Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
24. März 2019

Der menschgewordene Gottessohn

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag hatten wir festgestellt: Das Wesen des Christentums ist Jesus Christus. Aber diese Feststellung fordert eine andere heraus: Ja, was ist denn das Wesen von Jesus Christus? Das Wesen Christi umspannt in einem großen Bogen Göttliches und Menschliches. Er ist wahrhaftig der Gottmensch. Das Göttliche wurde nicht in das Menschliche und das Menschliche nicht in das Göttliche verwandelt. Vielmehr ist der Gottessohn, die zweite Person in Gott, so in die menschliche Natur eingegangen, dass er in ihr existiert und dass sie in der Kraft des Sohnes Gottes existiert. In der Menschwerdung wurde die Daseinskraft des LOGOS (der zweiten Person in Gott) die Daseinskraft der menschlichen Natur. Sie hat kein eigenes Dasein mehr, sondern sie existiert in der Kraft des LOGOS. Der LOGOS eignete sich eine menschliche Natur mit einer solchen Mächtigkeit an, dass er ihr Selbst wurde. Er ist das Ich der menschlichen Natur. Er vollzieht das Leben der menschlichen Natur. Die Geschichte und das Schicksal der menschlichen Natur wird von dem LOGOS bestimmt und ertragen. Wir haben hier einen ganz wesentlichen Gegenstand unseres Glaubens vor uns. Denn im Protestantismus, in der liberalen – sagen wir besser –, in der ungläubigen Theologie wird die Verbindung Jesu mit dem menschlichen Wesen als bloßes Erlebnis bezeichnet, ein einzigartiges Gotteserlebnis Christi; er hatte eine besonders starke Gottesempfindung. Wir sehen, dass hier ein fundamentaler Irrtum vorliegt. Hier wird in die Psychologie verlegt, was aus dem Sein stammt. Die seinshafte Einigung ist das Entscheidende in der gottmenschlichen Wirklichkeit Christi. In Christus ist eine göttliche Person, nämlich die Person des göttlichen Wortes, und in ihm sind zwei Naturen: eine göttliche und eine menschliche.

Sie können fragen: Ja, was ist denn eine Natur? Natur ist das, was einem bestimmten Ding seine innerste Bestimmtheit, seine Wesenheit, sein Sosein gibt. Also was den Menschen zum Menschen macht, was das Tier zum Tier macht, das ist die Natur. Natur ist die Wurzel der leiblich-seelischen Kräfte, mit denen wir die Tätigkeit vollziehen, mit denen wir hören, sehen, sprechen, reden, wollen. Die Natur wird nun besessen von der Person. Die Person ist es, die durch die Natur tätig wird. Die Person ist das Ich, das verantwortlich ist für das, was geschieht. Die Natur steht in der Verfügungsgewalt, in der Botmäßigkeit des Ich. Sie ist das Eigentum des Ich, der Besitzstand des Ich. Das Ich ist der Inhaber der Natur; das ist die Person.

Die Menschwerdung des LOGOS bedeutet, dass eine bestimmte menschliche Natur so mit dem LOGOS geeint und zur Seinsgemeinschaft verbunden worden ist, dass sie nicht mehr einen menschlichen Selbststand in sich selbst hat, sondern dass sie nur noch Selbststand in der göttlichen Person hat. Sie ist nicht mehr der Besitz eines menschlichen Ich, sondern des Ich des göttlichen LOGOS. Nicht mehr ein menschliches Ich redet, handelt, denkt, will mit den Kräften der menschlichen Natur, sondern das Ich des Gottessohnes. Das ist das Geheimnis der hypostatischen Union, wie wir diese Verbindung bezeichnen. Bei dieser Sachlage darf und muss man die Handlungen der menschlichen Natur vom göttlichen LOGOS aussagen. Er ist der in der menschlichen Natur (und in der göttlichen Natur selbstverständlich ebenso) Tätige. Er verantwortet also auch die Tätigkeiten der menschlichen Natur. So kann man das fast Unglaubliche sagen, ja, muss es sagen: Der Sohn Gottes, sofern er nämlich Inhaber der menschlichen Natur ist, ist geboren worden, ist der Sohn der Jungfrau Maria. Er isst und trinkt, er wird müde und schläft, er weint und tröstet, er zürnt und verzeiht, er fürchtet und überwindet, er ist an diesem und an jenem Ort, er hat sein Blut vergossen, er schenkt uns seinen Leib. Eigenschaften und Tätigkeiten der menschlichen Natur werden von dem göttlichen LOGOS ausgesagt. Diese Wahrheit ist gegen Irrlehrer endgültig und treffend ausgesagt worden vom Konzil von Chalcedon im Jahre 451. Da wurde festgestellt: Unser Herr Jesus ist vollkommen der Gottheit und vollkommen der Menschheit nach. Er ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Und seine Menschheit besteht aus einer vernünftigen Seele und einem Leibe. Er ist wesensgleich dem Vater der Gottheit nach, er ist wesensgleich der Mutter der Menschheit nach. Er ist der Einziggeborene, der in zwei Naturen unvermischt und unverwandelt, ungetrennt und ungesondert besteht. Das ist die erhellende Wahrheit von Chalcedon.

Wir beten diese Wahrheit auch im Glaubensbekenntnis, vor allem im Glaubensbekenntnis des Athanasius, in dem Athanasianischen Glaubensbekenntnis, das wir Priester ja im Brevier immer wieder beten dürfen. Da heißt es: Gott ist er als gezeugt vor aller Zeit aus dem Wesen des Vaters. Mensch ist er, in der Zeit aus dem Wesen der Mutter geboren. Vollkommener Gott, vollkommener Mensch, bestehend aus Geistseele und Menschenleib. Gleich dem Vater der Gottheit nach, geringer als der Vater der Menschheit nach. Sowohl Gott als Mensch sind es doch nicht zwei, sondern der eine Christus, einer nicht durch Umwandlung der Gottheit in den Menschen, sondern durch Aufnahme der Menschheit in die Gottheit. Er ist einer, nicht durch Vermischung des Wesens, sondern durch Einheit der Person.

Die Lehre von der personalen Einheit in der Zweiheit der Naturen wird in der Heiligen Schrift vielfach verbürgt. Ich will zwei Stellen zeigen, wo diese Wahrheit ausgesprochen wird. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es: „Und das Wort ist Fleisch geworden.“ Das Wort (der LOGOS, die zweite Person in Gott) ist Mensch geworden. Der LOGOS ist eingetreten in den Bereich des Fleisches, d.h. der Vergänglichkeit, der Hilflosigkeit, der Machtlosigkeit, der Nichtigkeit. Er, der Unwandelbare, konnte nicht in ein Geschöpf verwandelt werden. Er konnte nicht aufhören zu sein, was er immer war, und anfangen zu sein, was er nicht war. „Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er nicht hatte.“ Er stieg vom Himmel herab, nicht als ob er einen Ort verlassen hätte und einen unermesslichen Raum durcheilend an einen anderen Ort gegangen wäre. Nein, der Unermessliche, der Allgegenwärtige ist keinem Raum näher, keinem ferner. Er trägt und wirkt alle Räume, er erfüllt sie. Er hat eine Grenze überschritten, aber keine sichtbare, sondern die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf, die Grenze, die zwischen der Seinsart des Geschöpfes und der Seinsart des Schöpfers verläuft. Er ging hinüber über die Grenze, die zwischen Gott und Geschöpf aufgerichtet ist, und nahm die Natur des Fleisches, also die vergängliche menschliche Natur, an, sodass sie seine Natur, die Natur des personhaften Gotteswortes wurde. Er ergreift sie und verbindet sich mit ihr. Die Menschwerdung des LOGOS ist keine Einschränkung auf den Raum der von ihm angeeigneten menschlichen Natur, sodass er jenseits ihrer nicht gegenwärtig wäre, nein, sie ist vielmehr eine besondere, einmalige, sonst nirgends vorkommende Beziehung der Gottheit zu einer konkreten, aus Maria stammenden menschlichen Natur.

Die zweite Stelle, die ich Ihnen vorlegen möchte, stammt von Paulus aus dem Brief an die Philipper. Da heißt es: „Er, der in Gottesgestalt war, hat nicht geglaubt, das Gottgleichsein wie ein Beutestück festhalten zu sollen, nein, er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an, wurde den Menschen gleich und ward dem Äußeren nach als ein Mensch empfunden.“ Der Sohn hat ein göttliches Dasein: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ Aber der Sendung des Vaters gehorsam, hat er nicht gemeint, seine gottgleiche Würde umklammern, festhalten zu sollen, nein, er begab sich ihrer, um ein Knechtsdasein dafür einzutauschen, um menschengleich zu werden an Gestalt und Gebärde. Er erniedrigte sich im Gehorsam, ja, bis zum Gehorsam am Kreuze. Die Person des göttlichen LOGOS bleibt unwandelbar die gleiche, aber er hat zu seiner göttlichen Seinsweise noch eine menschliche hinzugenommen. Er, der Reiche, ist um unseretwillen arm geworden, damit wir durch seine Armut reich würden.

Die personale Einheit zweier Naturen wird auch von all den Stellen in der Heiligen Schrift bezeugt, in denen von ein und demselben Christus Göttliches und Menschliches ausgesagt wird. Sie sind unerklärlich, wenn man nicht eine Zweiheit von Seins- und Tätigkeitsformen in Christus, in dem einen Ich Christi annimmt. Er ist noch nicht 50 Jahre alt – das kann jeder nachprüfen –, und doch erklärt er: „Ehe Abraham ward, bin ich.“ Er spricht: „Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn aufbauen.“ Er redete dabei von dem Tempel seines Leibes, wie Johannes versichert. Ein und derselbe stirbt und erhebt sich in überlegener Leichtigkeit wieder vom Tode. Christus ist der Herr, aber der Herr, der mit seinem Blute sich eine Kirche erkauft hat. Christus ist Gott, und stammt doch dem Fleische nach von den Vätern. In Christus ist eine Herrlichkeit, die kein Weiser dieser Welt erkannt hat, und doch wurde er in seiner Herrlichkeit ans Kreuz geschlagen. Erstaunlich an diesen Aussagen ist die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der das Widersprüchliche und Gegensätzliche gesagt wird. Derjenige, von dem solche Aussagen gemacht werden, lebt in der Entrücktheit Gottes und doch in der Hinfälligkeit des Leibes. Er lebt in der Unsterblichkeit des göttlichen Lebens und ebenso in der Vergänglichkeit der menschlichen Ohnmacht.

Einer der größten Lehrer unserer Kirche war Papst Leo der Große im 5. Jahrhundert. Wenn seine Lesungen in unserem priesterlichen Gebetbuch, im Brevier, erscheinen, bin ich immer entzückt. Sie sind präzise, genau und von tiefer religiöser Glut durchformt. Von Leo dem Großen heißt es nun: „In Christus müssen wir die wahre Gottheit und die wahre Menschheit anerkennen. Er ist das Fleisch und das Wort. Wie er eines Wesens ist mit dem Vater, so ist er auch einer Natur mit der Mutter. Die Person wird nicht verdoppelt, die Wesenheiten werden nicht vermischt. Gemäß seiner Kraft ist er leidensunfähig, gemäß seiner Niedrigkeit ist er sterblich. Aber beider bedient er sich so, dass die Kraft die Schwäche verherrlicht und die Schwäche die Kraft nicht verdunkeln kann. Er, der die ganze Welt umgreift, lässt sich von seinen Häschern umgreifen. Er wird gefesselt von den Händen derer, die in ihrem Herzen ihn nicht fassen können. Die Gerechtigkeit widersteht nicht dem Ungerechten, und die Wahrheit widersteht nicht den falschen Zeugen.“ Die Anhänger Jesu, die Kirche, haben versucht, die einzigartige Wirklichkeit Christi in Begriffe zu fassen. Nur mit Begriffen kann man die Bilder und die Aussagen der Heiligen Schrift logisch und verstandesmäßig in den Griff bekommen. Diese Versuche sind geglückt, sie sind richtig, sie sind verbindlich, sie besitzen die Garantie des Heiligen Geistes. Diese Aussagen sind nicht bloße Übungen des Verstandes oder ein Spiel der Begriffe, sie besitzen vielmehr Lebenskraft und Beständigkeit.

Die Wahrheit von der Menschwerdung des LOGOS ist die Bürgin unseres Heiles. Dadurch, und nur dadurch, dass der LOGOS sich aufs Innigste mit einer Natur verband, empfängt die Schöpfung das vom Vater in ewiger Zeugung geschenkte Leben. Licht, Liebe, Seligkeit erfüllt die menschliche Natur, die der Sohn angenommen hat. Und sie ist der Weg, durch den wir zum Vater kommen. Indem wir uns an die menschliche Natur Jesu anklammern, indem wir in der Taufe mit ihr verbunden werden, gehen die Kräfte dieser Natur sowie die Kräfte der göttlichen Natur auf uns über. Was an Jesus geschah, hat Bedeutung für die gesamte Menschheit. Indem die Menschen in Gemeinschaft mit ihm treten, gewinnen sie Anteil an seiner Gottheit. Das war eben der Fehler des Nestorianismus. Wenn die Einheit zwischen Gott und Mensch bloß eine äußere wäre, wie im Nestorianismus gelehrt wird, dann würden die beiden, Gott und Menschen, nebeneinander her gehen; es gäbe keine Verbindung; es käme nicht zu einer Überschreitung der Grenze; es käme nicht zu einer Überbrückung der Kluft; es käme nicht zu einer Schließung des Abgrundes; der Mensch bliebe in der Todeszone. Die Heftigkeit, mit der der Kampf gegen den Nestorianismus geführt wurde, erklärt sich aus der Sorge um die Wirklichkeit der Erlösung von Sünde und Tod. Die Vereinigung der menschlichen Natur mit dem Gottessohne begann in dem Augenblick, in dem diese Natur zu existieren anfing, also in dem Augenblick der Empfängnis Mariens. Es gab keinen Zeitpunkt, in dem diese Natur nicht vom LOGOS durchherrscht worden wäre. Auch in der Grabesruhe war die entseelte Natur, der Leib Christi, mit der Gottheit verbunden. Diese Einheit zwischen Gottheit und Menschheit wird nie ein Ende nehmen. Nie mehr wird die menschliche Natur Jesu aus ihrer innigen Verbundenheit mit dem Ich des Gottessohnes entlassen. Durch sie nehmen wir den Weg zum Vater. Wenn es uns gegeben sein wird, meine lieben Freunde, in die Gottesschau einzutreten, werden wir erkennen, was wir jetzt glauben. Gott betrügt uns nicht. Der Heilige Geist täuscht uns nicht. Die Kirche geht nicht in die Irre. Wir dürfen mit Paulus sprechen. „Ich weiß, wem ich geglaubt habe.“

Amen.              

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