Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
30. Januar 2022

Missbrauch

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Seit Jahrzehnten wird die Öffentlichkeit von Presse, Rundfunk und Fernsehen in Atem gehalten mit Meldungen, Berichten und Erzählungen über sexuellen Missbrauch durch Bedienstete der katholischen Kirche, Priester, Diakone, Laienmitarbeiter. Das Thema Missbrauch nahm seinen Anfang durch den Jesuitenpater Klaus Mertes. Er machte Missbrauchstaten am Berliner Canisius-Kolleg aus den 1970er und 1980er Jahren publik. Mertes forderte mehrere hundert ehemalige Schüler des Kollegs auf, nicht länger über die Verfehlungen zu schweigen. Er verband die Missbrauchsfrage von Anfang an mit Kirchenkritik. Das Echo war gewaltig. Mertes löste eine Welle von Enthüllungen in ganz Deutschland aus. Die Medien drängten die Kirche, ihrerseits die von ihren Gliedern verübten Missbrauchstaten auf den Tisch zu legen. Die deutschen Bischöfe waren ihnen zu Willen. Sie fassten den Beschluss, alle sexuellen Verfehlungen von Kirchenbediensteten gegenüber Unmündigen an die Öffentlichkeit zu bringen, und das nicht bloß für die Gegenwart, sondern auch für die Vergangenheit bis vor 75 Jahren. Die Bischöfe wollten nach eigenem Bekunden eine unheilvolle Geschichte transparent machen. Niemand hat sie dazu gezwungen, niemand ist ihnen darin gefolgt. Keine einzige vergleichbare Institution in Deutschland hat sich zu einem derartigen Unternehmen herabgelassen. Nicht die evangelische Kirche, nicht die Orthodoxen, nicht die Muslime, nicht die Verbände der Konfessionslosen. Weder die Polizei noch die Parteien, weder die Sportverbände noch die Lehrerschaft oder die Ärzteschaft haben eine über viele Jahrzehnte ausgedehnte öffentliche Untersuchung der bei ihnen geschehenen Missbrauchsfälle angestellt und ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit unterbreitet. Sie denken nicht daran, es der Kirche gleichzutun. So stehen katholische Kirchenbedienstete einsam und allein vor dem Pranger. Es fehlt an Vergleichsmaterial mit Angehörigen anderer Stände und Berufe. Der ganze Unmut und Zorn entlädt sich über sie.

Missbrauch ist ein Phänomen der gesamten Gesellschaft. Von 1995-2010 hat es in Deutschland 210000 polizeilich erfasste Fälle von Kindesmissbrauch gegeben. Insgesamt zählt man in unserem Land 10000 Missbrauchsfälle pro Jahr. Die Kriminalstatistik weist für 1980 13000 Fälle, für 2008 15000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern aus. Im Jahre 2012 wurden 12623 angezeigte Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern unter 14 Jahren verzeichnet. Die Kriminalstatistik für 2017 spricht für dieses Jahr von 13500 Opfern sexueller Gewalt. Im Jahr 2020 sind 80000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Anzeige gebracht worden. Im Raum der katholischen Kirche haben sich in 68 Jahren angeblich 3677 Fälle ereignet, 54 Fälle pro Jahr. Jeder einzelne Fall ist abscheulich und hätte nicht geschehen dürfen. Betroffen sind Priester, Diakone und Laienmitarbeiter, letztere zu einem Drittel. Die lange Zeitspanne, welche die Bischöfe für ihre „Aufarbeitung“ gewählt hatten, ermöglichte die hohe Zahl von Fällen, auf die sich die Feinde der Kirche sogleich und dauerhaft stürzten. Bei kürzeren Zeiträumen sieht die Lage anders aus. Nach dem „Spiegel“ sind in den 15 Jahren von 1995-2010 in 24 deutschen Bistümern 94 Kleriker und Laienmitarbeiter des Missbrauchs beschuldigt worden. Von den Verdächtigten seien 30 strafrechtlich verurteilt worden. Die meisten Fälle waren verjährt. Das heißt: 99,5 Prozent der Fälle sexuellen Missbrauchs finden nicht im Raum der Kirche statt. Die häufigsten Tätergruppen sind bekannte männliche Personen und männliche Familienangehörige. Die meisten Fälle ereignen sich in der Familie, etwa 80 Prozent, neunzehn Prozent in Institutionen wie Sportvereinen. Nach einer Forschung im Bereich des Sports haben 37 Prozent der deutschen Spitzenathleten als Kind oder Jugendlicher eine Form der sexuellen Gewalt erfahren. In der Landesärztekammer Hessen gibt es eine Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen. In den USA sind 5 bis 7 Prozent der Lehrer in sexuellen Missbrauch verwickelt.

Jeder erwiesene Missbrauch ist eine abscheuliche Tat, bei der das Opfer an erster Stelle stehen muss. Jede Tat, die wirklich als Missbrauch erwiesen wird, ist eine zu viel. Sie ist besonders schwer zu bewerten, wenn sie von einem Priester begangen wird. Kindesmissbrauch ist im Christentum immer als schwere Sünde angesehen worden, und das im Unterschied zu der heidnischen Umwelt, die sogar gewerbsmäßige Kinderprostitution duldete. Die seit Jahrzehnten laufende und immer neu angeheizte Debatte über sexuellen Missbrauch leidet an dem fundamentalen Fehler, dass niemals amtlich und verbindlich festgestellt wurde, welches Verhalten eines Erwachsenen gegenüber einem Unmündigen als Missbrauch einzustufen ist. Gerade die Unbestimmtheit des Begriffs ermöglicht die Uferlosigkeit der Behauptungen, Anklagen und Statistiken. Der Begriff des Missbrauchs wurde sehr weit gefasst. Direkte sexuelle Delikte und indirekte Handlungen wie etwa Exhibitionismus oder die Anfertigung voyeuristischer Bilder wurden zusammengefasst. Manche führen als Missbrauch die unangemessene Berührung über der Kleidung außerhalb der Geschlechtsorgane an. Sie ist nicht strafbar. Man kann sie nicht genauso bewerten wie Vergewaltigungen. Zärtlichkeiten, die aus Sympathie und Wohlwollen hervorgehen, werden als sexuelle Annäherung ausgegeben. Der Direktor der Oberschule, die ich besuchte, hatte die Angewohnheit, dass er gelegentlich den einen oder anderen der Jungen an sich zog. Aber niemand hatte den Eindruck, hier geschehe ein sexueller Akt. Es gibt sodann Bagatellfälle, die zwar auch nicht akzeptabel sind, aber im Vergleich zu dem schweren Missbrauch relativ belanglos sind. Bei einem Hausmusikabend sollten meine Schwester und ich gemeinsam (Klavier und Geige) auftreten. Der Musiklehrer, der mit uns probte, berührte mit zwei Fingern flüchtig die Brust meiner Schwester. War das Missbrauch? Körperliche und sexuelle Gewalt wurden zusammengezählt bei der Untersuchung von Missgriffen bei den Regenburger Domspatzen (1945-1992). Der langjährige Leiter des Chors, Georg Ratzinger, bezeichnete die sogenannte Aufklärung als „Irrsinn“. „Es ist einfach Irrsinn, wie man über 40 Jahre hinweg überprüfen will, wie viele Ohrfeigen bei uns verteilt worden sind, so wie in anderen Einrichtungen auch.“ Körperliche Strafen wurden noch in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als normale Erziehungsmittel angesehen. Die Gerichte sind genauer als die Presse und gut bezahlte Anwaltskanzleien. Aus den Strafakten der Justiz ergeben sich in 31 Prozent der Fälle Verurteilungen, in 21 Prozent Freisprüche oder Einstellungen des Verfahrens wegen mangelnden Tatverdachts. Nur in einer Minderheit der Fälle hat die Justiz also eine Straftat festgestellt.

Man muss bedenken, in welchen Zeitraum die verwerflichen Taten fallen. Es ist die Zeit der sexuellen Revolution, die bis heute anhält. Damit ist gemeint die Deregulierung der sexuellen Normen, die zu einer Sexualisierung der Gesellschaft führt. Die sexuelle Revolution zerschlägt die überlieferten Wertsysteme aller Kulturen und Religionen. Fundamentale Gebote menschlichen Verhaltens, die noch vor wenigen Jahrzehnten allgemeine Gültigkeit hatten, wurden außer Kraft gesetzt. Was damals als gut galt, gilt heute als schlecht, und umgekehrt, was früher als verwerflich angesehen wurde, gibt man heute als zulässig aus. Die christliche Kultur der Keuschheit wird als Unterdrückung des Sexualtriebs verleumdet. Sexuelle Freiheit sei notwendig, damit der Mensch sich selbst bestimme. Kinder hätten von Geburt an sexuelle Bedürfnisse und demzufolge auch ein „Recht auf Sexualität“. Jugendlichen wird die Masturbation empfohlen. Publizisten und Politiker setzen sich für die Entkriminalisierung pädophiler Beziehungen ein unter dem Schlagwort „Befreiung der Sexualität des Kindes“. Geschlechtliche Beziehungen unter Blutsverwandten sollen nicht mehr strafbar sein. Die Welle des sexuellen Liberalismus schwappt auch in unsere Kirche über. Nicht zur Entlastung, sondern zur Erklärung der abscheulichen Taten sei darauf hingewiesen, dass die Theologiestudenten und angehenden Priester seit Jahrzehnten von irrlehrenden Theologen falsch gelehrt wurden. Sie verkünden entgegen der Lehre der Kirche: Es gibt keine Handlungen, die immer und unter allen Umständen verboten sind. Also auch nicht sexuelle Handlungen mit Minderjährigen? Ich habe die Bischöfe wiederholt auf diese Irrlehre hingewiesen. Gehört haben sie mich nicht.

Es ist offenkundig, dass sich das Hauptinteresse der Öffentlichkeit außer auf die wirklichen oder vermeintlichen Missbrauchstäter auf deren Vorgesetzte, also die Bischöfe und deren Personalreferenten, richtet. Man spricht von ihrem Vertuschen. Aber niemand sagt, welches Verhalten als Vertuschen einzustufen ist. Ich verstehe unter Vertuschen Handlungen oder Unterlassungen, die dem sie Vornehmenden geeignet erscheinen, einen erkannten Missbrauchstäter einer verdienten Sanktion zu entziehen. Tatsächlich waren Bischöfe und ihre Mitarbeiter der schwierigen Aufgabe, mit Verfehlungen von Kirchenbediensteten sachlich und gerecht umzugehen, häufig nicht gewachsen. So waren sie vielfach zu leichtgläubig, indem sie dem Reuebekenntnis der Täter zu rasch Vertrauen entgegenbrachten. Sie haben das Rückfallrisiko übersehen. Freilich ist zu bedenken: Bei anderen Missbrauchstätern liegt die Quote der Selbstanzeige bei null. Bei kirchlichen Bediensteten sind es zehn Prozent. Doch es bleibt dabei: Die Vorgesetzten waren häufig zu vertrauensselig. Doch falsche Einschätzung eines bekannt gewordenen Falles ist kein Vertuschen. Die Bischöfe handelten in gutem Glauben. Sie wollten Tätern helfen, aus ihrer Verstrickung herauszukommen, indem sie diese zur Behandlung schickten. Die Mehrzahl der Täter wies keine diagnostizierbaren psychologischen Auffälligkeiten auf. Man nahm an, die Täter könnten durch eine Therapie geheilt werden. Tatsächlich sind nur etwa fünf Prozent der übergriffigen Geistlichen nach einer Therapie erneut mit Übergriffen in Erscheinung getreten. Es ist wahr, dass die Bischöfe meistens nicht entschieden genug gegen die Täter vorgingen. Gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter unterblieben. Priester, die durch sexuellen Missbrauch auffällig geworden waren, wurden an anderen Orten eingesetzt unter Verschweigen der Hintergründe ihrer Versetzung. Das war ein Fehler. Er hat weitere Taten ermöglicht. Doch bleibt zu bedenken: Es ist schwierig Priester, die ja aufgrund ihrer Weihe ewig Priester bleiben, richtig einzusetzen. Soll der Bischof einen Priester, der vor 30 Jahren eine einmalige Grenzüberschreitung begangen hat, für immer von jeder Seelsorge ausschließen? Priester, die sich schuldig gemacht haben, einfach zu entlassen, ist keine Lösung. Denn dann nehmen sie sich eine Wohnung neben dem nächsten Kinderspielplatz. Es soll auch nicht vergessen werden, dass Psychologen und Psychotherapeuten aus Kinderschändern Patienten, Kranke gemacht haben. Patienten, Kranke zu strafen, kam manchen Bischöfen nicht in den Sinn. Die Bischöfe meinten, die außergerichtliche Erledigung eines Missbrauchsfalles sei der Strafanzeige vorzuziehen. Auch viele Opfer lehnten die Anzeige ab. Die außergerichtliche Erledigung eines Missbrauchsfalls ist kein Vertuschen. Sie ist schonend für alle Beteiligten. Ich habe erlebt, dass ein Familienvater mehrere seiner Kinder sexuell missbrauchte. Hätte man ihn angezeigt, wäre er für lange Jahre in ein Gefängnis gekommen. Das wollten weder die Mutter noch die Kinder. Der Fall wurde dadurch gelöst, dass die Frau sich scheiden ließ und die Kinder mit sich nahm.

Der Umgang mit den Opfern war in der Vergangenheit häufig nicht genügend. Ihre körperlichen und seelischen Verletzungen wurden nicht oder nicht hinreichend beachtet. Sie hätten mehr Zuwendung verdient, als ihnen zuteil wurde. Den Opfern ist unermessliches Leid zugefügt worden. Viele leiden noch nach Jahrzehnten unter Depressionen und Partnerschafts- sowie Sexualproblemen. Eine sexuelle Traumatisierung durch einen Priester ist besonders folgenreich für das Kind. Die Gottesbeziehung des Kindes ist tiefgehend gestört. Viele Opfer wollen mit der Kirche nichts mehr zu tun haben und sehen ihren Glauben an Gott zerstört. Man weist auf körperliche oder seelische Schäden infolge des Missbrauchs hin. Diese Schäden sind selbstverständlich mit allen Mitteln zu beheben. Aber man soll auch hier nicht übertreiben. Nach Ansicht der Fachleute zeigen 21 bis 36 Prozent der Kinder keine traumatischen Symptome. Der „Spiegel“ bezweifelte, ob Kindesmissbrauch bei den Opfern überhaupt einen Schaden anrichtet (Nr. 35/1970).

Es ist richtig und notwendig, sich der Opfer von Missbräuchen anzunehmen. Sie sollen und können zur Entlarvung von Tätern beitragen. Doch wer beschuldigt, trägt die Beweislast. Sexualdelikte werden zumeist nicht vor Zeugen begangen. Die Aussage des Opfers ist daher oft das entscheidende oder das einzige Beweismittel. Daher ist zu fragen, wie es um die Wahrnehmungsfähigkeit und den Wahrheitswillen dieser Person steht. Auf die Art und Weise, wie Kinder nach angeblichen Missbrauchshandlungen befragt werden, kommt es an. Durch den Erwartungshorizont der Erwachsenen können sie leicht in eine bestimmte Richtung gedrängt werden. Suggestive Befragung kann Pseudo-Erinnerungen über sexuellen Missbrauch entstehen lassen. Das Opfer kann sodann versucht sein, seinen eigenen Tatbeitrag zu minimalisieren oder zu verbergen. Man rechnet mit einem Fünftel bis zu einem Viertel der Fälle, in denen sich die jugendlichen Opfer billigend, aktiv oder gar initiativ verhielten. Eine gewisse Zahl der Opfer hat dem Missbrauch vorhergehende sexuelle Erfahrungen. Die von den Autoren angegebenen Zahlen schwanken zwischen 2 und 30 Prozent. Aussagen über sexuelle Opfererfahrungen sind auch daraufhin zu prüfen, ob eine bewusste Falschaussage vorliegt. Sie könnte vorgenommen werden, um finanzielle Vorteile zu erlangen. Sie könnte auch ein Akt der Rache sein. Es ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche gegen Lehrer, die sie nicht leiden können, abträgliche Gerüchte und erfundene Verfehlungen verbreiten. Haben die Untersucher diese Gefahrenquelle beachtet? Es gibt auch unbewusste Falschaussagen. Wer einen anderen aufgrund einer Scheinerinnerung beschuldigt, ist subjektiv überzeugt, das schlimme Ereignis erlebt zu haben. Es besteht die Gefahr, dass unschuldige Priester beschuldigt und so selbst zu einer Art Opfer werden. Der Fall des Kardinals Pell in Australien gibt zu denken. Unbescholtene oder in Ehren gehaltene Priester werden mit Handlungen in Verbindung gebracht, an die sie nicht im Traum gedacht haben. Auch die unschuldig Beschuldigten sind eine Opfergruppe. Falsche Verdächtigungen können lebenzerstörende Folgen haben.

Die Missbrauchsfälle und noch mehr ihre Behandlung in den Medien haben der Kirche unermesslichen Schaden eingetragen. Das Vertrauen in die Kirche ist nachhaltig erschüttert worden. Viele Gläubige sind an der Kirche irre geworden. Darüber hinaus nehmen zahlreiche Menschen die beklagenswerten Fälle zum Anlass, mit dem Glauben zu brechen. Allerdings ist zu bedenken, dass unabhängig von diesen Geschehnissen nach Umfragen nur noch 23 Prozent der katholischen Getauften den Glauben der Kirche bejahen. Die Kirche bemüht sich seit Jahren um eine gründliche und transparente Aufarbeitung des Geschehens. Keine andere Gemeinschaft macht eine derartige Anstrengung wegen des Missbrauchs ihrer Mitglieder wie die katholische Kirche. Sie steht konkurrenzlos in der Aufklärung von Missbrauchsfällen, und gerade das macht sie zur einsamen Zielscheibe. Die Medien schießen nur auf die katholische Kirche. Die Munition haben ihnen die Bischöfe geliefert mit ihrem Beschluss, Verfehlungen seit 75 Jahren der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Die Massen von Missbrauchsfällen außerhalb der katholischen Kirche scheinen für die Medien uninteressant zu sein. Offensichtlich geht es ihnen weniger um Opfer und deren Wiedergutmachung, sondern darum, eine lästige Institution zum Schweigen zu bringen, die all das lehrt, was sie selbst längst aufgegeben haben. Die Kampagne der Medien erweckt den Eindruck, dass die gesamte katholische Kirche verseucht ist. Die übergroße Mehrheit der Kirchenbediensteten, welche die abscheulichen Missetaten verwerfen, bleibt außer Betrachtung. Die Wahrheit ist: Nicht die Kirche ist schuld, sondern Menschen der Kirche und in der Kirche. Eine Kollektivverantwortung gibt es nicht. Es ist daher unbegründet, wegen Vergehen von Kirchenbediensteten den bürgerlichen Kirchenaustritt zu erklären. Der gläubige Christ ist nicht Glied der Kirche, weil deren Diener allesamt heilig oder auch nur unbescholten sind, sondern weil sie in der Kirche das Wort der Wahrheit und die Mittel des Heils finden. Wer wegen der Missbräuche aus der Kirche austritt, war nicht wegen des Glaubens darin. Selbst schuldig gewordene Priester haben das Evangelium verkündet und die Sakramente gespendet, und zwar gültig. Der schottische Konvertit Bruce Mashall lässt einen alten Priester sprechen: „Als ich jung war, meinte ich, die Kirche bestehe aus achtzig Prozent Geistlichkeit und zwanzig Prozent Gott. Jetzt weiß ich, dass sie aus neunundneunzig Prozent Gott und vielleicht ein Prozent der gesamten Geistlichkeit der Welt besteht.“ Der Berliner Großstadtapostel Sonnenschein schrieb an die Menschen seiner Zeit: „Gehe nicht wegen des Priesters und nicht wegen der Predigt zum Gottesdienst. Schau zum Hochaltar. Brennt die rote Lampe in der schwankenden Ampel? So brenne auch deine Seele zu Gott.“ Wer wegen der Sünden von Priestern und Pastoralmitarbeitern aus der Kirche austritt, verhält sich wie ein Weintrinker, der meint, er müsse außer dem Wein auch die Flasche mittrinken. Die Form und die Struktur sind notwendig, ja unentbehrlich. Aber heilskräftig ist allein der Inhalt. Unwürdige Diener von Wahrheit und Gnade vermögen deren Segen nicht zu verhindern. Mutter Teresa, der Engel der Armen in den Slums von Kalkutta, wurde von einem Journalisten gefragt, was sich ändern müsse in der Kirche. Sie gab zur Antwort: „Sie und ich, wir müssen uns ändern.“

Amen.

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