Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Februar 2022

Das Buch meines Lebens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In einem Buch von Gustav Frenssen wird von einer alten, blinden Frau erzählt. Wenn man sie trösten wollte über ihre blinde Einsamkeit, dann pflegte sie zu sagen: „Ich bin gar nicht einsam. Ich langweile mich nicht. Ich habe ja so viel erlebt. Mein Leben ist ein großes, starkes Buch. Es ist dunkel eingebunden. Ein Kreuz steht fast auf jedem Blatt. Auf der letzten Seite steht, so hoffe ich, eine Krone. In dem Buch muss ich so viel lesen.“ Unser ganzes Leben ist nicht bloß ein Lesen in einem Buch, sondern wir schreiben es, verfassen es. Wir sollen es mit Bedacht verfassen, wir müssen uns über den Inhalt dieses Buches klar sein. Was steht da schon drin? Und was soll noch hineingeschrieben werden? Das Buch hat einen dunklen Einband, sagte die alte, blinde Frau. Warum ist es denn so dunkel eingebunden? Weil es so schwere Dinge enthält: Dinge, die schwer zu verstehen, und Dinge, die schwer zu tragen sind.

I.

Schwer zu verstehen. Es sind so viele Rätsel in unserem Lebensbuch, die man hineingeschrieben hat und die wir selbst hineingeschrieben haben. Auf allen Blättern unseres Lebensbuches stehen Rätsel. Die Welt, sagt man, sei ein Rätsel. Man spricht von einem Welträtsel. Aber nicht die Welt, die Sterne, die Berge, die Jahreszeiten, die Blumen und die Tiere sind uns so sehr ein Rätsel wie die Menschen, die uns umgeben. Und sie werden es um so mehr, je mehr wir an Erfahrung zunehmen. Mit wachsender Lebenserfahrung werden uns auch die Menschen unverständlicher. Meistens sind diese Rätsel schmerzhaft, tun weh. Warum ist der Mensch so? So unverbindlich, so abweisend, so unzugänglich? Warum so erregbar, so reizbar, so aggressiv?

Ein Rätsel und ein Geheimnis, schwer zu verstehen, sind unsere eigenen Lebenswege. Wo ist der Mensch, dem in seiner Vergangenheit alles klar ist, der sich nicht an eine Verwirrung, eine Verworrenheit, eine Unklarheit erinnert, wo er sagen muss: „Ich verstehe nicht, wie das in mein Leben gekommen ist. Ich weiß nicht, was Gott dazu sagt.“ „Wenn ich meine Lebenswege überblicke, erscheinen mir Wege, die mir einst schnurgerade vorkamen, nun als Umwege. Wege, die ich einst frohlockend gegangen bin, sehe ich jetzt als Abwege oder Irrwege an.“ Wo war meine Überlegung, meine Selbstprüfung, mein Gewissen, als ich das tat und jenes unterließ? Warum habe ich damals nicht geschwiegen, sondern geredet und womöglich anderen geschadet, vielleicht Wunden geschlagen?

Dann meine Zukunft: Wenn ich da hinausschaue: Rätsel über Rätsel. Meist liegt die Zukunft vor uns wie ein schwarzer, dunkler Wald oder wie ein hohes Gebirge oder eine unzugängliche Schlucht oder wie ein kreuzgekrönter Hügel. Man fragt: Was wird noch werden? Was wird noch alles über mich kommen? Wie soll ich es bestehen, das Dunkel, das Bedrückende, das Zermürbende meines künftigen Lebens? Die Stunde des Todes? Den Tag des Gerichtes? „Weh, was werd' ich Armer sagen, wenn Gerechte selbst verzagen?“ Man sucht mit angeblich wissenschaftlichen Methoden zukünftige Entwicklungen abzuschätzen bzw. vorauszusagen (Prognose). Es gibt eine Zukunftsforschung. Die Zukunft kann indes immer nur in unterschiedlichen Graden der Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden. Wir schauen mit Sorge in die Zukunft. Was wird sich die neue Bundesregierung mit ihrem Programm der Modernisierungen alles an Eingriffen in die Sittlichkeit und das Recht erlauben? Was wird aus unserer Kirche werden? Wird der Zerfall weitergehen? Werden sich die deutschen Bischöfe bekehren? Oder werden wir einen Abfall erleben, der jenen im 16. Jahrhundert übertrifft?

Unsere eigene Seele wird uns manchmal zum Rätsel. Wir verstehen uns zuweilen selbst nicht. Es gibt Erlebnisse, die der Mensch selber nicht begreift. „Wie konnte ich das tun? Wie konnte ich in jener Stunde so sein? Warum bin ich dem Rat der Vernunft, der Erkenntnis des Verstandes, dem Impuls Gottes nicht gefolgt?“ Wer kann von sich sagen: Mein Leben ist völlig geradlinig verlaufen, ohne Fehl und ohne Makel? „Was ist das alles, was da aufsteht in meiner Seele an Kleinheit, an Armseligkeit, an Wildheit? Was regt sich da in meinem Unterbewusstsein? Was sind das für Abgründe, die ich schaudernd ahne?“

  Man kann verstehen, dass ein Mensch sich sehnt, es möchte ein Ende haben, er möchte bald am Schlussstein seines Lebens angelangt sein. Auch der Apostel Paulus hatte den Wunsch, aufgelöst zu werden und mit Christus zu sein, „denn das ist bei weitem das Bessere“ (Phil 1,23), schreibt er. „Ich weiß nicht, was mir noch bevorsteht. Was noch alles aus mir wird. Ob ich standhalten werde, wenn die Trübsal und die Versuchung über mich kommt. Ob nicht einmal der Taumel und der Schwindel mich ergreifen wird, so dass ich von der Höhe stürze. Was mag da noch auf mich warten, nicht nur an äußeren Schicksalen, sondern an inneren?“ Werde ich bestehen können? Im Bekenntnis? Im Martyrium?

Ein Geheimnis kann auch Gott werden, der Schöpfer, der Unendliche, der Vater, der Herr, der mich gemacht hat, der mich ruft, der einmal über mich entscheiden wird. Wo ist mein Gott, was denkt er über mich? Wo ist mein Gott, zu dem ich beten möchte, aber nicht beten kann? Der Gott, der Gebote gegeben hat und der mich richten wird? Wo ist mein Gott in meinen Dunkelheiten, in meinen Fährnissen, in meinen Abstürzen? Warum hat er mich nicht gezwungen auf seine Wege, auf seinen Willen?

II.

Dann stehen in unserem Lebensbuch auch Dinge, die schwer zu tragen sind, Aufgaben, Entscheidungen, Verantwortungen. In unserem Leben ist eine große Erwartung und eine ungeheure Verantwortung. Es gibt jemand, der auf mich wartet, der mich braucht, zu dem ich kommen muss. Eine Verantwortung liegt auf mir. Es werden Menschen an meinem Lebensweg stehen, und nur ich kann ihnen helfen, nur ich kann ihnen dienen, um ihretwillen bin ich gesandt. Jede Entscheidung, jede Tat eines Menschen ist von unermesslicher Tragweite, und wenn es nur ein Wort ist, das wir zu einem Mitmenschen sprechen. Darum ist mein Lebensbuch von dunklem Einband. Bin ich meiner Verantwortung gerecht geworden? Oder habe ich versagt vor Gott? Oder habe ich Menschen, Anvertraute, mir von Gott Zugewiesene enttäuscht? Wie viele?

Und ein Kreuz steht fast auf jeder Seite. Das ist das Charakteristische im Lebensbuch. Das ist das Große, das unser Leben bestimmt: das Leiden. Es gibt keinen Menschen ohne Leid. Es kann keinen Menschen geben, der nicht leidet, der nicht leiden muss, der nicht leiden wird. Und wenn er jahrzehntelang zugebracht hätte ohne Leid, wird es wohl auf einmal zu ihm kommen. Für jeden ist eine Summe an Leid reserviert, das wird niemand erspart. Für manchen ist es äußerlich: äußere Schwierigkeiten, Berufsschwierigkeiten, Arbeitsschwierigkeiten, Gesundheitsschwierigkeiten, menschliche Verhältnisse, Umgebung, Familie, Kollegen. Für viele sind es innere Leiden. Dieses sind die schwerer Tragenden, die Menschen, deren Leid sogar bitter geworden, die am Leid sogar vergiftet worden sind. Die mangelnde Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst. Die Unentschlossenheit. Das Hin- und Hergerissenwerden. Der Zweifel an sich selbst. Die Bitterkeit des Ungenügens. Der Schmerz, versagt zu haben. Das Nichterreichen der Ziele. Das Verfehlen der Tugend. Solange wir auf dieser Erde leben, können wir nicht ohne Trübsal und Versuchung durchkommen. Als Mensch von allen Versuchungen frei bleiben, das ist schlechterdings nicht möglich. Zu leiden gibt es für uns immer etwas. Denn das große Gut unserer Seligkeit ist verlorengegangen. Wir wollen das einzige tun, was man zum Leid sagen kann. Da hilft keine Philosophie, keine Theorie; da hilft nur eine Weisheit: das Leid anerkennen und das Leid annehmen. Anerkennen, dass es so sein muss. Und dann annehmen, tragen, tapfer tragen, beharrlich tragen, ja, wenn möglich, freudig und stark tragen. Das ist die einzige Lösung. „Trägst du das Kreuz, trägt dich das Kreuz.“ Wenn du dein Kreuz willig trägst, wird dich das Kreuz hinwieder tragen und dich zum er-wünschten Ziel hingeleiten, wo alles Leiden sein Ende haben wird.

Dann steht auf der letzten Seite, so hoffen wir, eine Krone, die Himmelskrone. Und darum ist das Leben schön, weil es gut ausgeht, gut ausgehen kann. Wenn es eine Wanderung durch das Dunkel ist, so ist es doch eine Wanderung zum Licht. Wenn es eine Wanderung durch die Nacht ist, so ist es doch ein Weg zum Tag. Der Sinn des Lebens ist positiv. Nicht ein großer Unsinn, sondern ein herrlicher Sinn, das ist des Lebens Eigenart. Daran müssen wir glauben, fest glauben, unbezweifelt glauben, auch wenn es anders scheint. Der Schein trügt. Es geht aufwärts, es geht heimwärts, es geht lichtwärts trotz allem, ja, trotz allem. Denn der, welcher unser Leben begleitet, der unser Leben lenkt, der uns führt, ist der allheilige und allgütige Gott. „Mein Gott bist du. In deiner Hand sind meine Geschicke.“ Und darum soll allmählich alle Lebensangst, aller Lebensüberdruss, alle Lebensbitterkeit von uns abfallen. Es ist merkwürdig, wie viele Menschen unter Angst stehen. Das ist die große Epidemie der Menschheit: die Angstepidemie, die Angstkrankheit: Angst vor sich selbst, Angst vor den Menschen, Angst vor einer Aufgabe, vor einer Verantwortung, vor dem Tod, vor Gott. Lebensangst: Das Leben in der Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit seiner Möglichkeiten ängstet. Weltangst: Die Wurzellosigkeit und Ungeborgenheit des Menschen in der entfremdeten Natur ängstet. Binnenangst: Das ungelebte und verfehlte Leben, die innere Unstimmigkeit des personalen Ganzen ängstet. Die Bedrängnis des in Hast und Eile verlorengegangenen Daseins, des verängstigten Gewissens, der nicht ausgelasteten oder überlasteten Person ängstet. Es ist unheimlich, wie viele Menschen mit Besorgnis und Beunruhigung an ihr vergangenes Leben denken. Man spricht flapsig davon, sie hätten eine Leiche im Keller, eine geheime Schuld, ein nicht aufgearbeitetes Versagen, eine nicht vergebene Sünde. Habe ich alles gebeichtet? War ich aufrichtig? Aber es soll keine Angst sein! Nichts Lähmendes, nichts Zitterndes! Keine Angst vor der Vergangenheit! Und wenn da noch etwas wäre in unserem Leben, was uns bitter macht, woran wir kaum zu denken wagen, ein dunkler Punkt, auf den wir starren: das muss weg! Was tot ist, sollen wir versenken in eine unendliche Tiefe. Es ist die Tiefe der Barmherzigkeit Gottes. „Ob eure Sünden auch rot sind wie Scharlach, weiß sollen sie werden wie Schnee. Ob sie auch rot sind wie Purpur, weiß sollen sie werden wie Wolle“ (Is 1,18). Wir sollen uns befreien von aller Furcht vor der Vergangenheit und der Zukunft. Wir brauchen Freude, brauchen Sicherheit, brauchen Mut. Wir brauchen Freude in unserem Beruf, denn wir sollen anderen Freude geben. Darum müssen wir selbst gefestigt sein, müssen selbst Brunnen der Freude sein. Wir brauchen Freude in der Religion. Der allmächtige ewige Gott lebt. Er hat nicht abgedankt und ist nicht müde. Er regiert das unermessliche All, das er geschaffen hat. Er blickt auch auf unsere Erde. Wir brauchen Freude in der Kirche. Wie sind wir glücklich, dass wir uns täglich um den Altar versammeln können, auf dem unserem Vater im Himmel das erhabene Opfer seines Sohnes dargebracht wird! Wie dürfen wir uns freuen, wenn der Beichtvater über uns das Absolvo te – Ich spreche dich los von deinen Sünden – sagt! Wir brauchen Freude in der Religion. Als dem Priester Zacharias die Geburt seines Sohnes Johannes angekündigt wurde, sagte ihm der Engel: Dieser Sohn wird dir Freude sein, und viele werden sich über seine Geburt freuen. Der Engel auf den Halden von Bethlehem verkündete den Hirten eine große Freude, die allem Volk widerfahren wird: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, der Messias und Herr. Der Herr hatte siebzig Jünger ausgesandt, die in die Häuser gehen und dort den Frieden verkünden sollten. Als sie von ihrer apostolischen Unternehmung zurückkehrten, berichteten sie voller Freude: Herr, auch die Geister sind uns in deinem Namen untertan. Der Oberzöllner Zachäus in Jericho, bei dem sich Jesus selbst eingeladen hatte, stieg vom Maulbeerfeigenbaum und nahm ihn mit Freude auf. Der Hirt, der sein verlorenes Schaf findet, legt es freudig auf seine Schultern und ruft seine Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir, ich habe mein Schaf, das verloren war, gefunden. Im Himmel ist Freude über jeden Sünder, der sich bekehrt, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Bekehrung nicht bedürfen. Als Jesus in Jerusalem einzog, fing die ganze Schar der Jünger an, voll Freude Gott mit lauter Stimme zu preisen ob all der Wundertaten, deren Zeugen sie gewesen waren. Die Jünger waren auch Zeugen der letzten Erscheinung des auferstandenen Herrn und erlebten seine endgültige Auffahrt in den Himmel. Mit großer Freude kehrten sie nach Jerusalem zurück. Das Christentum ist, recht verstanden, die Religion der Freude. Darum ruft uns Paulus, der Leidgeprüfte, zu: Freuet euch allezeit im Herrn. Noch einmal sage ich: Freuet euch.

Es ist wahr: In dieser Welt geschieht Schreckliches. Wir werden Zeugen schlimmer Dinge. Auch unser eigenes Leben zwingt uns Tränen der Reue aus den Augen. Die Angst steht mit uns auf und geht mit uns schlafen. Doch wir gehören einem Herrn, der gelitten hat und gekreuzigt wurde, der aus dem Grab gestiegen ist und Platz neben Gott genommen hat. Er, der Sieger und König, ruft uns zu: „In der Welt habt ihr Bedrängnis. Aber habt Mut. Ich habe die Welt überwunden.“

Amen.

 

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