Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
19. Februar 2012

Leidensankündigung und Blindenheilung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem. Hinauf? Jerusalem liegt in einer Höhe von 760m über dem Mittelmeeresspiegel. Deswegen hinauf nach Jerusalem. Jesus befindet sich unmittelbar auf dem Weg dorthin, und er weiß, dass die entscheidende Stunde gekommen ist. Das beschleunigt seine Schritte. Er hat ja voll Sehnsucht auf diese Stunde gewartet. „Ich bin gekommen, ein Feuer auf die Erde zu werfen und wie wünschte ich, dass es schon emporflamme.“ „Mit einer Taufe muß ich getauft werden und es drängt mich, bis es vollbracht ist.“ Die Entschlossenheit, mit der Jesus seinem Ziele entgegen strebt, versetzt die Jünger in betroffenes Staunen und die übrigen Begleiter geradezu in Bestürzung. Nicht bei Lukas, aber bei Markus wird das so beschrieben: „Jesus schritt ihnen voraus, sodass sie staunten, denn seine Begleiter waren voller Furcht“.

Dann folgt die ernste Erklärung, was dem Messias auf dem letzten Osterfest, was ihn in der Karwoche, was ihn am Gründonnerstag erwartet. Er spricht eindringlich von seinen Leiden. Er hat schon mehrfach davon gesprochen. Es ist das die dritte Leidensankündigung. Aber diesmal spricht er vom Menschensohn. „Der Menschensohn muss leiden.“ Er ist der Gottgleiche, aber er ist auch ein Mensch, bis ins letzte Geäder und bis zum letzten Blutstropfen. Wenn er Mensch ist, konnte er nicht jenseits des Leidens wohnen. Die erdachten Götter des Olymp standen jenseits alles Leides und jenseits aller Not. Sie aßen Ambrosia und tranken Nektar. Was wussten die von der Not der Menschen, vom Fieber der Kranken, von den Wunden des Hospitals, vom Zusammenbruch der Nerven. Götter leiden nicht. Aber der menschgewordene Gott, der Nazarener, der leidet, und er kündete es seinen Jüngern wiederholt an. Warum? Damit die Jünger nicht überrascht werden; damit sie nicht meinen, es sei ein Unfall, was ihn erwartet, eine Panne. Damit sie begreifen: sein Leiden, sein Tod sind gottgewollt. Sie sind die Erfüllung des göttlichen Willens. Damit sie begreifen: das Leiden des Gottessohnes ist notwendig zur Erlösung der Welt. Die dritte Leidensweissagung geht über die beiden vorhergegangenen hinaus durch die Genauigkeit und durch die Schilderung des geschichtlichen Ablaufes. Jesus nennt Jerusalem als Stätte der Passion und die sechs bezeichnenden Züge: den Heiden überliefert, verspottet, gegeißelt, angespien, getötet, aber am dritten Tage wird er auferstehen. Isaias muss bis zur letzten Randnote erfüllt werden. Die Apostel begreifen es auch jetzt nicht.

Lukas verwendet drei Ausdrücke, um die Verständnislosigkeit der Jünger zu beschreiben. „Sie aber verstanden nichts von diesen Dingen.“ „Das Wort war ihnen verborgen.“ „Sie begriffen nicht, was gesagt worden war.“ Die Apostel sind durch eigenen Willen blind. Sie sind immer noch von der Oberflächlichkeit des offiziellen Judentums umnachtet, sind immer noch nicht zur heimlichen Erkenntnis des religiösen Menschen erwacht. Sie wollen nicht verstehen, dass das Wanderleben mit dem Nazarener zu Ende geht. Sie wünschen, dass es so weiter geht. Mit den Belehrungen, die sie empfangen. Mit den Reden zu dem Volk, das atemlos lauscht. Mit den Heilungen der Kranken. Mit der Austreibung der Dämonen. Mit der Speisung der Menschen. Mit dem reichen Fischfang. Sie wehren sich gegen die Erkenntnis, dass der Meister auf den Wege zu einem schrecklichen Tode ist; es war so schön in seiner Gesellschaft. Ein Stück von dem Glanze, der ihn umhüllt, ist auch auf sie gefallen. So muss es weiter gehen. Das darf nicht aufhören. Sie wollen die göttliche Notwendigkeit des Leidens nicht begreifen.

Ach, meine Freunde, die Erfahrung der Jünger wiederholt sich nur allzu oft. Die Menschen wollen Schreckliches, was die Zukunft bringt, nicht wahrhaben. Sie wehren sich dagegen, die kommenden furchtbaren Ereignisse ins Auge zu fassen. Es soll alles so weiter gehen wie bisher: das gute Essen, das angenehme Leben, die vergnüglichen Wochenenden, die reizenden Urlaube. Wenn Fachleute der Wirtschaft und der Finanzen den Menschen sagen, man müsse sparen, man müsse sich einschränken, dann hören die Menschen weg. Wenn Angehörige von Parteien dasselbe sagen, riskieren sie, nicht mehr gewählt zu werden. Helmut Schmidt war von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. In dieser Zeit erklärte er den deutschen Bischöfen: „Wir leben über unsere Verhältnisse.“ Das heißt, wir geben mehr aus als wir einnehmen. Wir leben auf Pump, auf Kosten der kommenden Generation. Geändert hat sich nichts. Es wurden immer neu Milliarden Schulden gemacht. Griechenland hat seit Jahrzehnten über seine Verhältnisse gelebt. Viel zu viele Staatsbedienstete, viel zu hohe Löhne, viel zu kostspielige Sozialleistungen. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie auf einer Insel, wo es zwanzig Kinder gibt, vierzehn Lehrer angestellt wurden; für zwanzig Kinder vierzehn Lehrer in Griechenland. Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit. Und was tun die Menschen? Sie gehen auf die Straßen, sie protestieren, sie streiken, sie schimpfen auf die Deutschen, die Milliarden in das Land hineinpumpen. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass es so nicht weiter gehen kann.

Fachleute der Klimaforschung sagen, es kann auch mit dem Energieverbrauch nicht so weitergehen. Wir müssen den Ausstoß von CO2 vermindern. Das Eis im Himalaja, auf Grönland, in der Arktis und in der Antarktis schmilzt. Die Folgen: die großen Flüsse, von denen die Völker Asiens leben: Indus, Ganges, Brahmaputra, die großen Flüsse drohen zu versiegen. Eine unendliche Katastrophe kündigt sich an. Der Meeresspiegel steigt. Wenn Grönland abtaut, steigt er um sieben Meter. Es setzt keine Besinnung ein. Niemand will sich ernsthaft einschränken. Der Hunger nach Energie, die ein besseres Leben ermöglicht, ist unersättlich. In China wird alle zwei Tage ein neues Kohlekraftwerk eröffnet; alle zwei Tage ein neues Kohlekraftwerk.  

Viel dringlicher als die Wende im Verbrauch der Schätze der Erde wäre die Bekehrung der Herzen. Der Herr ist nahe, nahe mit seiner Gnade, nahe mit seinem Gericht, nahe mit seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten, nahe mit dem Ende des Einzellebens. Also: Höchste Zeit zur Umkehr, Ablegen die Werke der Finsternis, die Gelage und den Rausch, die Unzucht und die Schamlosigkeit, den Streit und die Eifersucht. Aber die meisten Menschen denken nicht daran, wollen nicht daran denken, wehren sich dagegen, daran erinnert zu werden, dass es höchste Zeit ist, sich zu bekehren. Das, meine lieben Freunde, ist der Inhalt der ersten Hälfte des heutigen Evangeliums.

Der Inhalt der zweiten ist von der Heilung eines Blinden bestimmt. Jesus zieht nach Jerusalem durch das Ostjordanland über Jericho. Das war eine Stadt, die Herodes der Große und Archelaus, sein Sohn, mit Prachtbauten ausgestattet hatten. Es lag etwa 30 Kilometer nordöstlich von Jerusalem, am Westrand des breiten Jordantales. Am Wege sitzen Bettler, strecken die Hand aus, bitten um Almosen. Es gab damals kein Sozialsystem, keine Sozialversicherung, kein städtisches Fürsorgeamt. Wer alt, krank, arbeitsunfähig wurde, der musste selber sehen, wie er durchkommt. Also gingen die Menschen betteln. So auch dieser Blinde. Es spricht für die Echtheit und die Geschichtlichkeit dieser Begebenheit, dass sein Name genannt wird: Bartimäus, d.h. Sohn des Timäus. Das kommt nur noch zweimal vor im Evangelium, nämlich bei Jairus und Zachäus. Nur diese drei Namen werden uns überliefert. Der blinde Bettler ist ein besonderer Mensch. Er ist nämlich gläubig. Er weiß zwar, dass man sagt: von Nazareth, da kann nichts Gutes kommen. Dieses kulturfremde Bergnest bringt keinen Messias hervor. Aber er ist anderer Meinung. Ihn schreckt dieses nazarenische Wort nicht. Das letzte, was er von ihm weiß, ist das, dass er der Messias ist. Der Sohn Davids. Das ist der Ausdruck für den Messias; der Messiasname. Und von ihm hat Bartimäus gehört. Und zu ihm ruft er: Erbarme Dich meiner, o Herr! Erbarme Dich meiner! Er gebraucht, und das ist beachtenswert, den Namen Rabbuni. Das ist mehr als Rabbi. Rabbi heißt Meister; Rabbuni heißt „mein Meister“, darin liegt eine besondere Ehrfurcht. Rabbuni, mein Meister. Er hat gehört, dass, wenn der Messias kommt, die Verheißungen des Isaias in Erfüllung gehen werden; dann werden sich öffnen die Augen der Blinden, dann werden sich auftun die Ohren der Tauben, dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch. Das hat er gehört und darauf vertraut er. Und deswegen ruft er jetzt: „Jesus, Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ Die Begleiter empfinden sein Rufen als aufdringlich. Sie schelten ihn, sie wollen, dass er schweigt. Er gibt keine Ruhe, er ruft nur noch lauter: „Jesus, Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ Und Jesus bleibt stehen, befiehlt, dass man ihn heranbringt und fragt ihn: „Was soll ich dir tun?“ Diese Frage hat den Zweck, eine Äußerung seines Glaubens zu veranlassen. Sofort kommt die Antwort: „Mein Herr, dass ich sehe; dass ich sehend werde!“ Der Blinde hat einen Wunsch, einen großen, einen riesenhaften Wunsch. Er will von seiner Blindheit befreit werden. Warum wendet er sich nicht an die Ärzte? Weil er weiß, dass sie ihm nicht helfen können. Aber dem Nazarener traut er zu, was er keinem anderen Menschen zutraut, dass er ihn sehend machen kann. Und Jesus weiß: dieser Mann ist auf dem Wege zum vollen Christentum. Dieser Mann ist ein Konvertit. Und so spricht er: „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen.“ Sogleich sah der Blinde, folgte ihm und pries Gott; und das Volk, das Zeuge war, lobte Gott ebenfalls. Dass er ihm nachfolgte, muss nicht besagen, dass er in die unmittelbare Jüngerschaft Jesu eintrat. Aber es bedeutet, dass er gläubig zu dem Messias sich bekannte, dass er ein Anhänger Jesu wurde, ein neues Mitglied der Jesusgemeinschaft, der sich bildenden Kirche.

Alle preisen Gott, der Blinde, der geheilt war und die Anwesenden. Sie wissen, was geschehen ist, übersteigt Menschenmacht. Mit einem Wort die Blindheit wegnehmen, das kann nur Gott. Hier hat Gott gewirkt. So geben sie Gott die Ehre: der Geheilte und die Zeugen. Sie tun das nicht, meine lieben Freunde, was die ungläubigen Theologen von heute tun. Sie weichen nicht aus auf Erklärungen, die nichts bringen. Ja, sagen die einen, der Mann ist gar nicht blind gewesen; die anderen: Ja, der Verlust des Augenlichtes war lediglich eine psychosomatische Störung. Vielleicht hatte der Blinde grauen Star. Den kann man heute operieren, aber Jesus hat nicht operiert. Er hat den Blinden weder untersucht noch angerührt. Er hat nur den Befehl ausgesprochen: Sei sehend! Und die Blindheit wich dem Befehl. Der Mann wurde sehend.

Aber der Unglaube gibt sich nicht geschlagen. Da er das unerhörte Wunder nicht erklären kann, und da er es nicht annehmen will, leugnet er es. Der Unglaube sagt, das gibt es nicht. Das kann es gar nicht geben, dass der Nazarener mit einem Wort einen Blinden geheilt hat. Das ist eine erfundene Geschichte, das ist Gemeindetheologie, die Jesus hochjubeln will. Wie kommen die ungläubigen Theologen zu einer solchen unerhörten Aufstellung? Ich will es zu ihnen sagen. Ich habe ihre Bücher gelesen. Die ungläubigen Theologen machen eine weltanschauliche Voraussetzung, bevor sie an die Erklärung der Heiligen Schrift herangehen. Sie stellen ein Kriterium für die Geschichtlichkeit von Berichten der Vergangenheit auf. Dieses Kriterium ist die Analogie. Das heißt: geschichtlich ist nur das, kann nur das sein, was jederzeit und überall vorkommt. Ich wiederhole diesen Satz, diesen fundamental falschen Satz: Geschichtlich ist nur das, kann nur das sein, was jederzeit und überall vorkommt. Das können Sie nachlesen bei Ernst Troeltsch. „Wenn das, was in den Evangelien berichtet wird, nicht auch hier und heute geschieht“, so sagen sie, „dann ist es erfunden, eine Legende. Nur was jederzeit geschehen kann, das ist auch zur Zeit Jesu geschehen.“ Mit dieser weltanschaulichen Voraussetzung werden die gesamte Offenbarung, die Menschwerdung Gottes, das Wirken Jesu zerstört. Diese Meinung ist in die evangelische Pfarrerschaft und in das Volk abgesunken. Die liberale Theologie triumphiert.

Was ist zu dieser weltanschaulichen Voraussetzung und dieser Theologie zu sagen? Meine lieben Freunde, die Geschehnisse, von denen die Heilung des Blinden ein Ausschnitt ist, sind gewiss einmalig und einzigartig. Sie müssen es sein, denn sie sind ein Bestandteil der Geschichte des menschgewordenen Gottes. Er ist erstmalig und einmalig auf die Erde herabgestiegen, hat hier gelebt und gewirkt. Sein Leben und Wirken ist notwendig unvergleichlich, einmalig und unwiederholbar. Er hat in seiner Erdenzeit alles getan und gesagt, was für die Menschheit erforderlich ist. Als es zum Sterben kam, sagte er: „Es ist vollbracht“, d.h. die Aufgabe, die der Vater ihm gestellt, die Sendung, die er ihm gegeben hat, sie ist vollendet. Deswegen braucht sie nicht noch einmal zu geschehen, kann sie nicht noch einmal geschehen, sie ist einmalig, sie ist unwiederholbar, sie ist unvergleichlich. So sicher, wie der Logos Mensch geworden ist, so sicher sind die Taten seiner Wundermacht. Die Zeitgenossen, die seine Heilungen beobachteten, sagten: „So etwas haben wir noch nie gesehen.“ So etwas konnten sie auch noch nicht gesehen haben. Solche Taten waren nur möglich, als Gott über die Erde wandelte. Es besteht nicht der geringste Anlass, die Geschichtlichkeit dieser Begebenheiten zu bezweifeln.

Der Verlust des Augenlichtes, meine lieben Freunde, ist eine furchtbare Angelegenheit, ist ein schlimmer Schaden, aber neben der Blindheit der Augen gibt es auch eine Blindheit der Herzen. Sie besteht in der Verschlossenheit gegenüber der Existenz und dem Wirken Gottes. Nicht sehen, nicht sehen können, nicht sehen wollen, dass ein allmächtiger Schöpfer lebt, dem alles und alle untertan sind, dem es zu gehorchen und zu dienen gilt, der den Menschen richtet, das ist Blindheit des Herzens. Jesus in eine Reihe mit anderen Religionsstiftern stellen, mit anderen Wundertätern, wie Apollonios von Tyana, ihm die göttliche Wesenheit entziehen, sein Wirken am Tun anderer Menschen messen, das ist Blindheit des Herzens. Um die Blindheit des Herzens zu nehmen, ist Gott ist ein Mensch geworden. „Ich bin als das Licht in die Welt gekommen, damit niemand, der an mich glaubt, in der Finsternis bleibe“, sagt der Herr. Wehe dem, der das Licht abweist. „Zum Gericht bin ich gekommen in die Welt. Die Blinden sollen sehend, die Sehenden sollen blind werden.“ „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt“, schreibt Johannes. „Einige haben es aufgenommen, haben sich erleuchten lassen. Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden. Allen, die an seinen Namen glauben.“

Ach, meine lieben Freunde, dass doch die Herzensblinden ihre Blindheit erkennen möchten. Dass sie doch mit Bartimäus ausrufen möchten: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Jesus würde ihren Ruf hören. Er würde sich zu ihnen neigen. Er würde sie fragen: „Was willst du, das ich dir tun soll?“ Und wenn sie ihm sagen würden: „Herr, dass ich sehend werde“, dann würde er das Wort seiner Allmacht sprechen: „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen.“

Amen.

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