen, das Opfer der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu werden. Dankbare Bewunderung schulden wir ihm, obgleich sein Aussehen nicht so ist, dass unser Auge davon entzückt würde, dass es vielmehr ist wie das eines von Gott Geschlagenen. Es gibt in unseren Augen jetzt kein schöneres, ergreifenderes Bild mehr als das Bild des Gekreuzigten. Das ist das Bild des Todes, der Qual, es scheint ein absurdes Bild, aber es ist unser Gnadenbild, das Bild des Lebens, das Bild des Glückes, das Bild, das wir endlos küssen, das Bild des Gekreuzigten. Und wenn Isaias meint, man werde „seine Augen von ihm abwenden“, wollen wir es nicht tun. Unablässig wollen wir auf ihn schauen, dankbar und bewundernd; wollen kein Auge mehr von ihm wenden, von seinen Gliedern, von seinen Qualen, von seinen Wunden, von seiner Dornenkrone; wollen kein Auge mehr abwenden, vielmehr bewundernd und dankbar zu ihm aufschauen, weil er für uns zu Gott gegangen ist.

Fürs zweite: wollen wir demütig vertrauen, weil er uns zu Gott mitnimmt. Betrachten wir seine Stellung zum Vater: Es ist die des demütigen Vertrauens. Und es ist das Christentum in der kürzesten Formel, das Christentum, die Sache Christi selbst, seine Religion, die er uns vorgelebt hat. Soweit sie unsere Religion ist, ist sie nichts anderes als ein einziges Wort: „Nimm mich mit, mein Heiland!“ Mein Herr, mein Erlöser, nimm mich mit zum Vater! Nimm mich an die Hand, ich hänge mich an dich. Ich weiß sonst nichts von dir, ich gehe mit dir nach Gethsemane, ans Kreuz, ins Grab – aber nimm mich mit! Lass mich nicht zurück, nimm mich mit zum Vater! Mehr können wir eigentlich nicht tun. Es ist das Einzige, was uns bleibt, das Wirksamste, das Rettende, der Weg zu Gott ins Heiligtum mit ihm, der uns den Zutritt errungen hat durch sein Blut, sein Opfer, sein schweres Leben und Sterben. Wir dürfen mit ihm gehen und wir dürfen mit ihm stehen vor dem lebendigen, allheiligen, furchtbaren Gott. Wir dürfen dastehen ohne Angst und Zittern, wenn Jesus uns hält, wenn er seine Hand auf unser Haupt legt und zum Vater spricht: „Siehe, Vater, da sind sie, die an meinen Namen geglaubt und mich geliebt haben. Siehe, Vater, deine Kinder!“

Amen.

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