Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. September 2021

Beten für solche, die nie beten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Von dem französischen Schriftsteller Victor Hugo stammt das Wort: Es muss wohl Menschen geben, die auch für solche beten, die niemals beten. Das Gebet ist die höchste naturgemäße Pflicht des Menschen. Sie ist Gott wegen seiner Oberherrlichkeit, sich und den Mitmenschen wegen der vollen Abhängigkeit von Gott geschuldet. In diesem Sinne ist das Gebet als unerlässliches Mittel zur schuldigen Verehrung Gottes und zur Erlangung der erforderlichen Hilfe Gottes unbedingt notwendig. Der tiefere, immanente Sinn des Gebetes liegt in der bewussten, freiwilligen und ausdrücklichen Anerkennung Gottes, seiner Oberherrlichkeit, Allmacht, Gerechtigkeit und Güte gegenüber der eigenen Abhängigkeit, Unzulänglichkeit und Hilfsbedürftigkeit. Das Gebet symbolisiert und bekennt so das Grundverhältnis zwischen dem vernunftbegabten Geschöpf und Gott.

Die Menschen sind objektiv abhängig voneinander und angewiesen aufeinander. Keine Person steht so für sich, dass ihre Existenz und ihr Verhalten nicht von Bedeutung für andere und die ganze Gemeinschaft wäre. Auch die verschiedenen Stände der menschlichen Gesellschaft sind miteinander verbunden. Wir sprechen von Solidarität. Das Wort besagt Gemeinschaftsverbundenheit und Gemeinhaftung. Infolge der bestehenden Solidarität ist jeder Mensch dazu aufgerufen, die bestehende Zusammengehörigkeit zu bejahen und zu seinem Teil zu verwirklichen. Sich solidarisch erklären ist Pflicht, die dem Menschen, wenn auch nach Bereich und Situation differenziert, obliegt. Die persönliche Verwirklichung kann Anerkennung und Betätigung natürlich vorgegebener Bindungen (Familie, Volk, Schicksalsgemeinschaft) sein oder sich in spontanen Gesellschaftsbildungen konkretisieren, z. B. in der Freundschaft. Die erhabenste Art der Verwirklichung der Solidarität im Bereich menschlicher Entscheidungen ist die Nächstenliebe.

Das Solidaritätsprinzip durchdringt auch die Heilsordnung. In vollkommenster Verwirklichung zeigt sich die Solidarität in Gestalt und Werk Christi. Er verwirklicht sein Heilswerk als zusammenfassendes Haupt des Menschengeschlechtes und dadurch als Mittler der Heilsbegegnung zwischen Gott und den Menschen. Die Solidarität Christi mit der Menschheit setzt sich fort in der Solidarität seines Leibes, der Kirche. Der Leib Christi, die katholische Kirche, ist eine Solidargemeinschaft. Das Leiden und die Unzulänglichkeit des einen Gliedes ist Leiden und Unzulänglichkeit des Ganzen (1 Kor 12,26). Ihre Solidarität als Gemeinde derer, die das Wort Gottes hören und tun (Lk 8,21; 11,28), wird von der glaubensgehorsamen Maria vorbildlich dargestellt und repräsentativ verwirklicht. Die Solidarität empfängt ihre Ausprägung in der Gemeinschaft der Heiligen. Gemeinschaft der Heiligen ist die übernatürliche Lebensgemeinschaft aller Glieder des mystischen Leibes Jesu, im Pilgerstande, im Stande der jenseitigen Läuterung und im Vollendungszustand. Die Gemeinschaft der Heiligen verbindet die Erlösten mit Christus und alle unter sich zu einem wechselseitigen Geben und Empfangen übernatürlicher Güter und zur Teilnahme an den Verdiensten der Gerechtfertigten (Röm 12,4f.; Eph 1,20ff.; Joh 10,1ff.; 17,11ff.). Die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen ist Quellgrund der Lehre von der Anrufung und Fürbitte der Heiligen, der Fürbitte für die Verstorbenen, der Teilnahme aller Gläubigen an allen Gnadengütern der Kirche, des kirchlichen Verdienstschatzes und des Ablasses. Sie wird in der Fürbitte der Heiligen des Himmels und der Menschen auf Erden füreinander (Röm 15,30; 2 Kor 1,11; Eph 6,18f.; Kol 4,3; 2 Thess 3,1) sowie in Suffragien für die im Läuterungszustand Befindlichen (D 940 950 983) wirksam.

Das Gebet ist die wichtigste Lebensäußerung des Menschen. Mit ihm wendet er sich seinem Schöpfer und Herrn zu, bekennt er seine Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Man darf, man soll, man muss für sich selbst beten. Gott will, dass jeder einzelne seine Abhängigkeit von ihm erkennt und ausspricht. Dies geschieht im Bittgebet. Gott will, dass wir erbitten, was er uns geben will. Beten kann, soll und muss der Christ aber auch für andere. Das Gebet für andere ist Ausdruck der Solidarität, besser der Nächstenliebe und der missionarischen Verantwortung, die ein jeder Christ hat. Es ist gottgegebene Pflicht, füreinander zu beten. Das Unterlassen des Gebetes für andere kann schlimme Folgen haben. „Lieber Hans, morgen muss ich eine lange Autofahrt machen, da hätte ich eine Bitte an dich“, sprach Hilde zu ihrem Verlobten. „Und was ist das für eine Bitte?“ „O, sie ist leicht zu erfüllen. Es ist nur eine Ave Maria, das du für mich beten sollst um eine glückliche Fahrt.“ Er entgegnete: „Es wird schon gutgehen, hab' keine Angst.“ Der junge Mann drückte sich mit diesen beschwichtigenden Worten um die Zusage zu jener Bitte seiner Braut. Hans wich aus. Er hielt die Bitte für unnötig und übertrieben. Das erbetene Ave Maria blieb ungebetet. Am Abend des folgenden Tage schrillte das Telefon. Der Hans wurde in das Haus seiner Braut gerufen; es sei ein Unglück geschehen. Eilig begab er sich dahin und fand seine Braut als Leiche. Der Bräutigam brach an der Totenbahre bewusstlos zusammen. Im Krankenhaus stieß er in seinen Fieberphantasien immer wieder die Worte hervor: „Nur ein Ave! Nur ein Ave. – Nein! Nein! Unnötig. – Aber es muss sein. – Nur ein Ave. Nur ein Ave Maria.“ Der Herr fordert seine Zuhörer dazu auf, für die zu beten, die sie verfolgen (Mt 6,44). Der Herr betete um Verzeihung für seine Kreuziger (Lk 23,34). Stephanus wurde zu Tode gebracht, indem ihn seine Feinde steinigten. Auf die Knie sinkend, rief Stephanus mit lauter Stimme: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Die christliche Gemeinde hat von Anfang an das Bittgebet für andere geübt. Der Erste Brief an Timotheus mahnt, Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen für alle Menschen, im Besonderen für die Obrigkeiten zu verrichten (1 Tim 2,1-4). Die Großen Fürbitten des Karfreitags zeigen die Spannweite des kirchlichen Bittgebetes. Petrus Canisius schuf das Allgemeine Gebet, in dem die Fürbitten der zum Gottesdienst versammelten Gemeinde gebündelt wurden. Etwa im 6. Jahrhundert entstanden in der Kirche Gebetsverbrüderungen. Das sind Verbindungen geistlicher oder weltlicher Personen, die sich gegenseitig durch Vertrag im Leben und auch nach dem Tode Anteil an den Früchten ihrer Gebete, heiligen Messen und guten Werke gewähren. Im 19. Jahrhundert entstanden Gebetsvereine, die das Gebet für das eigene Heil, für andere und für die Kirche pflegen. So bildete sich beispielsweise in Tilburg ein Gebetsverein zur Bekehrung der Protestanten in den Niederlanden. Im 19. Jahrhundert entstand das Gebetsapostolat, im Besonderen der Herz-Jesu-Gebetsverein. Dieses Apostolat will in Vereinigung mit dem ständigen Gebet des göttlichen Herzens durch tägliche Aufopferung der Gebete, Arbeiten und Leiden apostolisch wirken, zumal durch die monatliche Sühnekommunion. Die Beter, die betend für andere eintreten, beten für sie, zu ihren Gunsten. Sie beten aber auch anstatt ihrer, anstelle ihrer. Die Wirksamkeit der Fürbitte ist größer oder geringer je nach dem Gut natürlicher oder übernatürlicher Ordnung, um das man bittet, nach dem Grad der Gottwohlgefälligkeit des Fürbittenden und nach der Empfänglichkeit (Würdigkeit, Bedürftigkeit) aufseiten dessen, für den man betet.

Nun gibt es Menschen, die nicht beten. Die Versäumnis des Gebetes hat schlimme Folgen. Wer nicht betet, versagt Gott den schuldigen Dienst der Anerkennung und der Unterwerfung. Wer dem Gebet aus dem Wege geht, geht geradewegs in die Versuchung. Es trennt sich von Gott, wer sich nicht durch das Gebet mit Gott verbunden hält. Die Menschen, die nicht beten, sind zutiefst zu bedauern. Sie aktivieren nicht ihre Gottgehörigkeit, versagen Gott den Dienst der Anerkennung, geben Gott in Dank und Bitte nicht die Antwort, die ihrer jeweiligen Lebenssituation entspricht. Die Menschen, die nicht beten, entbehren das Glück, zu dem allmächtigen Vater sprechen zu dürfen, und den Trost, dem Allherrscher ihr Leben und Ergehen weihen zu können. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verkündete den Tod Gottes. Er vergaß nicht hinzuzufügen, was das Aufgeben des Gottesglaubens für das Seelenleben des einzelnen bedeutet. „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – es gibt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu finden und nicht mehr zu suchen hat – Mensch der Entsagung, in alledem willst du entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte niemand diese Kraft.“

Die Menschen, die nicht beten, zerfallen in die beiden Gruppen derer, die nicht beten können, und jener, die nicht beten wollen. Unter denen, die nicht beten können, sind zwei Abteilungen zu unterscheiden, die einen, die es nie gekonnt haben, und die anderen, die es verlernt haben. Es gibt Menschen, zahlreiche Menschen, die nicht gelernt haben zu beten. Ihre Eltern und Erzieher haben sie nicht gelehrt, zu Gott zu rufen. Sie haben den gewichtigsten Teil ihrer Erziehung versäumt, nämlich das Kind zu Gott zu führen. In vielen Familien wird nicht gebetet. Mir erzählte einmal ein Mainzer Medizinprofessor, sein Vater sei evangelischer Pfarrer gewesen, aber zu Hause sei nie gebetet worden. Wer es in seiner Kindheit nicht lernt, zum Vater der Lichter aufzuschauen, die Hände zu falten, Gott anzurufen, hat es schwer, das Versäumnis im Laufe seines Lebens gutzumachen. Es fragt sich, ob er den Kameraden, den Genossen, den Freund findet, der selbst betet und ihn beten lehrt. Es gibt Menschen, zahlreiche Menschen, die es verlernt haben zu beten. Anfangs haben sie noch gelegentlich einen Gottesdienst besucht und ein Gebet gesprochen. Aber beides ist immer seltener geworden und schließlich haben sie es ganz aufgegeben. Die Arbeiten und Pflichten sowie die Vergnügungen und Genüsse des Lebens zogen sie vom Beten ab. Andere machen Schicksalsschläge oder nicht erfüllte Wünsche für den Widerwillen und das Fallenlassen des Betens verantwortlich. Sie hatten eine Umgebung, in der nicht gebetet wurde; sie haben sich ihr angepasst. Sie waren in Gemeinschaften, die kein gemeinsames Gebet kannten, in Vereinen, Gesellschaften, beim Arbeitsdienst, beim Militär. Es fehlte ihnen an Freunden und Kameraden, die ihnen das Beten vorgelebt hätten. Mögen sie anfangs noch das eine oder andere Mal ein Gebet gesprochen haben, so erkaltete doch ihr religiöser Sinn. Das Gebet wurde immer seltener und schließlich ganz aufgegeben. Ein Fleischermeister in einer sächsischen Stadt erklärte, er könne das Vaterunser nicht mehr sprechen. Er hatte es durch Unterlassung vergessen und verlernt.

Dann die zweite Gruppe, die Gruppe jener, die nicht beten wollen. Paulus erblickt die große Schuld der Heiden darin, dass sie, obwohl sie Gott erkannt, „ihn nicht als Gott verherrlicht oder ihm gedankt haben“ (Röm 1,21). Das Gebet setzt einen wenigstens anfanghaften Glauben an einen personalen Gott voraus. Wer den Glauben aufgibt, der hört auch auf zu beten. Der Glaubensverlust zieht den Gebetsverlust nach sich. Die Gottlosigkeit mündet in die Gebetslosigkeit. Beten ist Arbeit, anstrengende Arbeit. Wer träge ist, flieht die Arbeit, flieht auch die Arbeit des Gebetes. Die dürftigste Ausrede für das Aufgeben des Gebetes ist der Mangel an Zeit. Der Mensch hat für alles Zeit, wofür er Zeit haben will. Die Gleichgültigkeit gegen Gott ist es, die Menschen veranlasst, das Gebet aufzugeben. Sie haben so viele andere Beschäftigungen und Vorlieben, dass sie für das Beten keinen Platz mehr haben. Sie meinen, Gott nicht zu brauchen. Viele halten es mit dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant, der erklärte: „Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können meint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“ Er versteigt sich zu der Behauptung: „Das Beten… ist ein abergläubischer Wahn.“ Kant hatte sich in seiner Philosophie völlig verrannt.

Gleichgültige, Träge, Abständige, Abgefallene ansprechen und auffordern, zu beten, ist häufig nicht möglich oder bringt nichts. Aber etwas können wir tun, was uns niemand verwehren kann: für andere beten. Auch und gerade jene Menschen brauchen das Gebet, die selbst nicht beten. Victor Hugo hat recht, wenn er sagt: „Es muss wohl Menschen geben, die auch für solche beten, die niemals beten.“ Die Sorge für das Heil unserer Mitmenschen muss uns veranlassen, für sie die Hände zum Himmel zu erheben. Wir wissen um die Gefahr, in der die Nichtbeter schweben. Es geht um Heil oder Unheil. Ein jeder, der betet, wird gewiss selig sein; ein jeder, der nicht betet, geht sicher verloren. Alle Seligen sind nur durch das Gebet in den Himmel gekommen; alle Verworfenen sind nur darum in der Hölle, weil sie nicht gebetet haben, lehrt der hl. Alfons von Liguori. Die Menschen, die nicht beten, sind auf das Gebet der Beter angewiesen. Was sie selbst nicht tun, soll gewissermaßen durch andere ersetzt werden. Gott hört die Stimme derer, die für ihre Brüder und Schwestern eintreten. Der Grundsatz der Stellvertretung gilt mit gewissen Einschränkungen auch für das Gebet. Das Gebet für andere ist gleichsam ein geistliches Almosen, das wir spenden. Wir werden unsichtbare Wohltäter für die gebetslosen Menschen. Unser Gebet soll sie zur Bekehrung bringen. Fromme Christen beten für die Menschen, die ihnen anvertraut sind, die ihnen begegnen, von denen sie hören. Aber nicht genug. Sie beten auch für jene, die ihnen unbekannt sind, die aber auf ihr Gebet angewiesen sind. So wird unser Beten zur christlichen Tat, zum Apostolat. Wir beten für die Rettung der Verlorenen. Unser Gebet holt Gnade auf sie herab. Wir retten sie für Gott. Am Seelenelend anderer achtlos vorübergehen, ist lieblos. Auf verlorene Brüder herabsehen, ist pharisäisch. Christlich ist, zu handeln, zu retten. In Abhängigkeit vom Werk Christi steht der Begnadete für den Sünder und den Ungläubigen ein. Immer wieder lassen gläubige katholische Christen Messen lesen für Verstorbene, deren niemand gedenkt, für die niemand betet. In frommen Klostergemeinschaften wird unermüdlich für die Unversöhnlichen, die Verbitterten, die Abständigen und die Abgefallenen gebetet. Dass sie wieder zu Gott finden. Dass sie von neuem lernen, ihre Hände zum Himmel auszustrecken. Dass sie endlich heimkehren ins Vaterhaus. Darum gilt: Betet, Brüder und Schwestern, dass mein und euer Gebet wohlgefällig werde bei Gott, dem allmächtigen Vater.

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt