Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. August 2018

O Gott, warum verwirfst du uns gänzlich?

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Eingangslied der heutigen heiligen Messe lässt uns die Kirche beten: „O Gott, warum verwirfst du uns gänzlich? Warum wütet dein Zorn gegen die Schäflein deiner Weide?“ Mich dünkt, dass diese Klage und diese Frage in unserer Zeit eine besondere Berechtigung haben. Die Kirche Gottes ist in einem beklagenswerten Zustand. Darüber sind sich alle einig, die wissen, wie sie sein sollte und sein könnte. Wir Alten wissen zudem, wie sie einmal war, etwa vor 70 Jahren. Viele Christen sind im Glauben unsicher geworden. Aus Gläubigen sind Skeptiker und Zweifler geworden. Das Glaubenswissen der meisten katholischen Christen ist minimal. Sie kennen weder die Glaubensgesetze noch die Sittengebote Gottes. Die Masse der Katholiken hat sich nichtkatholischen Vorstellungen angenähert, ja sie übernommen; sie sind protestantisiert. Hunderttausende sagen sich seit Jahrzehnten von der Stiftung Christi los. Die katholische Kirche verliert jedes Jahr Gläubige im Umfang einer Großstadt. Kinder und Jugendliche sind in weitem Umfang der Kirche und dem Glauben entfremdet; ihre religiöse Praxis tendiert gegen null. Eifrige und fromme Heranwachsende existieren nur noch in Gruppen und Gegenden, wo der zersetzende Einfluss der modernistischen Theologie ferngehalten wird. Die Beichtstühle ziehen die Menschen nicht mehr an. Der Empfang des Bußsakramentes hat für die meisten Katholiken aufgehört. Das Bußsakrament ist zu einem verlorenen Sakrament geworden. Der Ausfall des Beichtens hat verheerende Folgen: Die Reinigung der Seelen unterbleibt; der Kampf gegen die Sünde wird nicht mehr geführt; die Seelen verkommen im Sumpf der Sünde. Die einst gefüllten, an hohen Festtagen überfüllten Gotteshäuser haben sich geleert. Zahllose katholische Christen haben den regelmäßigen Besuch des Sonntagsgottesdienstes aufgegeben; über 90% der Katholiken bleiben dem Messopfer am Sonntag fern. In den Empfang des Herrenleibes ist die Unbedenklichkeit eingezogen. Die Selbstprüfung der Kommunionwürdigkeit hat aufgehört. Ganze Reihen schreiten unbedenklich zur Entgegennahme dessen, was die Gläubigen als das allerhöchste Gut ansehen. Der Priesterberuf hat seine Anziehung verloren; die Priesterseminare sind leer. Der Priestermangel nimmt erschreckende Ausmaße an. Priester, die jahrelang ihren Dienst gewissenhaft und zuverlässig ausgeübt haben, werden auf einmal unsicher, geben die tägliche Feier des Messopfers auf, unterlassen das Stundengebet, desertieren von ihren Gemeinden und suchen ihr vermeintliches Glück in den Armen einer Frau. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Gesamtkirche hunderttausend Priester verloren. Noch heute geben jedes Jahr in Deutschland hundert Priester ihren Dienst auf. Die Verbleibenden sind weithin verunsichert. Ein deutscher Erzbischof hat einem Bekannten von mir erklärt, dass die Mehrzahl seiner Priester nicht mehr an die Wesensverwandlung glaubt. Pfarreien werden zusammengelegt, aufgehoben, Gotteshäuser werden aufgeben, fremden Religionsgemeinschaften ausgeliefert. Die guten Gläubigen fragen voller Bangnis: Wer wird die Jesu Sendung weitertragen, wenn die Priesterschaft so weiter zusammenschmilzt? Wer wird seine Lehre den Menschen unterbreiten? Wer wird sein heiliges Opfer feiern? Die meisten religiösen Verbände sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie sind drastisch zusammengeschmolzen, haben Zehntausende von Mitgliedern verloren und leiden an katastrophalem Mangel an Nachwuchs. Nicht wenige Orden und Kongregationen stehen vor dem Aussterben. Der Wille, Gott in Armut, Keuschheit und Gehorsam zu dienen, ist im deutschen Katholizismus nur mehr ein schwaches Fünklein. Die nachkonziliaren Katholiken wollen reden, genießen und kritisieren, aber sie wollen nicht dienen.

Katholische Christen schauen in jeder Not aus nach dem Mittelpunkt der Kirche: nach dem Papsttum. Von dem gegenwärtigen Nachfolger Petri werden merkwürdige Aussagen bekannt, welche die Gläubigen verwundern, bestürzen oder ratlos machen. In seiner Verkündigung fehlen ganze unentbehrliche Gegenstände. Der gegenwärtige Inhaber des Primats hat meines Wissens noch niemals die verbindliche Lehre der Kirche über das Geschlechtsleben der Menschen vorgetragen. Was bedeutet dieses Schweigen? Steht Bergoglio noch hinter der unveränderlichen Lehre der Kirche? Die Klarheit und Eindeutigkeit der Rede, die von dem Träger des Primats erwartet werden muss, ist bei ihm nicht mehr erkennbar. Von den meisten Bischöfen gehen weder Ansporn noch zündende Kraft aus. Sie leiden an Führungsschwäche und Tatenlosigkeit. Es gibt keine mitreißenden Persönlichkeiten mehr unter den Bischöfen; dafür aber halten Skandale von Bischöfen die Gläubigen in Atem.

Ich halte nichts, meine lieben Freunde, von der beruhigend gemeinten Auskunft, es habe auch in anderen Perioden der Kirchengeschichte Krisen gegeben. Ich bin überzeugt: Die heutige Notlage der Kirche ist mit keiner Störung und Schwäche der Vergangenheit zu vergleichen. Erstens: Sie ist von innen erzeugt. Die eigenen Leute haben die Kirche an den Rand des Abgrunds gebracht. Zweitens: Die Notlage ergreift das Gesamt des kirchlichen Lebens, zuerst natürlich den Glauben, aber darüber auch den Gottesdienst, das Apostolat und die Mission. Drittens: Der Heilige Stuhl, also das Papsttum, ist nicht mehr Herr der Lage. Päpstliche Weisungen stoßen auf Unverständnis und Ablehnung, sofern sie überhaupt ergehen und nicht das Chaos noch vermehren. Es ist offensichtlich: Die Kirche in Europa, vor allem in Deutschland ist eine sterbende Kirche. Vieler katholischer Christen hat sich der Eindruck bemächtigt, Gott habe seine Kirche aufgegeben oder verlassen. Der allgemeine Zerfall lässt sie sehnsüchtig bitten und flehen, er möge eingreifen und seiner Kirche aufhelfen. Sie erinnern sich: Christus ist das Haupt der Kirche. Als solches lenkt und leitet er sie. Müsste er nicht seiner Kirche zu Hilfe kommen? Sie ist doch sein Leib, sie ist doch seine Braut, die er liebt. Es kann ihm doch nicht gleichgültig sein, was mit seiner Herde geschieht, die er sich mit seinem kostbaren Blute erkauft hat. Er hat ihr doch seinen Beistand versichert: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ Wir glauben an dieses Wort, aber dürfen wir auch seine Einlösung erfahren? Die Gläubigen schauen aus nach der Hand Gottes, immer noch gläubig. Wie oft haben mir fromme Seelen versichert: Jetzt muss Gott eingreifen, jetzt wird er eingreifen; aber er hat nicht eingegriffen. Sühneseelen versammeln sich an Wallfahrtsorten und Gebetsstätten, regelmäßig, über Jahrzehnte, halten Nachtanbetung, bestürmen Gott. Aber der Himmel reißt nicht auf und der machtvolle Arm Gottes zeigt sich nicht. Ein Schüler von mir, ein gläubiger Priester, fragte mich: „Hat Gott denn Freude am Niedergang seiner Kirche?“ Die Kirche betet unaufhörlich um das Kommen Christi, nicht bloß um das Kommen am Ende der Tage, sondern auch um das Kommen in der Zeit. Warum kommt er nicht?

Will Gott vielleicht seine Kirche prüfen, indem er all das Ungemach zulässt, das in den vergangenen Jahrzehnten über sie gekommen ist? Die Drangsal zeigt ja, wie es um die Glaubenstreue eines jeden steht. Das Leiden ist die Feuerprobe für die Menschen, es ist auch die Feuerprobe für die Religionen. Stehen wir mitten in dieser Prüfung? Aber wie lange wird sie noch dauern? Was wird noch übrig sein, wenn sie aufhört? Könnte es sein, dass Gott den selbstbewussten Machern in der Kirche, die angeblich immer am besten wissen, wie und womit ihr aufzuhelfen sei, eine Lektion erteilen will, indem er zulässt, dass sich ihre Pläne, Vorhaben und Änderungen der letzten 50/60 Jahre auswirken bis zu dem Punkte, wo auch sie einsehen müssen: Wir haben uns verirrt? Will Gott vielleicht die verhängnisvollen Auswirkungen der Pseudoreformen abwarten, damit endlich die Einsicht in ihre Verfehltheit sich einstellt? Oder muss sich das Geheimnis der Bosheit erst vollenden? Es scheint, dass ein Übel manchmal erst zur Reife kommen muss, bevor der Umschlag erfolgen kann. Denken wir an die Herrschaft Hitlers. Der böse Dämon, dieser Menschheitsverbrecher, konnte nicht beseitigt werden, wie er es verdient hätte. Attentatspläne kamen nicht zur Ausführung, Attentate scheiterten. Der letzte große Attentatsversuch ließ den Mann, der so viel Unheil über die Menschheit gebracht hat, unversehrt. Er musste durch eigene Hand sterben. Das deutsche Volk aber musste den Leidensbecher bis zur Neige, bis zum letzten Tropfen trinken. Stehen wir vielleicht heute, was die Kirche angeht – mutatis mutandis, also immer im Vergleich, abgesehen von dem, was nicht verglichen werden kann – vor einer ähnlichen Situation? Wartet Gott vielleicht deswegen, weil die Zahl der Opfer, die für Christus und mit Christus leiden und sterben, noch nicht vollendet ist? Muss es vielleicht erst zu einer blutigen Verfolgung kommen, nicht nur hie und da, wie in Mexiko oder Nigeria, sondern auch in Europa und überall? Im letzten Buch der Bibel fragen die um ihres Glaubens Hingeschlachteten Gott: „Wie lange, o Herr, richtest du nicht und rächest nicht unser Blut an den Bewohners der Erde?“ Sie erhalten die Antwort von Gott: „Wartet noch, bis die Brüder, die gleich getötet werden sollen, vollendet sind.“

Dass Gott eingreifen kann, ist für den gläubigen Christen keine Frage. Er ist eine lebendige, allwissende, allmächtige und liebende Person. Aber wie kann er eingreifen? Gott kann unmittelbar eingreifen als Herr der Natur. Er kann Ausbrüche von Vulkanen geschehen lassen, die riesige Aschenwolken in die Atmosphäre werfen, welche den Himmel über großen Gebieten der Erde verdunkeln, sodass die Landwirtschaft zum Erliegen kommt. Denken Sie an den Ausbruch des Mount St. Helen. Er kann den Meeresspiegel ansteigen lassen, sodass zahlreiche Inseln vom Meer verschlungen und die Küsten aller Erdteile überschwemmt werden, Millionen Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren, der Kampf ums Dasein unerhörte Ausmaße annimmt. Gott kann die Erde beben und zittern lassen, riesige Spalten und Risse im Erdreich entstehen lassen, sodass Dörfer und Städte und ganze Landschaften zerstört werden. Gott kann eingreifen als der Herr der Geschichte. Es kann sich Land gegen Land erheben. Es können ausgedehnte Kriege entstehen. Der bayerische Seher Irlmaier hat vor Jahrzehnten einen Dritten Weltkrieg vorausgesehen. Nicht wenige Staaten besitzen Waffen, die ganze Städte in Schutt und Asche legen, weite Bezirke der Erde zerstören können. Gott kann Seuchen und Epidemien entstehen, neue unbekannte Krankheiten auftreten lassen, denen die Menschheit hilflos ausgeliefert ist. Was ist mit der Krankheit Aids? 37 Millionen Menschen sind mit Aids angesteckt. Jedes Jahr stirbt eine Million Menschen an Aids. Gott kann mittelbar eingreifen. Er kann Menschen erwecken, die in seinem Auftrag handeln und die mit Gewalt und Terror die Menschheit in Schrecken versetzen. In alten Zeiten sah man in dem König der Hunnen, Attila, und in dem Herrscher der Mongolen, Dschingis Khan, die Geißel Gottes am Werk. Wie steht es heute mit dem Herrscher von China? Gott kann aber auch Heilige aufstehen lassen, die durch ihre heroische Tugend, ihre brennende Gottes- und Nächstenliebe, ihren verzehrenden Eifer für Gottes Sache die Menschen aufrütteln, zum Nachdenken und zur Bekehrung führen. Gott kann aufsehenerregende Bekehrungen von bedeutenden und allgemein anerkannten Persönlichkeiten bewirken, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert wiederholt geschehen sind. Gott kann Todesfälle von hohen Gliedern der kirchlichen Hierarchie eintreten lassen, die unter Umständen sterben, die aufrüttelnd auf viele Zeitgenossen wirken. Gott kann aber auch Abfälle von Klerikern und Laien, von Bischöfen und Kardinälen eintreten lassen, welche die Glieder der Kirche erschrecken und bekümmern. Was ist es um die angebliche Weissagung von Fatima: Rom wird den Glauben verlieren? Wir können Gott nicht vorschreiben und wir brauchen ihm nicht vorzuschlagen, auf welche Weise er seine Kirche retten soll. Gott hat zahllose Möglichkeiten zu zeigen, dass er lebendig ist, dass er die Welt beobachtet, dass er seine Kirche nicht verlassen hat. Aber wenn Gott auf seine Weise eingreift, ist immer noch die Frage, ob die Menschen diese Sprache Gottes verstehen. Es ist durchaus denkbar, dass die meisten diese Ereignisse als natürlich ansehen und sich nicht bekehren. Ja, es ist sogar möglich, dass die Masse der Menschen die Schläge Gottes zum Anlass nimmt, sich erst recht gegen ihn aufzulehnen.

Wenn Sie mich fragen, meine lieben Freunde: Wie wird es weitergehen? Haben Sie keinen Trost für uns?, dann antworte ich wie folgt: Gott lebt noch. Er ist weder müde noch hat er abgedankt. Gott sieht das Elend seiner Kirche. Er sieht es umfassender und tiefer als wir. Die Verheißungen Gottes stehen noch. Er kann sich nicht selbst untreu werden. Aber das Leiden Christi ist noch nicht vollendet. Es muss sich auswirken im Leiden der Christen. Es wird erst mit dem Tod des letzten Christusgläubigen vollendet sein. Die Versuchungen, die der Teufel Christus bereitete, bereitet er der Kirche bis zum letzten Tage ihres Bestehens. Gerade dort, wo der Kampf gegen die Sünde am ernstesten geführt wird, macht der Widersacher alles Guten die größten Anstrengungen, um die Menschen zu der Sünde zu verführen. Das Böse in der Kirche ist ein unaufhellbares Geheimnis. Es hat seinen Möglichkeitsgrund in der menschlichen Freiheit und in der göttlichen Vorsehung. Dabei ist die Trägheit der Guten verhängnisvoller als die Bosheit der Bösen. Doch das Böse in der Kirche ist immer so, dass das Gute in einer tieferen Schicht in ihr aufbricht. Sein Wachsen ist unhörbar, aber es geschieht, und der Widerstände sind viele, aber eines Tages wird es sich durchsetzen. Die Kirche verzweifelt nicht und kann nicht verzweifeln, auch wenn ihre Existenz aufs Äußerste bedroht ist und das menschliche Auge keinen Ausweg sieht. Die Kirche resigniert nicht. Sie trägt eine unvergängliche Hoffnung in sich. Der heilige Augustinus hat in einer auch bedrohlichen Zeit geschrieben: „Die Kirche wird wanken, wenn ihr Fundament wankt. Aber wie sollte Christus wanken? Solange Christus nicht wankt, wird auch die Kirche nicht wanken in Ewigkeit.“

Amen.

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