Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. September 2019

Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth erinnert der Apostel Paulus an die wechselhafte Geschichte des alttestamentlichen Gottesvolkes. Es war vielfältig von Gott begnadet und geführt, aber widersetzte sich ihm immer wieder und verfiel infolgedessen göttlichen Strafen. Paulus schreibt: „Das ist zur Warnung geschrieben für uns“ und knüpft daran die Mahnung: „Wer zu stehen meint, der sehe zu, dass er nicht falle.“ Damit ist die Ungesichertheit des menschlichen, auch des christlichen Daseins ausgesprochen. Der Mensch, jeder Mensch ist stets gefährdet. Ich will an einigen Beispielen zeigen, wie diese Gefährdung aussieht. Ein hohes Gut ist die leibliche und seelische Gesundheit. Wir sollen die Gesundheit bewahren, um tauglich für den Dienst Gottes und der Menschen zu sein. Aber die Gesundheit kann plötzlich bedroht sein; ein Unfall, eine Ansteckung kann sie rauben. Es gibt Krankheiten, die in kürzester Zeit zum Tode führen. Ich hatte einen Kollegen, einen sehr tüchtigen Gelehrten. Er verband hohe Begabung mit enormem Fleiß. Ein Werk nach dem anderen verließ seine Werkstatt; nichts schien ihm etwas anhaben zu können. Doch plötzlich befiel ihn ein Unwohlsein. Er begab sich in eine Klinik; in vier Wochen war er tot; der ganze Körper war verkrebst. Von der leiblichen Gesundheit gilt wahrlich das Wort: Wer zu stehen meint, der sehe zu, dass er nicht falle.

Wir alle brauchen Menschen, mit denen wir umgehen, mit denen wir arbeiten, die uns raten, die uns beistehen. Wehe dem, der allein steht! Aber wir erleben, dass Menschen, die uns nahe standen, die wir liebten, die wir nicht hergeben mochten, uns entrissen werden durch Krankheit oder Tod. Wir meinten, sie nicht entbehren zu können, und nun sind sie uns genommen. Menschen können enttäuschen. Viele von uns werden schon einmal das Wort gehört oder gesprochen haben: Das hätte ich nicht von dir erwartet. Menschen sind wandelbar, sie können täuschen. Von Bismarck stammt das böse Wort: „Ein Kollege ist ein Wesen, vor dem man sich in Acht nehmen muss.“ So mancher hat gemeint oder gesagt: Auf meinen Nachbarn, auf meinen Arbeitskollegen, auf meinen Sportsfreund kann ich mich verlassen. Aber dann kamen Umstände, stellten sich Ereignisse ein, wechselten die Verhältnisse, und der Nachbar brach die Beziehung zu uns ab. Der Arbeitskollege mied den Umgang mit uns, der Sportsfreund zog sich zurück. Nach dem Ende der DDR konnte ein Teil der Akten des Staatssicherheitsdienstes eingesehen werden. So mancher Bürger entdeckte, dass sein Kollege oder sein Nachbar ihn im Auftrag dieser Behörde beobachtet, bespitzelt und über ihn berichtet hatte. Auch für den Umgang mit Menschen gilt das Wort: Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.

Die Wirtschaft, meine lieben Freunde, ist in gewissem Sinne unser aller Schicksal. Von ihr hängt unser Wohl und Wehe in weitestem Ausmaß ab. Die Wirtschaftswissenschaftler haben die Faktoren der Wirtschaft erforscht und ihre Gesetzmäßigkeit. Konjunktur ist die allgemeine Bezeichnung für das Geschäftsklima. Es werden vier Phasen dieses Klimas unterschieden: Aufschwung, Prosperität, Rezession und Depression. Wer auf ein längeres Leben zurückblickt, wird feststellen, dass alle diese Phasen immer wieder vorkommen. Die ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren durch die Reparationsleistungen, die Besetzung der Franzosen und die fortschreitende Inflation von einem tiefgehenden wirtschaftlichen Niedergang geprägt. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre erholte sich die Wirtschaft. Ein Aufschwung trat ein, die Menschen waren optimistisch, die Einkommen stiegen. Aber siehe da, am Schwarzen Freitag, am 25. Oktober 1929, ereignete sich in New York ein großer Börsenkrach. Eine Depression ergriff die meisten Staaten und weitete sich aus zur Weltwirtschaftskrise. Das Volkseinkommen sank, die Industrieproduktion ging zurück, das Außenhandelsvolumen schrumpfte, extrem hohe Arbeitslosigkeit war die Folge, das Volk verelendete. Wir sind heute gegen ähnliche Vorgänge keineswegs gefeit. Die deutsche Wirtschaft, meine lieben Freunde, ist extrem exportabhängig. 80% der Maschinen, die in Deutschland gebaut werden, gehen ins Ausland. Deutschland ist das Land der Autobauer. Von der Autoindustrie hängt unsere Wirtschaft, unser Sozialsystem, hängt unser Wohlstand ab. Wenn Amerika Zoll für unsre deutschen Autos erhebt, ist die Autoindustrie schwer getroffen. Kurzarbeit, Entlassungen, Zusammenbrechen der Zuliefererbetriebe; das sind die Folgen. Auch für die Konjunktur gilt das Wort: Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.

Es ist uns nach Gottes Willen aufgeben, uns im Beruf, in unserer Arbeit nützlich zu erweisen durch Einsatz und Ausbau unserer Kräfte und Fähigkeiten. Man erwirbt Fertigkeiten und Kenntnisse durch Ausbildung und Unterricht. Aber das genügt nicht. Heute besteht eine zunehmende Notwendigkeit lebenslangen Lernens. Das Wissen, die Erkenntnisse, die Forschung schreiten fort. Weiterbildung ist deswegen eine ständige Forderung, die an uns gerichtet wird. Unser berufliches Leben steht unter der Losung: Wer zu stehen meint, der sehe zu, dass er nicht falle.

Politiker leben gefährlich; das gilt für jede Zeit und für jedes politische System. Sie stehen in Gefahr, ihr Amt und womöglich ihr Leben zu verlieren. Wie viele amerikanische Präsidenten sind schon ermordet worden. Otto von Bismarck, der Reichskanzler, hatte sich nach seinen Erfolgen eine politische Stellung erobert, die unangreifbar schien. Er lebte wie ein Souverän. Während der Zeit, in der er Minister und Kanzler war, verbrachte er in seinem Amtssitz in Berlin fünfzehn Jahre, auf seinem eigenen Besitz neun Jahre. Nun durch Telefon und Briefe verkehrte er mit seinem Ministerium. Nichts schien ihn stürzen zu können. Aber siehe da, es kam ein neuer König und Kaiser, Wilhelm II.; er entließ ihn am 20. März 1890. Bismarck hat seinen Sturz nie verwunden. Wer steht, der sehe zu, dass er nicht falle. Der Bundeskanzler Willy Brandt galt weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung als politischer Hoffnungsträger. Aber siehe da, fast über Nacht musste er sein Amt aufgeben. Einer seiner engsten Vertrauten war ein Spitzel des Staatssicherheitsdienstes. Mit der Bemerkung: „Ich bin nicht erpressbar“ trat Brandt zurück. Von jedem demokratischen Politiker gilt das Wort: Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle. In Deutschland schmücken sich viele im öffentlichen Leben stehende Personen mit dem Doktortitel. Er verschafft Renommee, er erweckt den Anschein der Sachkenntnis. Aber siehe da, es machen sich Leute daran, die Doktorarbeit zu überprüfen, ob sie wirklich von dem stammt, der sich mit dem Doktortitel schmückt. Sie entdecken, dass große Teile der Dissertation nicht Erzeugnis des Verfassers sind, sondern von anderen Autoren abgeschrieben; das nennt man Plagiat. Es kommt zu einem Verfahren, der Doktortitel wird dem Verfasser oder der Verfasserin aberkannt. Er muss, sie muss den Platz in der Politik räumen. Denken Sie an Herrn von Guttenberg und denken Sie an Frau Schavan. Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.

Nach dem Krieg taten sich viele hervor, die Anklage gegen andere erhoben, die wirklich oder angeblich sich dem Hitlerregime angepasst, ihm willig gedient oder sich ihm ausgeliefert hatten. Aber als man ihr Verhalten in der „braunen Zeit“ erforschte, kamen peinliche Tatsachen ans Licht. Sie waren ebenfalls in das System verstrickt, sie waren in nationalsozialistischen Organisationen gewesen. Der Schriftsteller Walter Jens war Parteimitglied, der Romanschreiber Günter Grass war SS-Mitglied. Sie hatten damit ihre angemaßte Rolle als moralische Instanz ausgespielt. Sie hatten das Wort nicht berücksichtigt: Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.

Nichts ist dem Menschen notwendiger als eine Lebensordnung. Wenn einem Menschen die äußere Ordnung fehlt, geht auch die innere verloren. Wer außer der Ordnung lebt, steht vor seinem Fall. Es gilt wahrhaftig das Wort: Wer zu stehen meint, der sehe zu, dass er nicht falle. Ordnung muss man bewahren im religiösen Leben. Wenige Menschen sind so auf die Einhaltung der Ordnung angewiesen wie die Priester. Den Priestern ist die religiöse Tagesordnung für jeden Tag vorgeschrieben: das Breviergebet, die Betrachtung, der Rosenkranz, die täglichen Gebete, die tägliche Feier der heiligen Messe, die Gewissenserforschung, darüber hinaus die regelmäßige Beicht, die periodische Geisteserneuerung. Diese Ordnung gilt das ganze Jahr über, auch in den Festzeiten, auch im Urlaub. Wer diese Ordnung verletzt, ist in Gefahr. Die eine Verletzung ruft die andere, bis das Gebäude des priesterlichen Lebens zusammenbricht. Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.

Auch der katholische Laienchrist kann seinen religiösen Standard nicht bewahren ohne Ordnung. Der Christ, der nicht täglich betet, und zwar ausreichend und gesammelt, ist in Gefahr, die Verbindung mit Gott zu verlieren. Der Besuch der Sonntagsmesse ist für den katholischen Christen unentbehrlich. Ähnlich unerlässlich ist der Empfang des Bußsakramentes. Auf religiösem Gebiet gilt mit besonderer Bedeutung das Wort: Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle. Genauso unentbehrlich wie auf religiösem Gebiet ist die Ordnung auf sittlichem Gebiet. Wir müssen nicht nur die Sünde meiden, sondern auch die Vorstufe der Sünde: die Vorstellungen und Wünsche von Unerlaubtem. Wer sich bei Erlaubtem keine Zügel anzulegen weiß, steht schon am Rand des Unerlaubten. Die Abtötung der Esslust gehört zum ABC des geistlichen Lebens. Wer diese nicht bändigen kann, wird die übrigen Laster schwerlich überwinden. Paulus, der viel Geprüfte, bekennt von sich: „Ich züchtige meinen Leib und mache ihn mir untertan, damit ich nicht selbst verworfen werde, nachdem ich anderen gepredigt habe.“ Wer zu stehen meint, der sehe zu, dass er nicht falle. Dieser fundamentale Satz des natürlichen wie des übernatürlichen Lebens soll uns mahnen, nicht schrecken. Die zuversichtliche Hoffnung, dass wir die Siegespalme erringen werden, müssen wir behalten. Wir dürfen hoffen. Aber in Sicherheit darf unsere Hoffnung nicht ausharren, sonst könnten wir träge oder eitel werden. Die größten Gefahren haben überall darin ihre besondere Gefährlichkeit, dass sie nicht bemerkt werden. Das größte aller Übel ist nicht die Sünde, sondern die Selbsttäuschung. Bekehrung kann die Sünde tilgen, Selbsttäuschung verewigt sie. Jeder muss wissen, zu welchen Fehlern er neigt. Jeder muss seine Schwächen kennen. Vor nichts müssen wir uns bei Tag und bei Nacht mehr in Acht nehmen als vor uns selbst. Es gilt das Wort: Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.

Amen.

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