Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. April 2009

Jesus, der Gute Hirt

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die einzelnen Zeitalter der Kirchengeschichte haben eine Vorliebe für ein bestimmtes Bild Jesu gehabt. In der einen Zeit hat man Jesus vor allem als Weltenrichter oder als den Allherrscher oder als den Wanderprediger oder als den Schmerzensmann gesehen. Die ersten drei Jahrhunderte haben Christus vor allem als den Guten Hirten verehrt. In den Katakomben hat man 55 Bilder des Guten Hirten entdeckt. Der Gute Hirt war, wenn man so sagen will, das bevorzugte Bild der alten Christenheit. Warum? Weil sie durch die Wüste wanderte und von Wölfen umgeben war; weil die Verfolgung sie ständig bedrohte. So nahm sie ihre Zuflucht zum Guten Hirten.

Wo immer die Christenheit in Gefahr ist und wo immer der Einzelne in Versuchung ist, da soll die Erinnerung an den Guten Hirten wach gehalten werden. Er ist stark, und er ist gut. Er kennt die Seinen; er kennt jeden Einzelnen. Ich habe einmal gelesen, dass ein menschlicher Hirte seine Schafe am Gesicht erkennt. Er kann also unter Hunderten von Schafen ein jedes vom anderen unterscheiden am Gesicht. Wenn das schon ein menschlicher Hirte kann, um so mehr der göttliche Hirte. Er kennt seine unzähligen Schäflein, er kennt ein jedes mit Namen. Keines bleibt seinem liebevollen, wachsamen Blick verborgen, und er geht einem jeden nach. Einem jeden. Aber, so scheint es, mit besonderer Sorge den Verunglückten, der Verirrten. Wir könnten ja annehmen, dass Jesus sich besonders um die frömmsten und um die zutraulichsten Menschen müht, um die Besten aus seiner Herde. Aber nein, wir erfahren das Merkwürdige, dass er die Unfrommen, die treulos Weggelaufenen, die gänzlich Verirrten vor allen anderen mit den größten Mühen und mit den größten Opfern sucht und betreut. Seine Aussagen dazu sind eindeutig. „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren war.“ „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ „Gehet hin und lernet, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder.“ Und so ist er der Sünder Heiland geworden. Er hat sich in seiner unbesiegbaren Güte mit den Sündern eingelassen. Er hat diejenigen, die von den gesetzestreuen Juden verachtet und gemieden wurden, an sich gezogen und sich in ihre Gemeinschaft begeben. Er ist im Hause des Oberzöllners Zachäus in Jericho eingekehrt; er war im Hause Simons des Aussätzigen; er hat sich von der Sünderin, von der stadtbekannten Sünderin salben lassen; er hat den heidnischen Hauptmann von Kapharnaum den Juden als Vorbild vorgestellt und er hat die rührende Nächstenliebe des Samaritans, also des Angehörigen eines Volksstammes, der von den Juden gemieden wurde, gepriesen und ihn als Vorbild empfohlen. Noch am Kreuze versprach er einem Aufrührer den Eingang ins Paradies: „Noch heute“- der Schächer in seiner Todesnot hatte gar nicht so viel haben wollen. Er wollte nur ein Gedenken haben. Er wollte nur, dass ein guter Mensch einmal an ihn denkt. Er selber, das wußte er, würde in der Hölle begraben. Aber der neben ihm, der keine Sünde begangen hatte, der soll an ihn denken. „Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!“ Der Schächer wußte nicht, worum er bat. Er wollte nur ein Gedenken, ein winziges Gedenken. Aber an wen Jesus denkt, der ist gerettet! „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab.“

Was hat das Herz Jesu zu solcher Liebe, zu solcher Güte gegen die Sünder bestimmt? Er wollte gewiß nicht die Sünden verteidigen oder das Sündigen empfehlen. Er sah aber in die Tiefen der Seele und entdeckte dort das quälende Schuldbewußtsein, den aufrichtigen Reueschmerz, die heilige Unzufriedenheit mit sich selbst, das heiße Verlangen, wieder gut zu werden, und das stille Vertrauen in die Großmut Gottes. Unter den Gerechten gibt es nämlich manche, die meinen, sie bräuchten Gottes Beistand und Nachsicht nicht, sie könnten alles aus eigener Kraft leisten. Die Sünder wissen es besser. Sie fühlen sich klein, ja sie fühlen sich wie ein Nichts und greifen deswegen ungestüm nach der helfenden Hand Gottes. Und wir selber wissen es ja, was es bedeutet, wenn wir von unserer Schuld im Bußsakrament losgesprochen werden. Wie ist die Verzeihung, die uns Gott in der heiligen Beicht gewährt, so tröstlich und so ermutigend!

Freilich hätte auch der Heiland wünschen wollen und gewünscht, dass die Unschuld überall herrscht, und sicher war es ihm nicht recht, dass die Welt aus so vielen Sündern besteht. Er dankte dem Vater im Himmel immer wieder für die holde Unschuld und Lauterkeit, die er auch auf Erden gefunden hat. Er fand sie vor allem bei den Kindern. Der Herr wußte um die Unarten der Kinder, er wußte um ihre Schwächen. Einmal sagte er: „Womit soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es gleich Kindern, die auf dem Markte spielen. Und sie sagen: Wir haben euch aufgespielt, und ihr habt nicht getanzt. Wir haben Klagelieder gesungen, aber ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen.“ Was er an den Kindern liebt, das ist ihre urtümliche Frische, ihre Unbefangenheit, ihre Demut, die Abwesenheit von Berechnung, die wir erwachsenen Menschen so leicht an uns haben, die Anspruchslosigkeit, die Uneigennützigkeit im ganzen Wesen, das ist es, was Jesus an den Kindern liebt. Wenn er mit Kindern zusammen ist, dann strahlt sein Antlitz, zu ihnen flüchtet sich seine Hirtenliebe, wenn er von der Heuchelei und der Arglist, von der Feindschaft seiner Gegner genug hat. Selbst bei seinen Aposteln muss er sich mit Rangstreitigkeiten befassen. Sie wollen die ersten Plätze in seinem Reiche einnehmen, und um ihnen zu zeigen, wie sie sein müssen, ruft er ein Kind herbei, legt ihm die Hand auf das Haupt und sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Und darum schnürte sich sein Hirtenherz zusammen, wenn er daran dachte, wie Menschen sich an Kindern vergehen können, wenn er hineinschaute in die Zeiten der Kinderschänder, wenn er daran dachte, wie Kinder verführt werden. „Es wäre besser, einem solchen Ärgernisgeber würde ein Mühlstein an den Hals gehängt und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt.“ Wenn Kinder zu ihm kamen, vergaß er alle Müdigkeit und Traurigkeit. „Lasset die Kinder zu mir kommen“ – die Jünger wollten sie nämlich abwehren. „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn solcher ist das Himmelreich.“

Freilich müssen wir auch wissen, was der Unterschied ist zwischen kindlich und kindisch. Der Herr meinte den kindlichen Sinn, also die Eigenschaften, die ich eben aufgezählt habe, diese Frische und Unbefangenheit, diese Abwesenheit von Ansprüchen und Berechnung. Er meinte nicht das Unfertige, das Unbeholfene, das Mangelhafte an den Kindern, das wir als kindisch bezeichnen. Das muss freilich abgestreift werden. Aus dem Kind muss der Mann, aus dem Kind muss die Frau werden mit kraftvoller Tüchtigkeit, mit Lebensklugheit. Aber die große Glaubensfähigkeit, die große Begeisterungsfähigkeit des Kindes, die soll man sich erhalten. Mir sagte einmal ein Priester, der sein 50-jähriges Priesterjubiläum begangen hatte: „Ich habe mir die Begeisterung des Primizianten bewahrt.“ Schöneres kann man von einem Priester nicht sagen. „Ich habe mir die Begeisterung des Primizianten bewahrt.“

Wenn wir das Wort Guter Hirt hören, dann strahlt in unserem Geist die unermüdliche Hingabe an die Verlorenen, die sich von ihm getrennt haben, aber auch sein stiller Jubel über die Schuldlosen und Reinen, die ihm nie Kummer bereiteten. Wenn sich der Gute Hirt, so scheint es, mehr um die Verlorenen müht, dann deswegen, weil sie eben mehr Sorge brauchen, nicht weil die Reinen, die Treuen, die Guten dem Herzen des Herrn ferner stünden. Er braucht gewissermaßen nicht so viel Mühe, um sie bei sich zu halten, aber seine Liebe zu ihnen ist nicht geringer.

Uns, die wir uns als Schäflein Christi betrachten, ist ein hohes Ziel gewiesen, nämlich der Besitz Gottes selber. Es ist dieses Ziel, das auch er gehabt hat, das seine heilige Menschheit sich gesetzt hatte: „Vater, ich will, dass dort, wo ich bin, auch die seien, die du mir gegeben hast, und damit sie meine Herrlichkeit schauen.“ Der Weg zu diesem höchsten Ziele muss uns vom Herrn gezeigt werden. Und so tröstete er beim Abschied die Seinigen: „Ich gehe zum Vater. Ihr wisset, wohin ich gehe. Ich gehe jetzt zum Vater.“ Wir brauchen nur auf Jesus zu hören, dann wissen wir, welchen Weg wir zu gehen haben. Sobald eine Menschenseele sich im Glauben an den Guten Hirten anschließt, kommt eine wunderbare Sicherheit, ein großer Friede über sie. Sie weiß sich in der allerbesten Hut. Gott verliert die Seinen niemals aus dem Auge. Er sucht alle Gelegenheit, sie an sich zu ziehen, oft durch Freude, aber auch nicht selten durch Leid. Aber ob in Freude oder in Leid, immer soll der Psalm 22 in unserem Herzen seinen Widerhall finden.

Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir mangeln. Er weidet mich auf grüner Au. Er führt mich zu erquickenden Gewässern und labt dort meine Seele. Er leitet mich auf rechten Wegen um seines Namens willen. Auch wenn ich wandern müßt’ in Todesschatten, ich fürcht’ kein Unheil, du bist ja bei mir. Dein Stock wie auch dein Stab gereichen mir zum Trost. Du rüstest mir ein Mahl, jenen zum Trotz, die mich bedrängen. Du salbst mein Haupt mit Öl, mein übervoller Becher, wie köstlich ist er doch. Ja, dein Erbarmen folgt mir alle Tage meines Lebens, und wohnen darf ich immerdar im Haus den Herrn.

Das ist der wunderbare Hirtenpsalm 22, den wir oft und oft beten sollten, weil er uns zum Herzen des Guten Hirten führt. Wir dürfen uns diesem Herzen nicht entziehen, denn tausend verführerische Stimmen versuchen uns abzuziehen vom Guten Hirten und auf andere Felder zu führen. Als ich ein Knabe war, da stellte man uns Friedrich Nietzsche als den großen völkischen Erneuerer hin. Friedrich Nietzsche, den Atheisten und Antichristen. Die Zeiten sind vergangen, aber die Helden, die man heute vorstellt, sind bei Licht betrachtet auch nicht gerade sehr anrührend. Sie haben vielleicht von der großen Erinnerungsfeier zum 100. Geburtstag von Bernhard Grzimek gehört, dem Zoodirektor von Frankfurt. Grzimek hat Großes geleistet. Er hat sich für den Tierschutz, für den Naturschutz, für den Umweltschutz eingesetzt und viel erreicht. Wir danken ihm für diesen Dienst. Aber weder sein Leben noch seine Äußerungen können unserer Jugend als Vorbild dienen, denn er war zeitlebens ein Ehebrecher, zeitlebens. Und seine Äußerungen waren alles andere als vorbildlich. „Die Tiere sind die besseren Menschen“, hat er gesagt. Eine unerhörte Äußerung. „Die Tiere sind die besseren Menschen.“ Und ich habe ihn selbst reden hören, als er einmal sagte: „Ich als Naturwissenschaftler bin natürlich Atheist.“ Ja, meine lieben Freunde, wenn die Naturwissenschaft zum Atheismus führte, woher kommen dann unsere vielen gläubigen Naturwissenschaftler, die viel größer und bedeutender sind als Herr Grzimek? Wie kann man einen solchen Unsinn sagen? „Ich als Naturwissenschaftler bin natürlich Atheist.“

Wir wollen uns an unseren Guten Hirten halten und seiner Führung uns anvertrauen. Bald begehen wir ja wieder das große Fest Fronleichnam, und da ist ein Hymnus zu beten, der vom heiligen Thomas von Aquin stammt und in dem auch der Gute Hirt angerufen wird: „Guter Hirt, du wahre Speise, dich barmherzig uns erweise, führe uns auf unsrer Reise. Deine Güter, Jesu, weise uns im wahren Lebensland.“

Amen.

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