Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Mai 2019

Gott und das Leid

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wann immer wir mit Menschen sprechen, deren Gottesglaube in die Krise geraten ist, taucht bald die Frage auf nach dem Schweigen Gottes über der leidenden Welt. Wenn es einen Gott gibt, wie kann er all das Leid zulassen in dieser Welt, dieses unendliche Meer von Not und Tränen? Wird nicht die Versicherung der Bibel, dass Gott die Liebe ist, wird sie nicht unglaubwürdig angesichts der zahllosen schweren Übel in dieser Welt? Kann man angesichts der Qualen und Foltern, denen die Menschen innerhalb der Geschichte fortwährend ausgesetzt sind, daran glauben, dass Gott die Liebe ist? Diese Frage umschließt ein undurchdringliches Geheimnis. Sie bedeutet eine schwere Last für den Gottesglauben. Die vielen Warum und Wozu können mit den Mitteln der Vernunft nicht beantwortet werden. Der Apokalyptiker Johannes sieht, wie das Buch der Geschichte siebenfach versiegelt ist und kein Irdischer die Siegel zu lösen vermag. Er sieht aber auch, dass es eine Antwort gibt. Sie kommt nicht von der Erde, sondern vom Himmel. Deshalb ist sie auch nur den Himmlischen ganz verständlich. Aber der Mensch kann sie im Glauben annehmen und von der ewigen Zukunft die Einsicht in das düstere Geheimnis des Leids erhoffen. In dieser Zuversicht auf die künftige Enthüllung des Leides kann er dessen Last tragen, ohne verzweifeln zu müssen.

Man kann versuchen, auf die Frage, wie Gottes Liebe mit dem Leid auf Erden zu vereinbaren ist, eine – wenn auch unzulängliche – Antwort zu finden. Es ist zunächst einmal Glaubenssatz, dass Gott das sittliche Übel, also die Sünde, das Böse in keiner Weise wollen kann. Denn er ist ja die absolute Heiligkeit, die allem Bösen wesenhaft entgegengesetzt ist. Die Sünde entsteht aus dem freien Willen der Menschen. Doch kann man fragen: Ja, warum hindert Gott den freien Willen nicht, den Willen zum Bösen? Er lässt das Böse zu. Die Antwort kann man vielleicht darin finden, dass er in seiner Weisheit und Macht die Sünde, auch die Sünde, zu einer Quelle von Gütern und Werten lassen werden kann. Ja, die Sünde wird sogar für Gott zum Anlass eines noch stärkeren Einsatzes und bietet damit dem Menschen die Möglichkeit eines größeren Heiles. Man muss auch sagen, das Leid, also das Strafübel und die Naturübel, kann Gott nicht um des Leides willen wollen, sondern nur als Mittel für höhere Zwecke verwenden. An sich ist das Leid mit der Schöpfung gegeben. Die Ordnung der Dinge, Überordnung, Unterordnung, Gebrauch und Verbrauch des einen durch das andere schließt das Leid in sich. Es ist schmerzlich zu sehen oder auch zu hören, dass der Wolf eine Herde Schafe überfallen und Tiere gerissen hat. Doch er will leben, und er lebt nur, indem er andere Tiere tötet. Ebenso ist das Leid mit der Vergänglichkeit der Dinge gegeben. Alles Irdische erschöpft sich mit dem Ablauf der Zeit. Sterben und sterben müssen ist das Zeichen der Geschöpflichkeit. Bauten, die der Mensch errichtet, mögen Jahrtausende überdauern, aber eines Tages fallen sie doch dahin. In alle Werke, die der Mensch errichtet, ist der Tod hineingebaut. Im Zeichen des Paradieses sollte das Leid infolge eines besonderen Eingreifens Gottes der Schöpfung fern bleiben. Diese von Gott beabsichtigte Ordnung wurde durch die Auflehnung des Menschen gegen Gott zerstört. Letztlich geht alles Leid dieser Erde auf die Ursünde zurück, in deren Folgen wir alle verstrickt sind. Das Leid ist der Ausdruck der Ferne von Gott. Es ist ein von Gott verhängtes Gericht über die Sünde. Nicht Gott schuf das Leid, sondern der Mensch. Viele Leiden haben ihren Grund in den persönlichen Sünden, die aus der Ursünde hervorquellen. Jede Sünde schlägt Wunden, richtet Schaden an. Die Anklage des Gewissens, der Wurm, der nicht stirbt, Krankheiten, Seuchen, Arbeitsunfähigkeit und Zerrüttung sind die Folgen der persönlichen Sünden; die Sünde versklavt. Der schlechte Mensch ist Sklave so vieler Herren, als er Laster hat. Man übertritt Gottes Gebot nicht ungestraft. Shakespeare hat geschildert, wie die „Lady Macbeth“ von Schuldbewusstsein zerrissen und dem Wahnsinn nahe ihre Verbrechen flüsternd dem tauben Kissen anvertraut. Die Frage, warum Gott die Sünde zuließ, trotz des Leides, das aus ihr folgt, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Man kann vermuten, dass sie menschliche Freiheit in den Augen Gottes ein so hohes Gut war, dass er sie dem Menschen nicht vorenthalten wollte, selbst auf die Gefahr des Missbrauchs hin.

In der Hand der Liebe und Allmacht Gottes wird das Leid zu einem Werkzeug des Heils und des Segens. Das zeigt sich im Kreuzestod Christi. Im Grauen des Kreuzesleidens des Sohnes Gottes offenbart sich die Abgründigkeit der Sünde. Aber da durch den Tod Christi die Sünde selbst in ihrer inneren Mächtigkeit überwunden wurde, enthüllt sich das Kreuz zugleich als Weg der göttlichen Liebe. Seit sich Gottes Liebe in einer solchen Weise kundgab: „Den Knecht zu erlösen, gabst den Sohn du dahin!“, seitdem sich Gottes Liebe in dieser Weise kundgab, gibt es keinen Grund mehr, der einen Mensch zur Verzweiflung an der Liebe Gottes zwingen könnte. „Jesus lehrte dich leiden, und er lehrte es, indem er selber litt“, schreibt einmal der heilige Augustinus. Das Leben des Christen ist ein Leben in Verbindung mit Christus. Deswegen muss sich auch das Schicksal Christi über ihn ausbreiten. Das Leiden des erlösten Menschen ist eine Teilnahme am Leiden Christi, an seiner Qual und an seinem Segen. Die Erlösung vollzieht sich so, dass jeder in Verbindung mit Christus und nach dem Vorbild Christi sich dem Fluch, den Gott wegen der Sünde ausgesprochen hat, gehorsam unterwirft und ihn für sich überwindet. Im Leid und in der Drangsal jedes einzelnen Lebens wirkt sich die erlöserische Macht des Leidens Christi aus. Im Leiden des christusverbundenen Menschen bleibt das Mysterium des Kreuzes Christi gegenwärtig bis zum Ende der Tage. Das Leiden ist ein Zeichen der Gemeinschaft mit Christus. Die mit Christus in Gemeinschaft Stehenden sind immer im Durchgang durch das Kreuz, solange sie in den unzulänglichen Formen dieses Lebens wirken und da sein müssen. Dem mystischen Leib Christi wird das Kreuz nicht abgenommen, bis Christus, das Haupt, in seiner Herrlichkeit erscheinen wird.

Das Leid ist eine Offenbarung Gottes. Der in der Ferne von ihm Lebende ist der Ungeborgenheit der Existenz und der Armut des Lebens ausgesetzt. Darin erfährt er die immerwährende Erinnerung an die Verfallenheit, Enge und Sündhaftigkeit der Welt. Das Leid weist in die Vergangenheit zurück, in die Vergangenheit, die durch Adam und seinen Sündenfall geprägt ist. Wir entkommen der Abstammung von Adam nicht. Das Leid weist auch in die Zukunft. Es ist eine Warnung und eine Verheißung. Im Leid zeichnet sich das Gericht ab, das den in der Empörung gegen Gott aus dem Leben Scheidenden und in seiner Sünde sich Verhärtenden trifft. Zugleich aber wohnt dem Leid die göttliche Verheißung inne, dass jene kein Gericht treffen wird, die sich in Reue und Gehorsam, in Buße und Sühne willig den Heimsuchungen Gottes beugen. Sie nehmen das Gericht vorweg. Es ist eine Gnade, dass Gott derartiges gestattet. Gott straft die Sünder, um sie durch Züchtigung zu bessern und durch die zeitliche Strafe vom ewigen Verderben zu retten. Das Leid, meine lieben Freunde, bietet die Gewähr dafür, dass Gott sich um den Menschen kümmert, dass er ihn nicht der Verlorenheit überlässt, sondern ihn durch das Tal des Todes hindurch zum Licht und zum Leben führt. Das Leiden ist Zeichen der Nähe Gottes. Der Dichter Emanuel Geibel drückt es auf seine Weise aus: „Trifft dich ein Schmerz, so halte still und frage, was er von dir will. Der liebe Gott, er schickt dir keinen nur darum, dass du solltest weinen.“ Die Kinder dieser Erde beteuern ihre Liebe mit Rosen. Der Herr des Himmels aber schickt Dornen als Boten seiner Liebe. Wenn Gott hierfür den Weg des Leides wählt, so mag dies darin seinen Grund haben, dass Gott den Menschen ernst nimmt, dass er ihn das Verhängnis, das er durch die Sünde heraufbeschworen hat, spüren lassen will, dass er ihn wie einen Erwachsenen behandelt, der für seine Entscheidungen einstehen muss. Falls Gott, meine lieben Freunde, jeweils sofort eingreifen wollte, wenn Menschen Unrecht tun, geriete er ja geradezu in Abhängigkeit vom bösen Willen der Menschen. Er müsste ja dann eingreifen, weil der Mensch ihn zwingt durch sein Bösestun. Die Bösewichte hätten keine Folgen ihrer bösen Tat zu befürchten, weil Gott bereitstünde, sogleich auszubessern, was sie angerichtet haben. Die Menschen würden die Verantwortung für ihr Tun nicht mehr zu spüren bekommen. Deswegen kann Gott nicht eingreifen, sobald die böse Tat geschehen ist; er würde seine Göttlichkeit preisgeben, seine Souveränität.

Das Leid – das ist eine andere Überlegung – das Leid trifft Gute und Böse, Fromme und Gottlose, Schuldige und Unschuldige. Warum? Damit die Religion, die Gottesverehrung, der Dienst Gottes nicht zum Geschäft wird. Wenn den Gläubigen, den Frommen das Leid erspart bliebe, wenn die Religion vor dem Leid schützte, dann würden Glaube und Tugend zu berechnendem Eigennutz. Man wäre gut und tugendhaft, weil es nützt, weil es etwas einbringt. Man würde die Sünde nicht meiden, weil sie ein Anschlag gegen Gott ist, sondern weil sie irdische Nachteile bringt. Nein, so darf es nicht sein. Man muss Gott dienen ohne Eigennutz. Wenn auch die Gläubigen und Frommen unter das Leid gebeugt werden und sie es geduldig und ergeben im Aufblick zum Gekreuzigten tragen, erteilen sie den Menschen eine Lehre, nämlich die Lehre, dass man Gott selbstlos ohne Berechnung dienen muss. Das Leid ist ein tiefes und dunkles Geheimnis, in das das Licht der Zukunft hineinscheint. Aber es hat seinen Lebenswert, seinen Nutzen, ja, seinen Segen. Es bewahrt uns vor der beharrlichen Ansiedlung auf der Erde. Es hält uns in Unruhe und Bewegung. Es steht als Zeuge auf gegen die Endlichkeit der Welt und für den unendlichen Gott, auf den hin unser ganzes Sein, ob wir wollen oder nicht, immer unterwegs ist. Das Leid lockt uns heraus aus unserer Ichverliebtheit und Selbstsucht. Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Anhauch entfalten sich die Seelen. Es gilt wahrhaftig das Wort: Wer nicht gelitten hat, was weiß der? Der leidgeprüfte Mensch ist der stille, der lautere, der verstehende und der mitfühlende Mensch. Das Leid ist eine große Möglichkeit für den Menschen. Gott verhängt oder gestattet das Leid, damit wir freier und größer, milder und besser, tiefer und gehaltvoller, ruhiger und friedvoller werden. Das Leid vermittelt Werte, die ohne es schlummern würden. Es weckt seelische Tiefen auf, die ohne es nie aufbrechen würden. Freilich, wer nur diese Erde kennt, wer nicht die jenseitige Welt erwartet, wer nicht an das ewige Leben glaubt, kann mit dem Leiden nichts anfangen und kann mit ihm nicht fertig werden. Das Verständnis des Leids und des Segens des Leides ist nur jenem möglich, der das Schwergewicht des Lebens in der alle Geschichte transzendierenden Zukunft sieht. Er erblickt im kommenden Leben das Leitbild und den Maßstab für das jetzige Leben. Dieses jetzige Leben aber, meine Freunde, ist eine Pilgerschaft, eine Pilgerschaft in Schmerzen und Tränen in das jenseitige Leben.

Amen. 

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