Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
13. Oktober 2019

Die Lehre des Kreuzes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Jesus hat jetzt viele Jünger, die im himmlischen Reiche gern mit ihm herrschen möchten, aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen wollen. Viele, die seinen Trost begehren, aber wenige, die in der Trübsal mit ihm aushalten wollen. Viele, die mit ihm essen und trinken möchten, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Alle möchten mit ihm Freude haben, aber wenige wollen für ihn leiden. Viele folgen Jesus nach bis zum Brotbrechen beim Abendmahle, aber wenige bis zum Trinken aus dem Leidenskelche.“ Diese Worte wurden vor 600 Jahren geschrieben im Buche von der „Nachfolge Christi“. Christusnachfolge ist Kreuzesnachfolge. Das ist das Thema dieser eben vorgelesenen Sätze. Der Herr hat es ohne Wenn und Aber ausgesprochen: „Wer nicht sein Kreuz trägt und mit nachfolgt, der kann mein Jünger nicht sein.“ Was ist unter dem Kreuz zu verstehen? Nun, das Kreuz ist zunächst einmal die Verbindung zweier Balken. Sie dient verschiedenen Zwecken. Vor allem hat das Kreuz jahrhundertelang in manchen Ländern als Instrument zur Tötung von Menschen gedient. Sie wurden ans Kreuz genagelt, und auf diese Weise erlitten sie ein schreckliches Schicksal. Jesus hat diese Strafe an sich erfahren. Die Römer hatten diese Strafe eingeführt, und die Führer des Judentums meinten, Jesus erledigt zu haben, als er am Kreuze hing. Doch der Plan Gottes mit der Kreuzigung Jesu war ein anderer. In der Annagelung des Nazareners vollzog sich die Entsühnung der Menschheit. Das unermessliche Leid des Sohnes Gottes war der Preis für die Befreiung der Menschen aller Zeiten von der Schuld und vom ewigen Tode. Durch das bittere Leiden am Kreuz hat der Herr die Erlösung der Menschheit bewirkt. Das Kreuz ist im Christentum das Symbol und Zeichen des durch Gott im Kreuzestod seines Sohnes gewirkten Heils. Wenn gläubige Christen vom Kreuz sprechen, dann meinen sie damit das schmerzliche Erlösungswerk Christi, den am Kreuze verblichenen Heiland.

Aber seit dem Tod Jesu am Kreuze hat das Wort Kreuz noch eine andere Bedeutung gewonnen; es ist nämlich bedeutungsgleich mit dem Leiden. Wenn wir vom Kreuz sprechen, das einer zu tragen hat, meinen wir die Leiden, die über ihn verfügt sind. Wenige geistliche Schriftsteller haben über das dem Menschen auferlegte Leiden, also seine Kreuze, so Tiefes und so Praktisches gesagt wie Thomas von Kempen in dem Buch von der „Nachfolge Christi“. Er stellt für das Kreuztragen drei Grundsätze auf. Der erste dieser Grundsätze lautet: „Wenn du dein Kreuz willig trägst, so wird dich das Kreuz hinwieder tragen.“ Das klingt fremdartig, ja paradox. Wie kann etwas, was selbst getragen werden muss, zum Träger eines anderen werden? Wenn du dein Kreuz willig trägst, so wird dich das Kreuz hinwieder tragen. Wie ist das möglich? Zum Verständnis dieses Satzes müssen wir an die Vorsehung Gottes glauben. Sie lehrt uns: Alles, was Gott über uns kommen lässt, wird in seiner Hand zum Segen, auch das Leiden. Leiden und Schicksalsschläge haben so manchen vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt. Sie haben ihn nachdenklich und vorsichtig gemacht, sie haben seine Leidenschaften und sein Ungestüm gedämpft. In den Psalmen ist wiederholt von der Lehre die Rede, welche das Leid dem Menschen erteilt. „Bevor ich Strafe leiden musste, ging ich irre. Nun aber achte ich sorglich auf dein Wort. Zum Heile dient mir, dass ich leiden muss, damit ich deine Satzungen kennenlerne.“ Wer gelitten hat, weiß um die Gefährdung und Unsicherheit des menschlichen Lebens. Er lernt aus seinem Leiden Vorsicht und Bedachtsamkeit. Hart geprüfte Menschen sind ein Segen für ihre Umgebung. Sie sind gefügig, liebevoll, zu jedem Dienst bereit. In der Regel hat nur der, welcher selbst Leiden erfahren hat, Verständnis für das Leid eines anderen. Das eigene Leiden lehrt das Mitleiden. Das Leid verschafft auch die rechte Würdigung des Irdischen. Es löst das Herz von der ungeordneten Liebe zur Welt, es stärkt uns zum Widerstand gegen Verführung und Schmeichelei. Das Leiden verleidet die Genüsse dieser Welt und lenkt die Blicke hinauf zur Höhe. Leiden sind ein Mittel zur Bewahrung und zur Bewährung. Das Leiden öffnet die Augen zu Tränen, zu Tränen der Reue und zur Umwandlung des Sinnes. Der „verlorene Sohn“ kam durch Hunger, Durst und Blöße zur Besinnung. Der Schmerz steht Wache, wenn der Reiz zur Sünde droht. Leiden ist der von Gott verordnete Weg zum Heil; einen anderen gibt es nicht. Wir müssen mit Christus leiden, wenn wir unser Heil wirken und mit ihm verherrlicht werden wollen. Wer mit Christus leidet, wird auch in diesem Leiden von ihm gestärkt. Das Leiden im Aufblick zum leidenden Gottessohn und in Verbindung mit seinem Leiden erschließt uns die Kraft des Leidens Christi. Nicht umsonst hängt in allen Krankenzimmern eines katholischen Krankenhauses ein Kreuz. Das Leiden gibt auch den Blick frei für das zukünftige, jenseitige Leben. Wer die Leiden dieser Welt geduldig trägt, darf hoffen, dass ihm größere Leiden jenseits des Todes erspart bleiben.

„Wenn du dein Kreuz willig trägst, so wird dich das Kreuz hinwieder tragen“, lautet der erste Grundsatz des Buches von der „Nachfolge Christi“ zum Leiden. Der Zweite lautet: „Wenn du dein Kreuz unwillig trägst, so legst du auf dein Kreuz ein zweites Kreuz, machst dir die Bürde noch einmal so schwer, und wirst sie am Ende doch tragen müssen.“ Es liegt dem Menschen nahe, gegen das Leiden aufzubegehren, denn es schmerzt. Ein Kreuz, das der Mensch tragen muss, drückt auf die Schultern, und der Mensch möchte, dass sich das Leid zurückzieht. Er wird ärgerlich, gereizt, aufgebracht wegen des Leides. Aber der Unwille, das Leid zu tragen, hebt das Leid nicht weg, lässt es vielmehr bestehen, es bleibt. Sich wehren gegen das Leid, sich beklagen über das Leid, es verwünschen, das alles bringt nichts; das Leid bleibt. Aber der Widerwille gegen das Leid verschärft die Situation. Der Widerwille ist selbst ein Leiden. Und dieses zweite Leiden tritt zu dem ersten hinzu. Der Abscheu vor dem Leiden und die Abneigung gegen das Leid vermehren das Leid. Durch Unwilligkeit zum Leiden können selbst geringfügige Leiden bis zur Unerträglichkeit gesteigert werden. Mancher Leidende erklärt seine Bereitschaft, ein Leid zu tragen, aber eben nicht das, das ihm auferlegt ist, dieses erscheint ihm unerträglich. Eine alte Erzählung hat sich mit der Frage der Leidensauswahl, mit der Frage des Kreuzestausches befasst: Auf steinigem Weg, den die drückende Hitze noch schwerer macht, schritt ein Pilger, das Kreuz seines Lebens tragend. Als es Abend war, hielt er keuchend inne und seufzte: „Schwer ist das Kreuz, das mir der Herrgott auferlegt hat. Mein Gott, könntest du mir nicht ein anderes geben?“ Tiefer Schlaf sank über ihn, und der Herr erschien ihm im Traum und führte ihn in einen weiten Raum und sprach zu ihm: „Hier sind alle Kreuze beisammen, die durch mein Erbarmen den Menschen die Himmelstür aufschließen. Lass dein Kreuz stehen und wähle ein anderes, das dir mehr zusagt.“ Der Pilger trat ein und war überwältigt von der Menge der Kreuze. Er prüfte sie, er wog sie, er wendete sie um, er ließ sie wieder stehen. Bei jedem sagte er: „Nein, das lieber nicht.“ Als er entmutigt den Kopf senkte, sprach Christus zu ihm: „Schau her!“ Und er bemerkte ganz nah bei der Tür ein Kreuz. Er zog es herbei, er hob es auf. Ein Seufzer entschlüpfte seinen Lippen: „Mir scheint, das kann ich tragen. Es ist wohl etwas schwer, aber doch leichter als die anderen. Darf ich es nehmen, Herr?“ „Nimm es“, sprach Christus. Der Pilger streckte den Arm aus, er hob das Kreuz an und stieß einen Schrei aus. Es war das Kreuz, das Gott ihm gegeben hatte, das Kreuz, das er als zu schwer gegen ein anderes eintauschen wollte. Die einzig richtige Lösung der Leidensproblematik lautet: Das verordnete, das auferlegte Leid geduldig tragen. Es gibt auf dieser Erde keine vollkommene Sicherheit und keinen vollkommenen Frieden; zu leiden gibt es immer etwas. Denn das große Gut der Glückseligkeit ist uns verlorengegangen.

Häufig versuchen Menschen dem Leide dadurch zu entgehen, dass sie vor ihm fliehen. Der zweite Grundsatz des Buches von der „Nachfolge Christi“ lautet: „Wenn du dein Kreuz unwillig trägst, machst du dir die Bürde noch einmal so schwer, und wirst sie am Ende doch tragen müssen.“ Der Unwille, das Kreuz zu tragen, kann sich zu dem Entschluss verdichten, das Kreuz abzuwerfen, sich von der Bürde zu befreien. Und so lautet der dritte Grundsatz des Buches von der „Nachfolge Christi“: „Wenn du dein Kreuz gewaltsam abschüttelst, so wirst du ohne Zweifel wieder ein anderes finden, und dies andere wird vielleicht schwerer sein als das vorige.“ Die Weise, mit der die Menschen das Kreuz abzuwerfen versuchen, ist verschieden. Häufig denken sie, man könne angeblich unerträglich gewordenen Verhältnissen entfliehen, indem man einen Ortswechsel vornimmt. Es kann durchaus sein, dass ein bestimmtes Leid an einen Ort gebunden ist, andernorts dagegen sich nicht findet. Aber die Ortsgebundenheit eines Leids besagt nicht die Leidfreiheit überhaupt. Kein Ort auf dieser Erde bürgt für Freiheit vom Leid. Jeder Ort ist durchlässig für das Leid. Deswegen schreibt der Verfasser des Buches von der „Nachfolge Christi“: „Überall ist ein Kreuz für dich zugerüstet und wartet schon darauf, bis du kommst und deine Schulter darunterlegst.“ „Ordne und füge alles nach deinem Willen und nach deiner Einsicht, und du wirst es nicht anders finden, als dass es überall für dich etwas zu leiden gibt.“ „Wende dich nach oben, wende dich nach unten, wende dich nach außen, wende dich nach innen, überall wirst du ein Kreuz finden.“ Eine alte Geschichte berichtet, wie ein reicher und mächtiger Herr dem Tod, der die Menschen in einer Epidemie bedrohte, entfliehen wollte. Er setzte sich aufs Pferd und ritt davon. Als er das Tier abgehetzt hatte, stieg er auf ein anderes um. Und so ging es weiter, bis er an eine Stelle kam, wo er sich sicher glaubte. Aber siehe da, der Tod saß schon am Rande des Brunnens und wartete auf ihn; er war der schnellere Reiter. Überaus häufig ist die Flucht vor dem Leid in der Ehe. Wie viele Verheiratete klagen: Ach, wenn ich einen anderen Partner hätte. Den Partner kann man wechseln, das gestattet das staatliche Scheidungsrecht, aber eines kann der Scheidungsbereite nicht wechseln: sich selbst. Er bleibt, der er war. Und vor allem: das zu Unrecht vertriebene Leid lastet schwer auf dem Gewissen. Der Leidensflüchtling weiß um sein Unrecht, und dieses Wissen bereitet ihm Pein und Qualen. Nichts fällt so schwer auf unsere Schultern zurück wie ein abgeworfenes Kreuz. Die Heiligen haben um die Unvermeidlichkeit des Leids gewusst. „Tausend Kreuze wirst du finden, willst du dich dem Kreuz entwinden“, hat Theresia gedichtet. Tausend Kreuze wirst du finden, willst du dich dem Kreuz entwinden. Es ist auch nicht so, dass Gottesfurcht und Frömmigkeit eine Versicherung vor dem Leid sind, das Gegenteil ist richtig. „Je weiter einer im Leben des Geistes fortgeschritten ist, desto schwerere Kreuze werden ihm begegnen.“ Er weiß, dass er seinem Gott umso mehr gefallen wird, je mehr Leiden er für ihn ertragen kann. Leiden ist und bleibt das Los aller Menschen auf dieser Erde. „Glaubst du, du allein wirst ohne Kreuz durchkommen, da noch kein einziger Sterblicher durchgekommen ist?“, fragt Thomas vom Kempen den Leser seines Buches. „Wenn du nichts Unangenehmes leiden willst, wie kannst du ein Freund des leidenden Christus sein?“ Es wird wohl dabei bleiben, meine lieben Freunde, wie es das Buch von der „Nachfolge Christi“ formuliert: „Trägst du willig das Kreuz, so wird dich das Kreuz hinwieder tragen.“ Es ist kein Heil der Seelen, keine Hoffnung auf ewiges Leben außer im Kreuze. Es ergeht die Weisung an uns: „Nimm dein Kreuz auf dich und folge Jesus nach, und du bist auf dem geradesten Wege zum ewigen Leben. Siehe, er ging dir voraus und trug dir das Kreuz voran und starb sogar für dich am Kreuze, damit auch du dein Kreuz tragen lernen und Mut bekommen solltest, am Kreuze zu sterben. Denn wenn du nun mit ihm stirbst (durch Enthaltsamkeit, durch Überwindung, durch Zucht), wirst du auch mit ihm leben, und wenn du auch das Leiden mit ihm teilst, so wirst du auch die Herrlichkeit mit ihm teilen.“ Unser schlesischer Dichter Angelus Silesius hat es auf seine Weise gesagt: „Christ, flieh doch nicht das Kreuz. Du musst gekreuzigt sein, du gehst sonst nimmermehr ins Himmelreich hinein.“

Amen.

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