Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
7. Juli 2019

Steht auf, lasst uns gehen!

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Steht auf, lasst uns gehen!“ hatte der Herr zu seinen Jüngern gesagt. Sie haben seinen Befehl befolgt; sie sind aufgestanden und mit ihm gegangen. Und wie sie nun gehen, spricht der Herr wieder zu ihnen. Im Gehen – zumal in der Nacht – lässt sich vieles leichter sagen. Er sagt zu ihnen: „Bleibet in meiner Liebe!“ Das kann zweifach verstanden werden. Es kann heißen: Bleibet in der Liebe, die ich zu euch habe, nehmt sie an, lasst sie euch gefallen, esst von meinem Leibe, trinkt von meinem Blute, die aus Liebe zu euch hingegeben sind. Bleibet in meiner Liebe, verstoßt sie nicht, missachtet sie nicht, entwürdigt sie nicht, entweiht sie nicht. Sie sei euer Kleinod. Haltet sie hoch als euer Kostbarstes, als euren Schatz, als euer Licht, als euer Leben. Diese Liebe, die ich zu euch habe, ist das Licht, ist die Kraft, ist der Trost eures Lebens; bewahret sie also. Es kann dieses Wort aber auch heißen: Bleibt in der Liebe, die ihr jetzt zu mir habt. Bewahrt auch diese und lasst sie nicht auslöschen, lasst sie nicht wieder versanden, lasst sie nicht verstauben, bewahrt sie frisch. Sie würde verloren gehen durch die Sünde, durch die Trennung von Gott, durch die Untreue, durch den Ungehorsam; und das sei ferne, das sei ausgeschlossen.

Wie könnt ihr diese Liebe zu ihm bewahren? Jesus sagt: „Wenn ihr meine Gebote haltet, dann bleibt ihr in meiner Liebe. Wer meine Gebote hat und hält, der ist es, der mich liebt.“ Das ist nun sehr tröstlich, dass der Herr die Liebe im Willen und nicht im Gefühl begründet. Nicht Affekte, Gefühle, Seufzer sind ihm an erster Stelle wichtig, sondern Gehorsam, Treue, Pflichterfüllung. Jesus weiß offenbar darum, wie schwer es ist, den fernen unsichtbaren Gott und selbst den im Fleische erschienenen Gottessohn fühlbar, spürbar zu lieben. Das weiß er, und darum verankert er die Liebe im Willen. Woran wir uns halten, was wir festhalten und nicht aufgeben, wozu wir uns bekennen, was wir zu verwirklichen trachten, woran wir uns klammern, allen Bedrängnissen und allen Verlockungen des Fleisches zum Trotz, wovon wir nicht lassen und was wir festhalten, vielleicht unter Tränen und mit blutig gerissenen Händen, das ist der Gegenstand, das Ziel unserer Liebe. Da wo wir die Frucht unseres Arbeitens, Kämpfens und Leidens anlegen, da haben wir unser Herz. Wo wir unsere Schmerzen, unsere Mühen, unser Schaffen hingetragen haben, dort wird auch ewig unser Herz sein. Wenn wir im Gehorsam und Treue seine Gebote halten, dann bewahren wir die Liebe zu ihm. Da sehen wir, wie der Herr alle Gebote, alles Recht und alle Gesetze verstanden wissen will.

Die Echtheit und die Größe der Liebe kann man ablesen, nämlich an den Mühen und Opfern, die der Liebende auf sich zu nehmen gewillt ist. In diesen Tagen, meine lieben Freunde, sind es 75 Jahre her, dass ein deutscher Edelmann sein Leben opferte für seine Brüder und Schwestern. Im Austausch mit zahlreichen rechtskundigen und gewissenhaften Männern und Priestern war es ihm zur Gewissheit geworden, dass der Beherrscher des großdeutschen Reiches ein Menschheitsverbrecher war und den Tod verdient hatte. Dass jedes Gericht – wenn es denn ein solches gegeben hätte – ihn zum Tode verurteilt hätte, und dass die Beseitigung dieses Mannes das einzige Mittel war, das sinnlose Töten und Zerstören von ganzen Ländern zu beenden. So entschloss er sich, nach letzter Zwiesprache in einer Berliner katholischen Kirche, den entscheidenden Schritt zu tun und die Menschheit von ihrem Dämon zu befreien. Er sah sich vor Gott zu diesem Entschluss verpflichtet. Nicht der Hass veranlasste ihn zu der Entscheidung, den Gewaltherrscher zu töten, sondern die Liebe, die Liebe zu Volk und Vaterland, die Achtung vor Recht und Gerechtigkeit, das Mitgefühl für die zahllosen geschändeten, bedrückten und gequälten Menschen. Aus dieser Liebe heraus war er bereit, sein Leben zu opfern. Eine größere Liebe hat niemand als der, welcher sein Leben für seine Freunde hingibt. In seinem Entschluss spielte nicht das geringste Eigeninteresse eine Rolle. Wenige Tage vor dem 20. Juli sagte Stauffenberg: „Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.“ Die größte Liebe ist die sich opfernde Liebe; darüber hinaus gibt es keine Steigerung. Stauffenberg hat diese Liebe bewiesen. Er schied aus dieser Welt in dem Ruf, der seine Liebe bezeugt: „Es lebe unser heiliges Deutschland!“

An sich ist eine mehrfache Begründung der Sittlichkeit möglich. Es kann ein Mensch gut sein wollen aus wohlverstandener Nützlichkeit, denn schließlich ist es doch die Güte, die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit allein, die auf die Dauer, die sich in alle Ewigkeit bewährt. Man kann sodann gut sein wollen um seines Fortschrittes willen, weil man ein rechter und vollkommener Mensch sein will. Denn die Befehle und Forderungen des Guten decken sich mit den Geboten eines vollen und reinen Menschentuns. Und man kann schließlich gut sein wollen um des Guten willen, und das ist erhaben und weise. Es ist auch stark und entscheidend genug, wenn wir nur dieses Gute nicht als einen abstrakten Gedanken sehen, sondern als den lebendigen und persönlichen Träger alles Guten: den gewaltigen, großen Gott. Gut sein um Gottes willen, das ist ein allentscheidender Grund. Aber Gott ist fern und unsichtbar, und nicht jeder findet gleich das ganz persönliche Du zu diesem unsichtbaren Sein, das die ganze Seele aufstehen lässt. Wenn aber Gott als Mensch zu uns kommt, und wenn dieser Mensch uns an der Hand nimmt und sagt: folge mir nach, geh mit mir, hab mich lieb, bleib in meiner Liebe, dann kann um dieses brüderlichen und zugleich göttlichen Menschen willen in uns allen die große Woge aufstehen, die uns mitreißt zu letzten Entscheidungen. Diese Woge heißt: mit dir, für dich. Es ist die vollkommenste Sittlichkeit, und kein Imperativ, so kategorisch er sein mag, kommt ihm gleich, diesem Imperativ persönlich liebender Gefolgschaft: Ich will sein, wie du bist. Ich gehe hin, wo du hingehst. Ich will tragen und leiden, was du trägst. Ich will es nicht besser haben als du. Zu jedem wirklich guten und zugleich geliebten Menschen könnten und dürften wir so sprechen, aber zu keinem so wie zu Christus, unserem Herrn: Weil du mein Herr bist, darum geschehe mir nach deinem Wort. Weil du mein Freund bist, darum lass mich bei dir bleiben. Weil du mein Erlöser bist, darum lass mich mit dir leiden. Weil du mein Gott und alles bist, darum lass mich dir anhangen. In dieser ganz persönlichen Nachfolge und liebenden Hingabe ist die weltbewegende Frage aller Sittlichkeit und aller gesetzlichen Norm gelöst, nämlich die Frage, was gut und gerecht ist und warum wir es tun sollen. Die Antwort lautet: Weil du es bist, der es befiehlt, weil du es gebietest, um deinetwilllen. Befiehl mir, und was du befiehlst, das soll mein Gebot sein. Rede Tod oder Leben zu mir, Tod und Leben soll mir lieb sein, weil sie von dir sind. Fordere von mir, was du willst, und alle deine Forderungen sollen mir eine Gnade sein. Ich darf tun, was du willst. Fordere von mir, und deine Forderungen sollen mir eine Gnade sein. Da hört das Sollen auf und da beginnt das Dürfen. Da ist die Pflicht überwunden und die Gnade fängt an. Da ist das Gebot zu einem Geschenk geworden. Da ist das von außen herantretende Gesetz zum Ausdruck des eigenen Willens geworden. Daran wollen wir denken, wenn wir des Herren Ruf hören: „Bleibet in meiner Liebe!“ Das ist seine Weisung. Es ist eigentlich eine Einladung, ein Wunsch seines Herzens, eine Werbung um Liebe, und es ist unendlich rührend: Bleibet in mir, bewahret die Liebe zu mir; er bittet um unser Liebhaben, um unsere Treue. Er, der doch befehlen könnte, und er, dem doch eigentlich nichts an unseren Herzen liegen könnte, er bittet und bettelt: Bleibet in mir, bleibet in der Liebe zu mir.

Und er zeigt den Weg, in seiner Liebe zu verharren: „Haltet meine Gebote“, „Meine Freunde seid ihr, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.“ Da möchten wir fragen: Ja, lieber Herr, welches sind denn deine Gebote? Welches ist denn der Kern deiner Gebote? Welches ist denn dein Herzensgebot, an dem dir am meisten liegt? Da antwortet der Herr: „Das ist mein Auftrag, dass ihr einander liebt. Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebhabet, und daran sollen alle erkennen, dass ihr zu mir gehört, dass ihr meine Jünger seid.“ Wir sehen die Wichtigkeit seines Gebotes in seinen Augen, es ist sein Herzensgebot; es kommt ihm aus dem innersten Herzen. Und darum nennt er es sein Gebot, weil ihm daran am meisten liegt, weil es ihm als Kriterium dient. Er will daran erkennen, wer seine Jünger sind. Und die Welt soll es auch erkennen. Es ist ein neues Gebot, denn es hat einen neuen Maßstab und damit auch eine neue Schwierigkeit. Früher hat es geheißen: Ihr sollt den Nächsten lieben wie euch selbst; er aber sagt: Ihr müsst den Nächsten lieben, wie ich euch geliebt habe. Das ist unendlich mehr, das ist eine ungeheuer schwere Forderung, das ist unmöglich, möchten wir sagen. Deine Liebe kennen wir doch; es ist eine göttliche Liebe. Und dennoch sagt der Herr: „Ihr sollt einander lieben, wie ich euch geliebt habe.“ Und wie hat er die Jünger, das Volk, die Menschen geliebt. Diese unverständigen, eigennützigen Jünger, denen er immer wieder dasselbe sagen musste, und die ihn doch kaum verstanden, die Feuer auf eine ungastliche Stadt herabrufen wollten und die ihm das Leiden ausreden wollten; wie hat er sie trotzdem geliebt. „Freunde“, „Kindlein“ nennt er sie in der Abschiedsstunde, und diese Ausdrücke lassen die Zärtlichkeit seiner Liebe erkennen. Und wie hat er das Volk geliebt, dieses irrende, sensationslüsterne, taumelnde, so leicht verhetzte Volk, das ihn mit seiner Wundersucht und seinen irdischen Plagen unausgesetzt belästigte, das von der politischen Messiaserwartung nicht loskam, das ihn schließlich verwarf und einen Mörder an seine Stelle setzte. Wie hat er dieses Volk geliebt. „Mich erbarmt des Volkes“, hat er gesagt. Und über das Elend dieses Volkes hat er geweint. Und selbst auf seinem Kreuzweg erschienen ihm seine Leiden als etwas, das gar nicht infrage kommt gegenüber dem Schicksal, das diesem Volke bevorstand. Was für eine wunderbare Liebe war ihm eigen: eine zärtliche, eine herzliche, eine reiche, eine überströmende Liebe. Eine Liebe, die nicht zählt und rechnet, sondern sich verzehrt. Eine Liebe, die nicht nach Nutz und Gegenleistung fragt, sondern die sich opfert. Eine Liebe, die keine Bedingungen setzt, sondern schöpferisch ihr Gegenüber erneuert. Mit ihm ist eine völlig neue Liebe in die Welt gekommen: die dienende Liebe. Das ist eine Liebe, bei der das eigene Ich überhaupt nicht in Betracht kommt, bei der die eigene Persönlichkeit zurücktritt hinter den Dienst, den sie leistet, eine Liebe ist das, die schenkt, aber selbst nicht damit rechnet oder darauf wartet, ihrerseits beschenkt zu werden. Darum ist das deutlichste Zeichen dieser Liebe das Niederknien, wie es der Herr im Abendmahlssaal geübt hat, das Zeichen der Selbstaufgabe und des Selbstverzichts, denn Knien will besagen: Alles für dich. So hat Jesus die Seinen geliebt, und so sollen die Jünger einander lieben.

Aber wenn wir die Größe dieser Liebe betrachten, meine lieben Freunde, da möchten wir verzagen. Wo ist der Geist völliger Selbstlosigkeit und Selbstentäußerung, den sie fordert, der Geist einer endgültigen Überwindung des selbstsüchtigen Ich? Freilich, manchmal hat es den Anschein, als flöge ein Funke dieser Liebe durch die Seelen der Christen. Wenn man die Scharen der Gläubigen vor der Kommunionausteilung sieht, wie sie alle dort nach dem Leib des Herrn verlangen, wie sie nur noch nach seiner Liebe streben, wie sie nur nach einem noch begehren, mit dem geliebten Meister eins zu werden, da könnte man meinen, der Frühling sei gekommen, die Liebe sei in den Herzen erwacht. Da ist man geneigt, zu sagen: Jetzt sind sie alle eins, jetzt sind sie weggekommen von ihrem Hass und Neid, von ihrer Missgunst und Eifersucht, von Unehrlichkeit und Unlauterkeit, jetzt sind sie wahrlich Brüder und Schwestern geworden, und wollen gar nichts mehr anderes, als einander gut sein. Aber das ist nicht von langer Dauer. Dann gehen sie wieder hin und vergessen, was sie versprochen haben, fallen wieder übereinander her und verraten das Brot, das sie gegessen, und verschütten den Kelch, aus dem sie getrunken haben. Da sind sie doch wieder da die alten Ansprüche und Forderungen und Torheiten und Leidenschaften. Da muss Jesus noch oft und immer wieder die Opferaltäre besteigen und sein Blut ausgießen. Denn er weiß, dass die Vollendung noch fern ist, dass er noch lange da weilen und opfern muss auf einer mit Unrecht beladenen Erde. Aber bei jedem Opfer ertönt lieblich und furchtbar zugleich seine Stimme, die Stimme seines Blutes: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe. Seht ihr nicht, ihr Menschen, was meine Liebe für euch getan und weiter für euch tut? Seht ihr nicht, wie das Opferfeuer jeden Tag und jede Stunde neu angezündet wird und die Erde umkreist? Seht ihr es nicht? Seht ihr die Liebe nicht, die das tut? Da muss Jesus auch in den Tabernakeln noch warten. Er wartet, weil die eucharistische Ethik noch nicht gekommen ist. Er wartet, weil die Kommunizierenden noch nicht erfüllt sind vom eucharistischen Geist. Der eucharistische Frühling ist noch weit weg, und Jesus muss noch warten, lange warten. Aber jeder Tabernakel, jedes ewige Licht ist wie eine stumme Frage, ist wie eine stumme Mahnung: Habt Liebe zueinander. Liebet einander, wie ich euch geliebt habe. Jesus wartet und wartet. Er hält aus, bis die Liebe erwacht in den Herzen der Menschen, der Gläubigen, seiner Jünger, seiner Priester. Sind wir nicht untereinander enger verbunden als andere Menschen? Tragen wir nicht Glück und Last unserer Erwählung und Berufung gemeinsam? Ach, meine lieben Freunde, es muss mehr Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit zwischen uns sein. Ämter, Würden, Titel, Hierarchien, Präzedenzen, das muss sein um der Ordnung willen, aber das ist nur eine Grenze, das ist nicht das Maß der Liebe. Die Beachtung von alle dem ist das Minimum, nicht das Maximum sittlicher Leistung. Die Regeln des Rechts hindern nicht den Geist brüderlicher Zuneigung, selbstlosen Wollens, uneigennütziger Hilfsbereitschaft, erfinderischer Liebe. Über der Gerechtigkeit steht die Liebe, und diese müssen wir einander schenken. D.h. praktisch: aufeinander achten, miteinander empfinden, füreinander sorgen. Wir müssen, wie Paulus sagt, mit den Lachenden fröhlich sein und mit den Trauernden weinen. Niemand darf sich mehr vereinsamt, vernachlässigt, verwahrlost vorkommen. Jeder muss sich in der brüderlichen Liebe des anderen geborgen wissen; ich sage: in einer spürbaren, fühlbaren, hörbaren Liebe. O dass in uns, die wir dem Altare so nahe stehen, die Gesinnung unseres Heilandes aufstünde, dass doch seine Liebe uns entzündete, dass wir doch einander lieben möchten, wie er uns geliebt hat. Ich zweifle nicht, dass auch wir am Ende unseres Lebens, in der letzten und schwersten Stunde sprechen könnten, wie Theresia von Lisieux gesprochen hat: „Ich habe es nicht bereut, mich der Liebe ausgeliefert zu haben.“

Amen.

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