Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
25. Dezember 2013

Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, zur Feier der Menschwerdung unseres Gottes und Heilandes Versammelte!

Das Christentum ist in seinem Wesen weder eine abstrakte Idee noch ein theoretischer religiöser Gedanke. Das Christentum gründet vielmehr in einem geschichtlichen Ereignis, nämlich im Kommen des Sohnes Gottes in die Menschheit. Es gibt im Christlichen keine Lehre, kein Grundgefüge sittlicher Werte, keine religiöse Haltung und Lebensordnung, die von der Person Christi abgelöst werden könnten. Christus ist der Grund, die Wesensmitte, der Inhalt und der Geist des ganzen Christentums – wohl gemerkt: der geschichtliche Christus, der verklärt in der Herrlichkeit des Vaters lebt. Der himmlische Christus ist kein anderer als der irdische, als der historische Jesus von Nazareth. Der Glaube an Christus war niemals ein naiver Glaube. Er war immer ein fragender Glaube, der um das Verständnis bemüht ist. Ein solcher Glaube war offensichtlich auch in der Absicht Jesu gelegen. Deswegen fragt er seine Jünger: „Für wen halten die Leute den Menschensohn?“ Denn darauf kommt alles an, wofür man ihn hält. Die Antworten, die die Jünger als die Meinung der Leute gaben, lauteten verschieden: Er ist der wiedergekommene Johannes der Täufer, er ist Elias oder einer der Propheten. Andererseits erkannte man schon früh, dass Jesus nicht in das Schema der großen Propheten passt, denn im Evangelium ist bereits gesagt: „Hier ist mehr als Jonas (der Prophet), hier ist mehr als Salomon (der König).“ In Wirklichkeit unterscheidet sich Jesus wesentlich von den Propheten. Er hat kein Berufungserlebnis wie die Propheten. Die Propheten geben regelmäßig an, wann sie von Gott zu ihrem Dienst berufen wurden. Ein solches Erlebnis fehlt bei Jesus. Seine überragende Stellung zeigt sich auch in seiner Gegenüberstellung zum Gesetz. Für die Juden hing von der Erfüllung des Gesetzes ihr Heil ab. Jesus legte das Gesetz nicht nur aus, sondern er erklärte es in seinem Kommen und in seiner Person als erfüllt. Nach Paulus ist Jesus „des Gesetzes Ende“. Darum konnte er in vielen Fällen sich über den Buchstaben des Gesetzes hinwegsetzen und sogar erklären: „Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat“, über den heiligen Tag Gottes, der im Gesetz als Ruhetag vorgeschrieben war. Will man Jesus überhaupt mit den Propheten in Zusammenhang bringen, dann muss man sagen: Er ist der letzte Rufer, der endgültige Bote Gottes. Das prophetische Amt ist in ihm aufgenommen und wird von ihm überboten.

Damit hängt auch zusammen, dass dem Auftreten Jesu, seinem Verhalten und seinem Wirken eine einzigartige Autorität zukommt. Eine solche ist den Menschen in ihrer Umgebung noch nie begegnet. Diese Vollmacht zeigt sich in seinen Taten: Heilungen, Dämonenaustreibungen, helfende Machterweise, Wunder. Sie zeigen an, dass in ihm die Herrschaft Gottes angebrochen ist. „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ Die höchste Wirkung ging von seiner Gestalt aus, das zeigte sich in seiner Stellung zu den Menschen. Von den heutigen Theologen wird vorzugsweise betont, dass Jesus sich mit den Sündern, mit den Zöllnern und mit den Armen verbunden und solidarisiert hat. Das ist nicht zu bestreiten, aber das ist nur die eine Seite seines Verhältnisses zu den Menschen. Die andere Seite zeigt ihn uns als einen, der die Menschen um ein Gewaltiges überragt. Er durchschaut sie mit einem Blick. Der reiche Jüngling rühmte sich, die Gebote Gottes gehalten zu haben. Aber Jesus schaute in seine Seele und sagte: „Eines fehlt dir noch: Geh’ hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen!“ Jesus kennt ihre Gedanken. Als er dem Gelähmten sagte: „Deine Sünden sind dir vergeben“, da wusste er, was sie bei sich dachten: „Er lästert Gott.“ Und Jesus hielt ihnen vor: „Warum denkt ihr böse in eurem Herzen?“ Jesus trifft mit seinem Wort die Menschen ins Herz. „Lasst eindringen in euer Ohr dieses Wort: Der Menschensohn wird überliefert werden, in die Hände der Menschen.“ Dreimal wiederholt Lukas an dieser Stelle das Unverständnis der Jünger: „Sie begriffen nicht dieses Wort, es blieb vor ihnen verhüllt, sie verstanden es nicht.“ Woher hat Jesus diese Vollmacht, Sünden zu vergeben? Denn er befreit von Sünden. Dem Gelähmten sagt er: „Nimm dein Bett und geh nach Hause.“ Und zuerst hat er ihm die Sünden vergeben: „Deine Sünden sind dir vergeben.“ Da sagt er zu den Zuhörern: „Was ist leichter: zu sagen deine Sünden sind dir vergeben oder nimm dein Bett und geh nach Hause?“ Nun, wenn es nur auf das Reden ankommt, ist es natürlich viel leichter zu sagen „deine Sünden sind dir vergeben“, weil man das nicht kontrollieren kann. Aber wenn man sagt „nimm dein Bett und geh nach Hause“, dann geht man ein ungeheures Risiko ein. „Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Macht hat, Sünden zu vergeben“, deswegen sagt der Herr zu dem Gelähmten „nimm dein Bett und geh nach Hause“. Und er nahm sein Bett und ging nach Hause. Die Menschen waren entsetzt. „So etwas haben wir noch nie gesehen.“

Aufgrund seiner Vollmacht vermochte er auch die Menschen zu verpflichten, in seine Nachfolge einzutreten. Er rief sie zur Umkehr und forderte von ihnen eine Entscheidung über ihr Leben. Als er am See Genezareth zwei Brüder sah, die Fischer waren, nämlich Petrus und Andreas, sprach er zu ihnen: „Kommt, folget mir nach. Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Und sie gaben die Netze und den Vater auf und folgten ihm nach. Am Zollhaus sah er einen Mann, namens Matthäus. Er sprach zu ihm: „Folge mir nach.“ Der schloss die Tür des Zollhauses und folgte ihm nach. Daran wird deutlich, dass die Entscheidung eines Menschen zur Umkehr, gegenüber Gott, den Weg über Christus nehmen muss. „Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich. Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“ Die Entscheidung für Gott führt immer über Christus. „Wer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommt, mit der Hoheit seiner Engel.“

Woher hat Jesus diese Macht und diese Autorität über die Menschen? Er hat sie kraft seiner einzigartigen Beziehung zum himmlischen Vater. Jesus verkündet einerseits die Größe, die Erhabenheit und die Güte des Vaters im Himmel, aber er fühlt sich dieser Größe und Erhabenheit des unendlichen Gottes zugleich so nahe, dass es da keine Grenze gibt. Es ist keine Distanz zwischen dem Vater in Himmel und ihm selbst. Dagegen besteht ein großer Unterschied im Verhältnis der Jünger zu dem Vater im Himmel und seinem Verhältnis. „Ich fahre auf zu meinem Gott und eurem Gott, zu meinem Vater und eurem Vater.“ Wir können aus der Weltgeschichte, meine lieben Freunde, kein einziges Beispiel anführen, keine einzige religiöse Gestalt nennen, die in der Stellung zu Gott einen solchen grundsätzlichen Unterschied zwischen sich selbst und den übrigen Menschen gemacht hätte. Gerade die großen religiösen Geister der Menschheit legen Wert darauf, dass sie mit allen Menschen sich gleich setzen. Sie wollen mit den anderen zusammengeschlossen werden. Jesus tat dies nicht. Er tat dies nicht, weil er in einer wesentlich anderen Beziehung zum Vater im Himmel steht als alle anderen Menschen.

Nach den Evangelien war es Petrus, der als erster Jesus als den Messias und den Sohn Gottes bekannte. Diese Kennzeichnung Jesu als „Sohn Gottes“ ist offenbar das Höchste, was ein Jünger über Jesus zu sagen vermag. Im Judentum hatte der Name „Sohn Gottes“ eine ganz andere Bedeutung: Da war er war einfach der Liebling Gottes, der Anhänger Gottes, z.B. das auserwählte Volk, das wurde als „Sohn Gottes“ bezeichnet. Wenn dagegen die Evangelien von Jesus als dem Sohne Gottes sprechen, dann schwingen hier ganz andere Töne mit. Er ist nicht der moralische Sohn Gottes, d.h. ein Mensch, der wegen seines Gehorsams gegen Gott und wegen seiner Liebe zu Gott als „Sohn Gottes“ bezeichnet wird. Er ist nicht der Adoptivsohn Gottes, also ein Mensch, dem Gott seine besondere Gnade und Huld erwiesen hat. Er ist der metaphysische Sohn Gottes, d.h. er ist der wesenhafte Sohn Gottes. Er besitzt das göttliche Wesen, wie es der Vater besitzt. Er ist der Eingeborene vom Vater, er ist der „eingeborene Gott“, wie Johannes ihn nennt. Jesus selbst hat über seine Gottessohnschaft Zeugnis abgelegt. Es gibt ein Wort bei den Synoptikern, Matthäus und Lukas, das den kritischen Theologen nicht passt, das sie gern unterschlagen, das sie am liebsten beiseite lassen. Und dieses Wort ist eine Aussage, in der sich Jesus mit dem Vater in der Macht, im Erkennen und im Leben ganz zusammenschließt. Dieses Wort lautet: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben, und niemand kennt den Sohn, als der Vater, und auch den Vater kennt niemand, als der Sohn und wem der Sohn ihn offenbaren will.“ Hier zeigt sich ein einzigartiges Sohnes- und Selbstbewusstsein Jesu. Es hebt Jesus über die bei den Juden und Griechen bekannten Göttersöhne unendlich hinaus. Er steht hier ganz auf Seiten des Vaters, und seine Jünger haben gewusst, dass dies der entscheidende Titel Jesu ist: Sohn Gottes, metaphysischer Sohn Gottes; erwiesen in seinem irdischen Leben, erwiesen aber auch durch seine glorreiche Auferstehung. Schon im zeitlichen Wandel war Jesus der Sohn Gottes, der wesensgleiche Gottessohn. Als er den Seesturm stillte, da sprachen die Zuhörer und Zuschauer zueinander: „Was ist denn das für einer, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?“ Im Lichte der Auferstehung ging ihnen auf: der Vater hat sein Ja zum Leben, zu dem Wirken, zu den Worten, zu dem Anspruch Jesu von Nazareth gesprochen. Wenn er nicht mit ihm eines Sinnes wäre, hätte er ihn im Tode gelassen, dann wäre er im Grabe verblieben. Aber nein, er hat ihn aus dem Grabe gerissen und erhöht in die Herrlichkeit, die er selbst besitzt. Jesus Christus ist mit Gott geradezu zusammengeschlossen. Er ist der Sohn des Vaters, er ist der Geliebte, er ist der Einzige, der Erstgeborene. Seine Speise ist es, den Willen des Vaters zu erfüllen. Er steht mit dem Vater in einer Einheit, die das Denken und Handeln, aber auch das innerste Leben umfasst. Im Hebräerbrief steht die wunderbare Aussage: „Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit, das Ebenbild seines Wesens, der auch das Weltall trägt durch sein machtvolles Wort“ – der Abglanz seiner Herrlichkeit, das Ebenbild seines Wesens. Hier deutet sich das tiefste Geheimnis Jesu an. Gerade durch die wunderbare Auferstehung wurde er als der „Herr“, der „Kyrios“ offenbar. Das ist das Wort, das die griechische Bibel des Alten Testamentes für „Gott“ verwendet. Immer, wo in der hebräischen Bibel „Jahwe“ (der Gottesname) steht, sagt die griechische Bibel „Kyrios“. Und wenn dieser Name Kyrios jetzt auf Jesus angewandt wird, dann stellt ihn die Bibel, dann stellt ihn das Evangelium, dann stellt ihn der Glaube der Jünger neben den Vater im Himmel. Er hat eine Präexistenz, wie die Theologen sagen, d.h. eine vorweltliche himmlische Existenz. Und aus dieser himmlischen Existenz ist er hervorgetreten in seiner Menschwerdung. Im Alten Bund ist diese Wahrheit schon angekündigt. Da ist nämlich von der „göttlichen Weisheit“ die Rede. Und diese Weisheit wird personifiziert dargestellt. Der Glaube sieht in dieser Darstellung des Alten Bundes einen Vorentwurf der Wirklichkeit Jesu von Nazareth. Er ist vor aller Schöpfung, und er ist für alle Schöpfung. Das Wort Gottes und die Weisheit Gottes kann man von Gott nicht trennen. Er besitzt eine Präexistenz, eine Vorwirklichkeit, bevor er auf Erden erschien.

Ich weiß, meine lieben Freunde – denn ich habe es hundertfach gelesen –, ich weiß wie fast überwiegend im protestantischen Bereich ein „Jesuanismus“ besteht, d.h. das Kommen Christi in die Welt wird dort so verstanden, dass ein gottverbundener Mensch oder ein gotterfüllter Prophet aufstand, auf den die Menschen hören und auf den sie hören sollen. Das ist nicht die Botschaft der Weihnacht. Das ist ihre Aushöhlung! Gottverbundene Menschen und gotterfüllte Propheten hat es immer gegeben. Hier ist mehr als ein gottverbundener Mensch! Hier ist mehr als ein gotterfüllter Prophet! In der Menschwerdung des Sohnes Gottes ist etwas Einmaliges, etwas Unerhörtes geschehen. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ Niemand, meine lieben Freunde, hat es besser verstanden als der große Symphoniker Anton Bruckner. Er war Organist in Sankt Florian in Österreich. In der Weihnachtsnacht hatte er die Orgel gar wundersam gespielt, er, der große Meister, und war nicht nach Hause gekommen. Am Morgen suchte man ihn. Man ging in die Kirche, und da fand man ihn, wie er vor der Krippe kniete. „Ja, Meister“, sagte man, „was haben Sie denn die ganze Nacht hier gemacht?“ „Ich habe nur immerfort vor mich hin gesagt: Er ist ein Mensch geworden! Er ist ein Mensch geworden! Da bin ich vor Staunen nicht mehr fertig geworden.“ Das ist die Botschaft der Weihnacht. „Er blieb, was er war, aber er nahm an, was er nicht hatte.“ Wer diese Botschaft hört, nimmt den Sohn Gottes auf und gehört ihm an. Meine lieben Freunde, das von mir so geliebte Buch von der „Nachfolge Christi“ schließt mit einem wunderbaren Satz: „Wären die Werke Gottes nur so groß, dass sie von der Vernunft des Menschen leicht begriffen werden könnten, so wären sie eben darum nicht wunderbar, nicht unaussprechlich zu nennen.“                                                                                                                            Amen.

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