Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
17. Juli 2016

Wer meint zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Texte der Leseordnung in der heutigen heiligen Messe sind von äußerstem Ernst. In der Epistel spricht der Apostel Paulus von den Strafgerichten, die über Israel gekommen sind, und im Evangelium wird berichtet, wie der Herr über das verlorene Jerusalem weinte, dem das Strafgericht unmittelbar bevorstand. Die Kirche lässt diese ernsten Lesungen jedes Jahr vortragen. Sie dienen als ständige, zeitlos gültige Warnungen für die ganze Christenheit. Manchmal scheinen sie sogar in eine bestimmte Zeit hineingesprochen zu sein. Im August 1914 wurden auch diese Lesungen vorgetragen, und manche wache Christen haben sie damals schon als Prophezeiung eines bitteren Endes des 1. Weltkrieges angesehen. In der Epistel lässt der heilige Paulus uralte Bilder aufleuchten aus der Geschichte des israelitischen Volkes: zuerst den Tanz um das goldene Kalb. Sie vertauschten die Herrlichkeit ihres Gottes mit dem Bild eines Tieres; es kamen an jenem Tag dreitausend Mann um. Dann die Unzuchtorgien im Moabiterland: da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Israel. Die Zahl derer, die durch die Heimsuchung des Herrn fielen, waren vierundzwanzigtausend. Das Volk wird missmutig wegen des Mangels an Brot und Wasser, Drohreden gegen den Herrn und gegen Moses erheben sich. Da sandte Gott Schlangen, durch deren Biss die Menschen getötet wurden. Die Kundschafter, die die Israeliten ausschickten in das Land Kana, berichteten von der Menschenmenge und dem riesigen Geschlecht in diesem Lande. Da ließ sich das Volk ängstigen und murrte gegen Gott. Zur Strafe durfte keiner von diesen Israeliten in das gelobte Land einziehen. Das Alte Testament ist keine Geschichte für Kinder. Das Alte Testament ist auch nicht nur ein weltliches Geschichtsbuch, sondern das Alte Testament ist eine Weissagung der Heilsgeschichte. „Dies alles widerfuhr jenen vorbildlich; es wurde geschrieben als Warnung für uns, die wir in den letzten Zeiten leben.“ Diese zeitlos gültige Warnung heißt: Dem Abfall von Gott folgt das Strafgericht Gottes. Dem hartnäckigen Widerstand gegen das Gnadenwirken Gottes folgt die Verwerfung. Die Christen sollen nicht begehren, wie einst die Israeliten begehrten, sie sollen keinen Götzendienst treiben, sie sollen sich durch ihre Unachtsamkeit und falsche Unbesorgtheit nicht zu ähnlichen Freveln hinreißen lassen. „Sie aßen und tranken und tanzten um das goldene Kalb.“ Sie sollen sich nicht zur Unzucht verleiten lassen. Wir lernen aus den Worten des Apostels Paulus, wie wir zu den Büchern des Alten Testamentes stehen sollen. Das Alte Testament ist nicht bloß ein historisches Buch, es hat unmittelbare Gegenwartsbedeutung. Die im Alten Testament aufgeschriebenen Ereignisse haben einen tiefen Sinn für die christliche Gemeinde. Sie sollen die Christusgläubigen in der Heilszeit vor ähnlichen Verfehlungen bewahren. Die Ereignisse des Alten Bundes sind auch geheimnisvolle Vorbedeutungen der Endzeit. Sie sollen die Gläubigen, die am Ende der Zeit leben, hellhörig machen, bedachtsam, jedes falsche Selbstvertrauen soll ausgeschlossen werden. Die Israeliten waren alle unter der Wolke, sie tranken alle aus dem Felsen, und doch fand Gott an ihnen kein Wohlgefallen. D.h.: Seid gewarnt, ihr, die ihr den Leib des Herrn in euch aufnehmt, ihr, die ihr getauft seid durch das Wasser der heiligen Taufe, habt keine absolute Heilsgewissheit, wie man euch einreden will, sondern seid vorsichtig. „Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.“

Die gleiche Wahrheit verkündet das Evangelium im Neuen Testament. Christus hat um sein Volk geworben, er hat alles für es getan. Er hat es geheilt von den Leiden und Krankheiten, er hat die Dämonen vertrieben, er hat ihm gepredigt, bis er müde war und nicht einmal zum Essen kam. Aber der Großteil des Volkes hat seine Botschaft nicht angenommen; es war umsonst. Das widerspenstige Volk hat die Verkündigung des Herrn in der Mehrheit abgelehnt. So ist Jesus, wenn man will, gescheitert, vor seinem Volk gescheitert. Doch Gott lässt mit sich nicht spotten. Es folgt das Strafgericht über das widerspenstige Volk: „Sie werden dich und deine Kinder niederwerfen und keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“ Über Jerusalem steht das fürchterliche Wort „zu spät“. Sein Geschick ist unabwendbar; was Gott beschlossen hat, das geschieht. Der Herr weint über Jerusalem. Es sind Tränen der Erschütterung und der Trauer. Erschütterung, dass das Volk sich nicht bekehrt hat, Trauer, dass jetzt die Strafe über es kommt. Vier römische Legionen: die 5., die 10., die 12. und die 15. Legion – wir kennen ihren Namen – schließen Jerusalem ein, begleitet von Kavallerie, Pionieren und Hilfstruppen, fast 80 000 Mann unter dem Kommando von Titus, dem Sohne des Kaisers Vespasian. Sie schließen Jerusalem ein, sie bringen Belagerungsmaschinen an, die tiefe Breschen in die Mauern schlagen. Aus Erdwerken entsteht ein Wall in Tag- und Nachtarbeit, ein mächtiger hoher Wall, der Jerusalem umgibt. In Jerusalem herrschen Hunger, Verzweiflung, Tod, aber die Juden kämpfen wie besessen und wehren sich und weichen nicht. Die Legionäre dringen in erbittertem Häuserkampf in die Stadt ein, Feuer bricht aus, verzehrt alles Brennbare. Titus befiehlt, die Stadt und den Tempel dem Erdboden gleichzumachen; und so geschieht es. Im September 70 sind die letzten Bollwerke erobert, ist der Widerstand endgültig erloschen, das alte Jerusalem existiert nicht mehr.

Was geschrieben steht, ist uns zur Warnung geschrieben. Wir haben das Heil nicht in der Tasche, wir müssen täglich darum ringen. Das Los der Menschen ist darum verschieden. Der Heiland hat einmal ein Gleichnis erzählt, das die meisten von Ihnen wahrscheinlich nicht kennen: Es werden zwei auf einem Lager sein; der eine wird aufgenommen, der andere verworfen. Es werden zwei an einer Mühle sein; die eine wird aufgenommen, die andere verworfen. Damit schildert der Herr die Unterschiedlichkeit des Schicksals je nach dem Verhalten des Menschen. Und deswegen steht in der Epistel: „Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.“ Das ist die Aufforderung zur Vorsicht, zur Achtsamkeit und Wirksamkeit. Über jeden Menschen, meine lieben Freunde, können Versuchungen kommen. Wurde doch sogar unser Herr und Heiland versucht, um wie viel mehr wir. Vollkommene Sicherheit und vollkommenen Frieden gibt es auf Erden nicht. Es ist kein Stand so heilig, es ist kein Ort so abgelegen, dass Versuchung dort nicht Eingang finden könnte. Kein Mensch ist ganz sicher vor Versuchungen, denn wir tragen den Keim der Versuchung in uns. Die eine Art der Versuchungen sind Anreizungen zum sittlich Bösen, zur Übertretung der Gebote Gottes, der Drang zu besitzen, zu genießen, zu glänzen; dieser Drang ist in uns. Das ist der Ansatzpunkt für die Versuchungen. Er erweckt in uns Vorstellungen: Es wäre so schön, das zu besitzen; es wäre so reizend, das Erlebnis zu haben; er wäre so erfüllend, diese Ehre zu erlangen. Die Ungläubigen und die Sünder greift Satan nicht an, denn die besitzt er ja schon. Aber die Gläubigen und die andächtigen Freunde Gottes plagt und versucht er auf mancherlei Weise. Die andere Weise der Versuchung ist der Angriff auf die Zugehörigkeit zur Wahrheit. Auch unser Glaube kann angefochten werden. Es gibt heute viele Irriges lehrende Theologen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das unsere Kinder betrifft. Unsere Kinder hören im Religionsunterricht, die Weissagung über die Zerstörung Jerusalems hat Jesus gar nicht gesprochen, die ist ihm von den Evangelisten in den Mund gelegt worden; das lehren heute katholische Theologen. Es ist deswegen kein Wunder, dass Menschen vom Glauben abfallen – 7000 Kirchenaustritte in der Diözese Mainz im vergangenen Jahr! Eine ganz besondere Gefahr besteht darin, dass man sich der erkannten Wahrheit widersetzt, dass man willentlich und bewusst sich der erkannten Wahrheit versperrt. Wir wissen nicht, wie viele unserer Zeitgenossen sich in dieser Einstellung befinden, aber kann es nicht solche Menschen geben? Die eine Ahnung haben, dass das Christentum die absolute Religion ist, dass die Kirche die Wahrheit lehrt, aber die sich weder der Religion noch dem Christentum noch der Kirche wirklich zuwenden, weil ihnen dieser Anschluss zu kostspielig ist. Man müsste sein Leben ändern, man könnte nicht mehr so lässig und bequem dahinleben wie bisher. Der Glaube verlangt etwas, er verlangt viel. Er verlangt, dass wir liebgewordene Gewohnheiten ändern und angenommene Eigenschaften ablegen. Unser Heiland hat uns gewarnt: „Seht zu, dass euch niemand irreführt, denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin Christus, und sie werden viele irreführen.“ Auf dieser Erde, meine lieben Freunde, bleibt alles brüchig, gefährdet, verlierbar. Hier auf Erden gibt es keine absolute Sicherheit. Schon gar nicht darf man sich auf Geld und Gut, auf irdische Schätze oder auf weltliche Macht verlassen, auch nicht auf Beliebtheit und Ansehen, auf Erfolg und Karriere. Gerade ein wirklich oder scheinbar glänzendes, vom Erfolg verwöhntes Leben kann in einem Augenblick zusammenbrechen. „Noch keinen sah ich fröhlich enden, auf den mit immer vollen Händen die Götter ihre Gaben streuen“, heißt es bei Schiller. Noch keinen sah ich fröhlich enden, auf den mit immer vollen Händen die Götter ihre Gaben streuen. Und von Friedrich Rückert stammt das schöne Gedicht: „Glück und Glas, wie leicht bricht das. Mein Glas zersprang, als es am lautesten klang. Als ich es anstieß auf gutes Glücke, ging es in Stücke.“ Der Herr hat in einem Gleichnis die Brüchigkeit der irdischen Schätze aufgezeigt. Ein reicher Bauer hatte eine gute Ernte eingefahren, reichliche Früchte. Er dachte bei sich: Was soll ich jetzt tun? Ich habe keinen Platz, meine Früchte unterzubringen. Da sagte er sich: So werde ich es machen, ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen. Dort werde ich all meine Erzeugnisse und meine Güter unterbringen. Dann werde ich meiner Seele sagen: Meine Seele, du hast viele Güter auf manches Jahr bereitliegen, ruh dich aus, iss, trink und lass es dir wohl sein. Gott sprach zu ihm: Du Tor, heute Nacht noch wird man deine Seele von dir fordern. Wem wird das gehören, was du aufgespeichert hast? Meine lieben Freunde, wir dürfen die Dinge dieser Erde benutzen, wir dürfen uns in gehörigem Maße an den irdischen Schätzen freuen. Aber wir müssen stets die gehörige Umsicht, Vorsicht und Wachsamkeit beobachten. Wir müssen mit dem jederzeit möglichen Verlust unserer Annehmlichkeiten rechnen. Der Apostel Paulus mahnt die Gemeinde in Rom: „Sei nicht übermütig, sondern fürchte dich.“ Und er mahnt die Gemeinde in Korinth: „Wer meint zu stehen, der passe auf, dass er nicht falle.“

Amen.

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