Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. August 2009

Tränen Jesu über die Verstocktheit der Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Zweimal berichtet das Evangelium, dass unser Heiland geweint hat. Das erste Mal, als er sich Jerusalem näherte und das Schicksal dieser Stadt bedachte. Das zweite Mal, als man ihn zum Grabe des Lazarus führte. Tränen sind Ausdruck der Erschütterung und der Trauer. Erschütterung und Trauer aber erwachsen aus der Liebe, die sich verletzt und enttäuscht sieht.

Jesus weint. Er weint erstens, weil der Mensch Gottes Heimsuchungen ablehnt. Gott weint über die Verstocktheit des Menschen. Jesus reitet ein in Jerusalem inmitten der jubelnden Volksmenge, und beim ersten Anblick der Stadt überwältigt ihn die Trauer und der Schmerz. Er denkt an das Schicksal dieser Stadt, denn er kennt ihr Schicksal, und über dieses Schicksal weint er. Gott wollte die Stadt heimsuchen. Heimsuchen heißt, er wollte ihr die Gnade anbieten, er wollte sie aufrütteln, er wollte sie gewinnen, er wollte ihr das Heil und den Frieden bringen. Heimsuchungen sind Gnadenangebote Gottes. Es sind äußere Ereignisse oder innere Erlebnisse, die den Menschen nach der Absicht Gottes wachrütteln sollen, die ihn heilsam erschüttern sollen, die ihn an Gott erinnern sollen, die ihn an seine Lebensaufgabe gemahnen sollen und die ihn auch mit Mut und Kraft erfüllen sollen. Solche Heimsuchungen hat Jesus der Stadt Jerusalem mehrfach beschert. Er ist wiederholt in der Stadt gewesen. Er sagt es ja selber: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln!“ Und aus diesem Satz: „Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln!“ erschließen wir, dass er mehrfach in Jerusalem seine Tätigkeit ausgeübt hat. Er hat dort gepredigt. „Er lehrte täglich im Tempel“, so haben wir eben im Evangelium gehört, er hat Wunder gewirkt. Aber die Bewohner, die Mehrheit der Bewohner und vor allem die Obrigkeit haben sich ihm verschlossen. Und deswegen weint er, als er die Stadt vor sich sieht: „Wenn doch du an diesem deinem Tag erkenntest, was dir zum Frieden dient!“ Jerusalem müßte – jetzt zum letzten Mal – erkennen, was ihm zum Frieden dient, was Gott von ihm fordert. Es müßte also Jesus als den Messias erkennen und anerkennen. Dann würde die Bedingung für die Erlangung des Heiles erfüllt sein. Das ist aber unmöglich, weil ihm diese Erkenntnis verschlossen ist. „Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen.“ Es ist verborgen, weil Gott sein Gnadenangebot zurückgezogen hat. Jerusalem ist jetzt mit Blindheit geschlagen, so dass Jesus seinen Wunsch nicht erfüllen kann. Der Wunsch Jesu ist unerfüllbar geworden durch die Blindheit der Bevölkerung von Jerusalem.

Meine Christen, Gott weint nicht über jede Sünde. Zwar schlägt ihm jede Sünde eine Wunde. Die Striemen an seinem Körper sind die Male unserer Bosheit. Aber nur über eine Sünde weint der Herr: über die Sünde der Verstocktheit. Was ist Verstocktheit? Verstocktheit ist das mutwillige Beharren in der Abkehr von Gott und das trotzige Festhalten am Bösen – das mutwillige Beharren in der Abkehr von Gott und das trotzige Festhalten am Bösen. Diese Haltung steigert den Charakter der Sünde, die ja immer Selbstverschließung vor Gott ist, zu höchster Aktivität. Als Folge ergeben sich Unbußfertigkeit und Widerständigkeit gegen die Bekehrung. Verstocktheit ist der Zustand des Willens, der mit Gott gebrochen hat und der unabänderlich an der Sünde festhält. Als Sünde wider den Heiligen Geist ist die Verstocktheit die bewußte Ablehnung aller auf die Willensänderung gerichteten Einflüsse Gottes. Wer die Wahrheit unterdrückt, weil sie ihn bloßstellt, der ist verstockt. Wer nicht erlöst werden will, der ist verstockt. Wer sich weigert, das Gute an Christus und seiner Kirche anzuerkennen, der ist verstockt. Wer die Sünde ableugnet, der ist verstockt. Wer das Böse gut nennt, der ist verstockt. Wer die Begriffe der Moral umfälscht, der ist verstockt. Der Verstockte widersetzt sich der Wahrheit; bei ihm ist die Gnade ohnmächtig.

Die Verstocktheit hat als Sünde ihren Grund im freien Willen des Menschen, als Unabänderlichkeit des Willens im Mangel an Gnade. Dauerndes Sündigen stumpft das Gewissen ab, macht gegen die Gnade gleichgültig und selbst widerspenstig, führt zum Versiegen der Gnade, zur Verstocktheit.

Freilich, so wenig, so wenig kann Gott von der Liebe auch zum Verstockten lassen, dass er über ihn weint. Was in der Schrift geschrieben steht, so haben wir heute in der Epistel gehört, das ist zu unserer Belehrung geschrieben. Die Ereignisse von damals haben ihre Bedeutung für uns. „Wenn doch du an diesem deinem Tage erkenntest, was dir zum Frieden dient!“ Frieden möchte jeder haben. Friede, also Harmonie, Ausgleich, Ruhe und Heil, Ordnung, Glück und Seligkeit, das alles ist ja in dem Begriff des Friedens in umfassendem Sinne enthalten. Frieden möchte jeder haben. Aber die Bedingung muss er erfüllen. „Wenn doch auch du an deinem Tage es erkenntest, was dir zum Frieden dient!“ Gott sucht die Seele heim, aber nicht an jedem Tag. Die Heimsuchungen Gottes haben ihre Stunde. Man spricht von einem „kairos“ mit dem griechischen Wort, von einem Augenblick, von einem Zeitpunkt, an dem Gott seine Gnade anbietet, und dann ist es vorbei. Dieser Tag, das ist der Tag, da Gott die Seele heimsuchen will. Dieser Tag kann auch eine Nacht sein. Die Nacht des Leids, die Nacht der Not. „Visitasti me nocte“ so beten wir Priester im Brevier. „Du hast mich in der Nacht heimgesucht.“

Die Heimsuchung geschieht durch äußere und durch innere Gnaden. Was sind äußere Gnaden? Äußere Gnaden sind Erlebnisse und Ereignisse, in denen Gott zu uns spricht. Ein Unfall, den wir erleiden, eine Gefahr, aus der wir errettet werden, ein Mißerfolg in unserer Arbeit, ein Gelingen bei unserem Bemühen, eine Krankheit, die uns überfällt, eine Genesung, auf die wir nicht zu hoffen wagten, ein Gottesdienst, der uns ergreift, ein Wort der Heiligen Schrift, das uns packt, eine Predigt, die uns anrührt – das sind äußere Gnaden. Wir sollten sie ergreifen, denn das sind die Gnadenstunden Gottes. Dazu treten die inneren Gnaden. Das sind die Erleuchtungen, die Gott in uns bewirkt, die Antriebe der Gnade, die er uns schickt, die Einsprechungen, mit denen er an unsere Seele rührt, die Mahnungen, die Besserung des eigenen Lebens nicht aufzuschieben, die Warnungen, die Gelegenheit zur Sünde zu meiden. Das alles sind Heimsuchungen Gottes. Und an uns ergeht der Ruf: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!“

Sündigen ist menschlich, aber in der Sünde verharren, das ist teuflisch. Und deswegen ergeht an uns der Aufruf: „Heute, wenn du seine Stimme hörst, verhärte dein Herz nicht!“ Haben wir nicht viele Heimsuchungen Gottes erfahren? Und was haben wir damit gemacht? Haben wir sie benutzt, oder haben wir sie verspielt? Das schrecklichste Unglück ist, wenn man sündigen kann, ohne dass das Gewissen sich rührt. Das ist der Zustand der Verlorenheit. Der Entzug der Gnade erfolgt in der Auswirkung der Sünde und wegen der Sperrung gegenüber den Gnadenangeboten Gottes. Die Verstocktheit des Sünders ist der Entzug der Gnade. Freilich, wir müssen dazu sagen: Solange ein Mensch auf Erden lebt, wird Gott es immer wieder versuchen. Er wird auch versuchen, den Verstockten zu bekehren. Aber es kann sein, dass der Verstockte zur Bekehrung nicht mehr fähig ist.

Jesus weint, weil der Mensch die Heimsuchungen Gottes mißachtet. Jesus weint aber auch zweitens, weil der Mensch Gott nicht ernst nimmt. Er weint über den Unglauben des Menschen. Lazarus, der Freund des Heilandes, war gestorben. Seine Schwestern führten ihn zum Grabe, und dort weinte er. Viele meinen, der Herr habe geweint, weil sein Freund gestorben ist, er habe also über den Verlust Tränen vergossen. Das ist nicht so. Wenn Sie das Evangelium nach Johannes genau lesen, da finden Sie nämlich, dass er, als er die Freunde des Lazarus weinen sah, ergrimmte. Er ergrimmte im Geiste, und dann erst weinte er. Ja, warum ergrimmte er denn? Und noch ein zweites Mal steht da: Als die Freunde und Verwandten des Lazarus seine Tränen sahen, da ergrimmte er noch einmal. Ergrimmen ist Ausdruck des Unwillens, des Zornes, des Schmerzes. Warum ergrimmte der Herr? Was erregte seinen Zorn, seinen Unwillen? Das war nicht der Tod des Lazarus, das war der Unglaube seiner Angehörigen, die in ihm nicht den Herrn über Leben und Tod erkannten. Das war das Mißtrauen, dass sie ihm nicht zutrauten, den Gestorbenen aus dem Tode zu erwecken. Des Todes wurde der Heiland Herr. Er hat den Jüngling von Naim zurückgerufen ins Leben, er hat das Töchterlein des Jairus ins Leben geführt. Nein, über den Tod weinte der Herr nicht. Damals hat er nicht geweint. Er weint über den Unglauben der Umstehenden, dass sie ihn nicht als den Herrn über Tod und Leben ernst nahmen, dass sie bloß mit seinen menschlichen Gefühlen, mit seiner Freundschaftsbezeugung rechneten. Er weinte, weil er ihren Unglauben sah, weil sie ihm nicht zutrauten, den Tod zu besiegen. Der Unglaube, meine lieben Freunde, ist die Ursünde, die Wurzelsünde und die Hauptsünde. Wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass er ist, und dass er denen die ihn suchen, ein Vergelter wird. Das sind eherne Worte aus dem Hebräerbrief. „Wer zu Gott kommen will, muss glauben, dass er ist, und dass er jenen, die ihn suchen, ein Vergelter wird.“ Wer das nicht glaubt, kann nicht zu Gott kommen. Der Dalai Lama ist ein Atheist. Machen Sie sich nichts vor, wenn er jetzt in Franfurt auftritt. Er ist ein Atheist.

Gott weint über den Menschen. Ein unergründliches Geheimnis: Gott duldet, dass er um den Menschen trauern muss. Er hätte es nicht nötig, Tränen über den Menschen zu vergießen. Aber er hat ihn so wunderbar gemacht und so wunderbar erneuert, dass es ihm zu Herzen geht, wenn er sieht, dass der Mensch seine Heimsuchungen verkennt. Da er den Menschen sah, weinte er. Was hat er alles getan, um die Menschen zum Glauben zu führen! Er hat sich aufgemacht, um die Menschen heimzuholen aus ihrer Verderbnis. Er ist ein Mensch geworden, aber die Menschen nahmen ihn nicht auf. Er hat gelehrt wie kein anderer vor ihm und nach ihm, aber die Menschen zerpflücken seine Lehre. Lesen Sie einmal das Buch von Rudolf Bultmann über die Geschichte der synoptischen Tradition. Lesen Sie einmal, wie da das Evangelium zerpflückt wird! Er hat geheilt wie sonst niemand, aber die Menschen geben seine Heilungen als psychologische Tricks aus. Er hat sich als der Herr über die Natur erwiesen, aber die Herren Exegeten erklären, diese sogenannten Naturwunder seien aus der Phantasie der Anhänger Jesu entsprossen. Er hat sein Selbstbewußtsein als der wahre Sohn Gottes kundgetan, aber die Menschen geben die Dogmen von Nizäa und Chalcedon als Erfindungen der griechischen Philosophie aus. Er hat erklärt, dass er gekommen ist, sein Blut zu vergießen als Lösegeld für die Vielen, aber die Menschen bestreiten seinen Sühnetod. Er hat den Tod erlitten gemäß der Schrift, aber sie sagen: Das ist eben Prophetenschicksal. Er ist glorreich dem Grabe erstiegen, aber der evangelische Theologe Bultmann erklärt: Ein toter Leib kann nicht mehr lebendig werden. Er wollte bei uns bleiben im Geheimnis der Eucharistie, wirklich, wahrhaft und wesentlich, wie das Konzil von Trient erklärt hat. Aber die Menschen sagen: Das Abendmahl ist ein bloßes Gedächtnis, ein Gemeinschaftserlebnis. Ja, was hätte er noch tun sollen und hat es nicht getan? Was hätte er anders machen sollen? Wäre er dann besser angekommen? Es ist genügend Licht da, meine lieben Freunde, aber die Menschen wollen sich nicht erleuchten lassen. Es gibt Gottesbeweise, und wir haben sie in unserem Studium gründlich studiert; sie haben mich überzeugt bis in die Wurzeln meiner Existenz. Aber die Menschen sagen: Immanuel Kant von Königsberg, das ist der Zertrümmerer der Gottesbeweise. Man kann niemanden überzeugen, wenn er sich nicht überzeugen lassen will. Der Mensch kann sich gegen jede Beweisführung sperren.

Tränen eines starken, eines tapferen Mannes sind kostbar. Sie sind selten. Es sind keine billigen Filmtränen; sie rinnen nicht häufig. Männer drücken ihre innere Erregung, ihren Schmerz, gewöhnlich nicht durch Tränen aus. Aber die Tränen Jesu sind die Tränen Gottes! In ihm weint Gott über den Menschen. Und Tränen sind nicht ohnmächtig, meine lieben Freunde. Tränen sind mächtig. Die Tränen mancher Mutter haben eine leichtsinnige Tochter umgewandelt. Die Tränen einer Frau haben manchen Trinker bekehrt. Und wenn der heilige Pfarrer von Ars inmitten seiner Predigt Tränen vergoß, da waren die Menschen gerührt und zur Umkehr bereit. Tränen sind mächtig. Sie können wie ein Mahnmal in der Seele stehen, wie ein Pfand, diesen Tränen gerecht zu werden, dass diese Tränen nicht umsonst vergossen sind. Die Tränen sind wie ein Ruf zur Bekehrung. Die Tränen des Heilandes, meine lieben Freunde, wollen auch uns bewegen, sie wollen auch unser Herz rühren. Viele fürchten den  zürnenden Gott nicht. „Wir haben gesündigt, und was ist uns passiert? Nichts.“ Viele spotten über den schweigenden Gott. „Warum redet Gott nicht?“ Gibt es auch Menschen, die Achseln zucken über den weinenden Gott? Sehen sie ihn nicht sitzen bei den Halden von Jerusalem, wo er seine Tränen vergießt über ein undankbares Volk? Mit ist, als vernähme ich heute seine Stimme, seinen Ruf: „Wenn ihr seine Stimme hört, wenn ihr seine Tränen seht, verhärtet euer Herz nicht!“

Amen.

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