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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Sünde
27. März 2022

Fall und Aufstieg des Petrus

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir wollen noch einmal eine Sünde betrachten, die ein Mensch begangen hat. Judas wurde von seiner Sünde in die Tiefe gerissen, Petrus, auch er ein Apostel, kam durch seine Sünde in die Höhe. Sie half ihm zur Reife, zur vollkommenen Gestaltung seiner Persönlichkeit. Die Sünde war dazu Anlass, nicht Ursache. Denn jede Sünde ist Ursache einer Zerstörung. Aber der Fall kann Anlass zu einer großen Kraftentfaltung und zur Wirkung der besten Kräfte in einem Menschen werden. Wir betrachten den Fall, die seelischen Wurzeln dieses Falles und den Aufstieg, die Umkehr, den Bußweg.

I. Der Fall

Die Verleugnung Jesu durch Petrus ist auf den ersten Anblick ein sehr schwerer Fall, und man könnte fragen: Wenn ein Mensch so fallen kann, auf wen kann man sich noch verlassen? Denn wer war der Verleugner? Ein Apostel, und zwar der erste, den Jesus bevorzugte, dem er eine vorzügliche Stellung eingeräumt, den er besonders mit seiner Achtung ausgezeichnet, dem er hohe Vollmachten versprochen hatte. Schon als er zum ersten Mal zu Jesus gekommen war, geführt von Andreas, schaute ihn Jesus an und sagte: „Du bist Simon, Sohn des Jonas; du wirst Kephas (Fels) heißen.“ Auch später zeichnete er ihn aus. Wenn etwas Wichtiges zu erledigen war, musste es Petrus besorgen. Er hatte die Steuer zu bezahlen, er wurde zu Rate gezogen. Wenn Jesus allein sein wollte mit nur wenigen Jüngern, nahm Jesus Petrus mit zwei anderen mit. Auch hatte sich Petrus selbst schon Verdienste erworben. Er konnte mit Recht sagen: „Siehe, Herr, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.“ Wer kann das so ohne weiteres sagen? Dann war er vom himmlischen Vater besonders begnadet worden mit jener großen Stunde vor Cäsarea Philippi. Jesus fragte: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Die Apostel wiesen auf die unterschiedlichen Meinungen hin. Dann fragte Jesus die Apostel ganz ernst: „Für wen haltet ihr mich?“ Da ergriff Petrus das Wort und bekannte mit überströmender Begeisterung: „Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Da pries ihn Jesus: „Simon, das hat dir nicht Fleisch und Blut geoffenbart, sondern mein himmlischer Vater hat es dir gesagt.“ Petrus war erleuchtet, mit Einsicht von oben begnadet.

Man sollte meinen, wenn jemand Jesus so gefunden hat, der müsste feststehen wie kein anderer. Als einmal nach einer entscheidenden Rede des Meisters viele aus dem Jüngerkreis abfielen und Jesus die Apostel fragte: „Wollt auch ihr weggehen?“, da erklärte Petrus im Namen der übrigen: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir glauben und wissen, dass du der Heilige Gottes bist.“

Und nun, im Vorhof des Hohenpriesters, erklärt derselbe Petrus, diesen Mann nicht zu kennen. Man sollte es nicht glauben. „Ich kenne ihn gar nicht, was meinst du eigentlich?“ Da man in ihn drängt und ihm das Gegenteil nachweisen will, wird er böse, wütend, gebraucht Kraftausdrücke: „So wahr mir Gott helfe“ – „Ich will verdammt sein, wenn ich ihn kenne.“ Ja, Petrus, du kennst ihn nicht mehr und hast ihn einmal als Sohn des lebendigen Gottes bezeichnet, hast noch vor wenigen Stunden gesagt: „Ich werde mit dir auch in den Kerker gehen, ja, in den Tod gehe ich mit dir.“ Das war vielleicht vor ein, zwei Stunden; jetzt kennt er ihn nicht. Warum? Weil eine Magd sagt: „Du warst auch dabei.“ Vielleicht sagte sie es nur aus Wichtigtuerei; sie wollte ihm gar nichts Böses. Es konnte ihm auch gar nichts passieren; die Jünger wurden nicht belästigt. Aber Petrus hatte Angst. Er versagte vollkommen. Und da er einmal darin ist, findet er aus dem Lügen nicht mehr heraus. Das war der Mann, den Jesus zum „Felsen“ bestimmt hat: „Auf dich will ich meine Kirche bauen.“ Diese stolzesten Worte, die im Petersdom zu Rom in eine Wand geschrieben stehen, werden hier, wo sie zum ersten Mal bewährt werden sollten, gleichsam schon bloßgestellt. Da ist der Petrus, der Felsenmann, schon gefallen, da ist er umgesunken und hat versagt. Das eröffnet schöne Aussichten auf die Kirchengeschichte: Wenn das so weitergeht, wenn der Fels so wenig haltbar ist, wie soll die Kirche bestehen können? Wird sie nicht taumelnd ihren Weg gehen, von einem Abgrund in den anderen gerissen? Und das war am Abend der ersten heiligen Kommunion des Petrus, der ersten Kommunion, die ein Mensch empfangen hat, und Petrus hat sie empfangen. Bald nach die ersten Kommunion erklärt er: „Ich kenne ihn gar nicht.“ Das ist furchtbar. Wenn man das bedenkt, möchte man irre werden an den heiligsten Gelübden und an den größten Gnaden Gottes, wenn sie nicht mehr ausrichten können.

II. Die seelischen Wurzeln des Falles

Lässt sich das begreifen und erklären? Nun, wir haben ein ziemlich genaues Bild von Simon, dem Sohn des Jonas, dem armen Fischer vom See Genesareth. Er war ein Mensch der Arbeit, ein getreuer, biederer Mann. Aber auch einfache Seelen haben ihre schwachen Stellen. Petrus war ein Augenblicksmensch, ein Stimmungsmensch, ein Gefühlsmensch. Was ihm gerade in den Sinn kam, wurde gleich getan, ohne lange Überlegung. Jede Stimmung, die ihn packte, trug ihn hoch, wenn es eine steigende Welle war; aber wenn es eine fallende Welle war, trug sie ihn nieder. Ehe sein Wille überhaupt etwas zu sagen hatte, war er schon droben oder drunten, und dann begriff er selber nicht, wie er dahin kam. Die Impulsivität ist ein Talent, eine gute Eigenschaft; aber in einem Stimmungswesen lauert etwas Gefährliches.

Soweit die Evangelien es gestatten, sehen wir: Petrus war sich immer gleich. In einer Nacht auf dem See Genesareth, als die Jünger von den Wellen bedroht wurden und sie Jesus irgendwo auf dem Berge wussten, da sehen sie ihn auf einmal über das Wasser wandeln. Sie schreien vor Entsetzen auf, und da sie ihn erkennen, sind sie voll Glück und Freude. Und Petrus kann sich nicht mehr halten und fassen. „Herr“, sagt er, „lass mich zu dir kommen über das Wasser!“ Warum? Ein völlig sinnloses Begehren. Er kann doch warten, bis Jesus in das Boot steigt. Aber nein, er muss etwas Besonderes haben. Er ist so begeistert, dass er meint, über das Wasser gehen zu können. Und gleich verlangt er, auf das Wasser hinausgehen zu dürfen. Jesus kennt ihn schon, wie er ist, und lässt ihn anlaufen. Man muss die Menschen ihre Fehler machen lassen, damit sie Vernunft annehmen. So lässt er auch den Petrus kommen, vermutlich mit einem leisen Lächeln in seinen Zügen: „Komm nur!“ Petrus stürzt sich hinein, und wirklich: das Wasser trägt ihn, und er ist selig. Aber auf einmal sieht er eine große Woge; er erschaudert: Jetzt, jetzt wird er sinken. „Herr, Herr“, schreit er, „rette mich!“ Gleich wieder das Übermaß. So schlimm wird es nicht gewesen sein, von Ertrinken keine Rede. Aber nein: „ich gehe zugrunde!“ So groß vorher sein Mut, so groß jetzt sein Kleinmut; gar kein Vertrauen, gar keine Zuversicht mehr.

Und jetzt im Vorhof des Hohenpriesters. Noch vor wenigen Stunden hatte der Herr ihn gewarnt: „Petrus, in dieser Nacht wirst du mich dreimal verleugnen.“ Er hatte nichts darauf gegeben. „Nein, das geschieht nicht.“ Er widerspricht ganz kaltblütig. Es scheint ihm undenkbar. Ihm kann so etwas nicht passieren. Er schlägt jede Warnung in den Wind. Einem solchen Menschen kann man nichts sagen; er glaubt es einfach nicht. „Wenn die anderen dich verraten, ich nimmermehr!“ So gehoben ist er, dass er die anderen herabsetzt; sie kommen ihm spießbürgerlich, langweilig vor, sie sind schwunglose Menschen. Da bin ich schon ein anderer. „Ich werde dich nicht verleugnen!“ Ich gehe in den Kerker, in den Tod mit dir. So trägt ihn die Stimmung. Er schlägt alles aus, was man ihm sagt. Bei der Gefangennahme, wo das Verhaftungskommando und die Diener des Hohen Rates kommen, übermannt ihn wieder der Mut: „Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fängt er schon an zu schlagen. Warum fragt er dann? So wartet er die Antwort seines eigenen Verstandes nicht ab. Bevor sein Wille in Aktion treten kann, hat er unter dem Eindruck seines Gefühls schon etwas angerichtet.

Petrus ging dem Zug mit dem gefangengenommenen Jesus aus der Ferne nach und fand sich im Vorhof des Hohenpriesters ein. Er wollte sehen, wie es dem Meister ergehen würde. Die Anhänglichkeit an ihn trieb ihn wahrhaftig. Er konnte sich nicht trennen. So kommt er mit Hilfe von Bekannten in den Vorhof hinein. In diesem Augenblick verlässt ihn sein Mut. Da ist alles so fremd, wilde Gestalten mit Spießen und Schwertern, viele Leute gehen hin und her, führen gemeine Reden, es wird geflucht, gezecht, gespielt. Da verliert er seine Stimmung. Alles ist so fremd, furchterregend. Das Herz beginnt zu klopfen; es ist alles anders als vorher. Er gibt die Sache Jesu verloren. „Ich werde ihn nie wieder sehen. Er wird vielleicht hingerichtet. Alles ist aus, aus.“ Jetzt kommt gar noch die Magd daher und redet ihn an. Sein Mut sinkt ins Nichts zusammen. Jetzt ist er erst recht eingeschüchtert. Und wieder kommt eine. Sogar die Knechte reden auf ihn ein, lachen, puffen, machen seinen Dialekt nach. Da fängt er an zu fluchen und sich zu verwünschen, er wisse von nichts. Das Verhalten des Petrus war eine innere Überrumpelung. Nachher begriff er selbst nicht, wie das geschehen konnte. Die Schuld lag eigentlich nicht in dieser Nacht, sondern in vielen Stunden vorher. Vielleicht war ihm das schon oft gesagt worden: „Petrus, gib acht! Gib acht und handle nicht vorschnell. Lass erst Ruhe eintreten, und dann rede.“ Wie oft war ihm das wohl schon vorgehalten worden, aber es hatte ihn nicht tiefer gerührt. Es musste zu einem wirklichen Fall kommen, bis er das endlich begriff. Seine Sünde war nicht eine Sünde der Bosheit, sondern der Gefühlsschwäche und der Feigheit. Wir sehen, wie notwendig es ist, die Sünde in ihren psychologischen Wurzeln zu begreifen. Man muss wissen, wie es dazu gekommen ist. Wir sehen, wie vorsichtig man im Urteil über Menschen sein muss. Man fällt über einen Menschen her, obwohl man gar nichts vom Leben dieses Menschen und der Vorgeschichte der Tat weiß.

III. Der Aufstieg

Die Umkehr vollzieht sich in drei Stufen. Die erste Stufe kann Petrus selbst nicht ersteigen, die wird er von Jesus emporgeführt. Er würde den Anfang nicht finden. Gott weiß, wohin er käme, wenn er ihn sich selbst überließe. Wie er noch dasteht, wird Jesus vorbeigeführt. Als der Meister an seinem Jünger vorbeikommt, wendet er sein Haupt und schaut Petrus an. Da geht ihm ein Licht auf. Jetzt sieht er, was er getan hat. Was mag das für ein Blick gewesen sein! Verwunderung? Eine Frage? Ein Vorwurf? Jesus schaute den Petrus an, gütig, liebevoll wie immer, und das traf den Petrus wie ein Blitz. Nun gingen ihm die Augen auf; nun sah er, was er angerichtet hatte. Das hätte er schon vorher einsehen können, aber da sah er nichts, er entfernte sich nicht einmal aus der Gefahrenzone. Zuerst war die Magd da. Dann ging er hinaus, kam aber wieder herein. Warum blieb er nicht draußen? So kommt der zweite Zusammenstoß. Er sieht: Es ist überall gleich, ich falle immer auf. Und noch ein drittes Mal ist er da. Er kommt gar nicht auf den Gedanken fortzugehen. Ähnliches passiert zuweilen uns allen. Die anderen sehen unsere Gefahr, warnen uns, nur wir selbst sehen es nicht, wollen es nicht sehen. Da kann nur die erleuchtende Gnade helfen; sie muss die Blindheit von uns nehmen. Es muss eine innere Berührung der Seele erfolgen, die nur die Gnade bewirken kann. Sie hat Petrus zur Erkenntnis geführt. Die erste Stufe wurde er emporgeführt.

Die zweite Stufe ist schwerer; sie muss er selbst besteigen. Es trifft ihn die Erkenntnis, was er getan hat. Da geht er hinaus und weint bitterlich. Er hätte auch anders reagieren können. Er hätte sich versteifen können, er hätte die Wut bekommen können und zornig werden können: „Gut, ich bin hereingefallen, schlimm genug. Er braucht mich nicht anzusehen, er soll mich in Ruhe lassen, er braucht mir nichts zu sagen.“ So ein Trotz kann kommen, in dem man selbst die liebsten Hände zurückstößt. Man ärgert sich so über das Missgeschick, dass man gar nichts mehr annehmen will, und fällt gerade über die Menschen her, die es gut meinen. Petrus ist dieser Gefahr entgangen. Er macht keinen Versuch, seinen Fall zu entschuldigen, ihn zu erklären, sich gegen Vorwürfe zu schützen. Nein, er weint, wie nur ein Mann in tiefem Leid weinen kann. Es ist immer etwas Ungewöhnliches, wenn ein Mann weint, und gar einer aus dem einfachen Volk, eine nicht komplizierte Seele, die nicht gewohnt ist, viel von inneren Bewegungen zu äußern.

Die dritte Stufe ist die schwerste. Auf sie kommt alles an. Jetzt ist die Gefahr nahe, dass er sagt: „Nun ist es aus mit mir; jetzt kann ich nicht mehr Apostel sein; jetzt darf ich nicht mehr der Felsenmann sein, auf den die Kirche gebaut wird; ich darf Jesus nicht mehr unter die Augen treten, ich bin es nicht wert. Ich darf dem Meister nicht mehr nahe kommen.“ Das ist die große Gefahr; gerade die vornehmen Naturen, die feinen Herzen, die guten Seelen sind dieser Gefahr ausgesetzt. Petrus ist der Gefahr entgangen. Das ist das Wunder der Gnade und das unvergängliche Vorbild. Wir sehen es in seiner ferneren Lebensgeschichte. Er ging wieder zu den Aposteln, aber er ist still geworden. Als Maria Magdalena am Ostermorgen meldet: „Der Herr ist auferstanden“, da laufen die zwei ersten Apostel gleich zum Grabe, und das Wunder begibt sich, dass Petrus nicht der erste sein will. Er lässt Johannes vorangehen und folgt hinterdrein. Er ist stiller, nachdenklicher geworden. Wir können uns vorstellen, was er sich auf dem Wege zum Grabe gedacht hat. Er muss dahin, das fühlt er, er muss es tun; er will Jesus wieder unter die Augen kommen. Vielleicht hat er auf dem Weg mit sich gekämpft. „Soll ich es wagen? Wie werde ich dastehen? Werde ich vor Scham wagen, ihn anzuschauen?“ Es ist vielleicht der schwerste Weg, den er je gegangen ist. Wenn er in Rom auf den Hügel zum Kreuze geführt wird, wird das ein leichter Weg sein. Er eilt zum Grabe, er will den Herrn sehen, den er verleugnet hat. Er hat die Versuchung bestanden. Er kommt ans Grab, später als Johannes, der auf ihn gewartet hat. Petrus ist still geworden, aber er ist nicht zerbrochen.

Als dann Jesus zu den Jüngern am See Genesareth kam, an jenem wundervollen Morgen, da der reiche Fischfang geschah, war es Jesus selbst, der ihnen am Ufer das Frühmahl bereitete. Sie saßen da, ein bisschen still und scheu. Es war ihnen ganz ungewohnt, Jesus wieder unter sich zu sehen, wie es früher war, und doch war es nicht mehr wie früher. Als sie gegessen hatten, fragte Jesus plötzlich: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?“ Da wurde Petrus ganz still, bis er bescheiden, aber auch sachlich und wahrhaftig antwortete: „Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe.“ Jesus fragt ein zweites Mal: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Da wurde Petrus nachdenklich, und ein Schatten fiel auf seine empfängliche Seele: „Ja, Herr, ja, du weißt, dass ich dich liebe.“ Und noch einmal fragt Jesus, ein drittes Mal: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?“ Da wurde Petrus traurig; er erinnerte sich an seine Verleugnung und wusste: Jesus hat darauf angespielt. Er hat es noch nicht vergessen. Er will mich daran erinnern. Das war bitter. Es war seine Buße, dass er daran erinnert und so gefragt wurde. Damals, im Hofe des Hohenpriesters, war er nach „diesem Menschen“ gefragt worden. Damals sagte er: „Ich kenne ihn nicht.“ Jetzt wird er von Jesus selbst gefragt: „Liebst du mich?“ Wenn eine Spur von Selbstsucht in ihm gewesen wäre, eine Spur von falscher Scham, von Trotz, dann hätte er sich gekränkt zurückgezogen, hätte den Beleidigten gespielt und gesagt: „Ich weiß, du kannst es nicht vergessen, was ich dir angetan habe. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben. Du kannst mir kein Vertrauen mehr schenken, kannst mich nicht mehr achten. Du kannst nichts auf meine Worte geben. Ich weiß, was du mir sagen willst: ich sei nicht mehr zuverlässig – ich gehe von dannen.“ So hätte Petrus gedacht, wenn noch eine Spur von falschem Stolz in ihm gewesen wäre. Aber seine Seele war reif geworden, ganz selbstlos, ganz still, ganz echt demütig. Er wird traurig, er empfindet die Bedeutung der dreimaligen Frage, aber er antwortet: „Ja, Herr, du weißt es doch.“ Er sagt ja, er verweigert keine Antwort. Man kann ihn fragen, soviel man will. Er ist bereit, alles zu tragen. Er wird nicht mehr irre, er wird nicht mehr böse, nicht mehr trotzig. Jesus kann mit ihm tun, was er vorhat, und er antwortet so wahrhaftig, wie es ihm jetzt in der Seele ist. Früher hätte er gesagt: „Ja, Herr, das tue ich.“ Und er hätte es gegen jeden Zweifel Jesu aufrecht erhalten. Jetzt ist das nicht mehr der Fall. Jetzt stützt er sich nicht mehr auf seine Meinung und sein Wissen, sondern auf das Wissen Jesu: „Herr, du weißt alles.“ Die Wahrhaftigkeit zwingt ihn zu sagen: „Du weißt, dass ich dich liebe.“ Er überlässt jetzt anderen das Urteil über sich, dem allwissenden, dem allerbarmenden Gott. Wann werden wir so weit kommen? Wann werden wir endlich zu Gott sagen: „Herr, du weißt alles. Du weißt auch, was in mir ist. Du weißt es besser als ich selbst. Dir und deinem Urteil überlasse ich mich, Herr, du weißt alles.“ Das ist wahre Demut, das ist echte Liebe, das ist volle Wahrhaftigkeit.

So ist dieser Petrus nun reif geworden. Nun kann ihm Jesus seine Lämmer und seine Schafe übertragen, seine ganze Herde. Er ist jetzt sein rechter Vertrauensmann. Derselbe, der zusammengebrochen war, derselbe, der versagt hatte, jetzt ist er der rechte Jünger. Er ist endlich von sich selbst losgekommen; es ist nichts mehr da von Eigenliebe und Selbstsucht, von Einbildung und Hochmut, von Gekränktheit und Anspruchmachen. Jetzt ist er gefügig geworden, ein Werkzeug in der Hand Gottes. Jetzt verlangt er nichts mehr, außer zu dienen. Weil er keine Ansprüche mehr erhebt, ist er ein Dienstbereiter geworden, ein Mann, der eine Kirche regieren kann. Jeder Mensch, der für andere sorgen, andere betreuen, der andere erziehen, retten, der andere führen und leiten will, muss so ein Petrus werden, völlig anspruchslos, völlig selbstlos, völlig vertrauend auf das Allwissen und die Erbarmung Gottes.

Amen.

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