Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. Juli 2007

Die Liebe – Das Gesetz des Neuen Bundes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am Berge Sinai wurde dem Volk des Alten Bundes der Wille Gottes unterbreitet. Unter Blitz und Donner, mit gewaltigen Naturerscheinungen hat Gott seinen Willen dem Volk übermittelt. An einem anderen Berge, in Galiläa, hat der Herr seine Bergpredigt gehalten. Im Sonnenschein, in lichter, froher Natur wurde das Gesetz des Neuen Bundes den Jüngern bekannt gemacht. Am Sinai war das ganze Volk versammelt, am Berge, wo Jesus sein Gesetz verkündet, waren nur galiläische Fischer, vielleicht auch Handwerker und Bauern beisammen, um den Willen Gottes zu vernehmen.

Die Bergpredigt hat sicher in den Dörfern und Städten Palästinas kein Aufsehen erregt. Und doch sind die Worte des Herrn die Grundlage für eine neue Lebensordnung. In der Bergpredigt hat der Herr die Lebensordnung für das neutestamentliche Gottesvolk gegeben. Wir haben es eben im Evangelium gehört: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“ Das ist eine erstaunliche Aussage, denn die Pharisäer und Schriftgelehrten kannten das Gesetz Gottes. Sie hatten es studiert; sie wussten das Hebräische zu lesen. Sie bemühten sich auch, das Gesetz zu erfüllen. Sie dachten Tag und Nacht darüber nach. Sie beteten morgens und abends im Tempel, ja sie hielten auf der Straße an, wenn die Gebetszeit gekommen war, um zu beten. Die Pharisäer und Schriftgelehrten waren wahrhaftig zu Hause im Gesetze Gottes. Der Name Gottes war ihnen so heilig, dass sie es nicht wagten, ihn auszusprechen. Sie wählten einen anderen Ausdruck dafür. Sie sagten nicht Jahwe, was ja der Gottesname war, sondern Adonai, der Hocherhabene. Das alles zeigt, mit welcher Ernsthaftigkeit die Pharisäer und Schriftgelehrten bestrebt waren, den Willen Gottes zu erfüllen. Und jetzt übt der Herr harsche Kritik ihnen. „Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen.“

Wie soll sie denn dann aussehen, diese neue Gerechtigkeit, diese höhere Gerechtigkeit, diese Gerechtigkeit, die allein den Himmel aufschließt? Der Herr macht es an einem Beispiel klar: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten – also dem Bund des Alten Volkes, dem Alten Bund des israelitischen Volkes – gesagt worden ist: Du sollst nicht töten! Wer tötet, soll dem Gericht verfallen.“ Das alttestamentliche Gesetz verbot die Tötung und hatte, das war im Morgenlande, im Vorderen Orient eigentlich eine unerhörte Neuerung, genaue Sätze für die Bestrafung von Missetaten festgesetzt. „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn.“ Das war eine recht milde Gesetzgebung, denn wenn einem ein Auge ausgeschlagen wurde, dann wurde in der Nachbarschaft des Volkes der Mann getötet. Hier, im israelitischen Volke, sollte er nur ein Auge verlieren. Und wer einem anderen einen Zahn ausgeschlagen hatte, sollte einen Zahn verlieren. Das war eine Milderung der Gesetze, wie sie in der Umgebung von Israel bestanden.

Aber das alles genügt dem Herrn nicht. „Den Alten ist gesagt worden: Du sollst nicht töten. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gerichte verfallen. Wer zu ihm sagt: Raka, der wird dem Hohen Rate verfallen. Und wer sagt: Du Gottloser, der wird der Feuerhölle verfallen.“

Zunächst einmal, meine lieben Freunde, mit welchem Machtbewußtsein und Hoheitsbewußtsein spricht hier der Herr! Das Gesetz des Alten Bundes kam von Gott. Auch Moses sprach im Name Gottes. Aber der Herr weiß sich mit Gott auf einer Ebene. „Ich aber sage euch…!“ Wenn der Herr Dogmatikprofessor in Würzburg, Walter Simonis, in seinem neuesten Buche behauptet, dass das Neue Testament nichts wisse von der Gottheit Jesu, dann möchte ich ihm diese Stelle vorhalten: „Ich aber sage euch…!“ Denn das ist der Beweis, dass er göttliches Bewusstsein in sich trägt. Das ist der Beweis, dass er sich neben den Gott des Alten Bundes stellt, ja dass er in der gleichen Weise, mit demselben Herrscherrecht spricht wie Gott am Berge Sinai. Und was spricht er? Es kommt nicht allein auf den Buchstaben an, es kommt auf den Geist des Gesetzes an. Es geht nicht nur um Mord und Totschlag, es geht nicht nur um Hieb und Stich, es geht um die Gedanken und um die Begierde. Es geht um das Herz. Es geht darum, wie der Mensch in seinem Herzen gesinnt ist. Der Herr zeigt die Wurzeln der Sünde auf. Der gezückte Dolch oder der geladene Revolver sind ja nur der äußere Ausdruck für eine schlimme Herzensgesinnung. Und die Herzensgesinnung will der Herr geändert wissen. Das Herz soll sich wandeln. Nicht nur soll die Tat unterbleiben, sondern was im Herzen sich auf die Tat hinrichtet, das soll schon gemieden werden. Er will einen neuen Geist, er will ein neues Herz, ein Herz, das keine Bitterkeit in sich trägt, ein Herz, das frei ist von Ressentiment, von geheimem Groll, ein Herz, das Unrecht verzeihen kann, ein Herz, das die Liebe in sich trägt.

Das ist auch für uns, meine lieben Freunde, ein Anlaß zur Gewissenserforschung. Es kommt darauf an, daß wir Gottes Gebote nicht nur nach außen hin halten, sondern daß wir sie auch verinnerlicht haben, daß sie auch unser innerer Besitz, unsere Überzeugung, unsere Willenshaltung geworden sind. Wir halten den Sonntag; wir besuchen die heilige Messe, aber wo sind unsere Gedanken während des Gottesdienstes? Wir hüten uns vor Fluchen und Schimpfen, aber haben wir nicht auch im Herzen schimpfende und fluchende Gedanken, geringschätzige und niederträchtige Gedanken? Wir lassen uns nicht auf Schlägereien ein, aber ist nicht manchmal der Wunsch nach Rache auch in uns lebendig? Wir wollen nichts mit dem Gericht und der Polizei zu tun haben, aber ist nicht unsere Gesinnung auch manchmal schmutzig und niederträchtig, so dass wir selbst erschrecken? Wir finden, dass Ehebruch ein Greuel ist, aber verirren sich nicht auch unsere Gedanken? Wir meiden den Diebstahl, aber sind wir auch entschlossen, jede Übervorteilung zu vermeiden? Wir wollen nicht lügen, aber sagt man nicht: Ja, im Geschäftsleben kann man nicht immer die Wahrheit sagen?

Wie nahe sind wir vielleicht doch den Pharisäern verwandt! Wie weit sind wir noch vom echten Christenleben entfernt! Und doch verlangt unser Herr diese Gesinnung, diese Herzensgesinnung von seinen Jüngern. Wie sehr dem Herrn am Leben aus dem neuen Geist gelegen ist, das macht er an einem Beispiel deutlich: „Wenn du deine Gabe zum Altare bringst – was ja lobenswert ist – und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas wider sich hat, dann laß deine Gabe dort vor dem Opferaltar liegen, gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe!“ Hier wird nicht etwa der Kult abgewertet, sondern hier wird der Kult dadurch erhöht, dass er ein reiner Kult sein soll. Man soll den Kult, den Gottesdienst leisten, nachdem man zuvor mit seinem Bruder Frieden gemacht hat. Es geht nämlich darum, dass der Bruder „etwas wider dich hat“, dass wir also irgend jemandem Anlaß gegeben haben, etwas wider uns zu haben, dass wir ihn gekränkt, beleidigt, hintergangen haben, dass wir im Unfrieden mit ihm sind. Der Opfernde ist schuld daran, dass der Bruder, der Verwandte, der Nachbar etwas gegen ihn hat. Und jetzt muss er, bevor er opfert, hingehen und sich mit dem Bruder versöhnen, das Unrecht abbitten, damit er mit reinem Herzen zum Opferaltar gehen kann.

Meine lieben Freunde, das ist nichts anderes als das Gebot einer radikalen und tiefgreifenden Liebe. Johannes hat es in seinem Evangelium deutlich ausgesprochen: „Ein neues Gebot gebe ich euch, ihr sollt einander lieben, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebet. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt gegeneinander.“ O was ist das eine Liebe, meine Freunde: „Wie ich euch geliebt habe.“ Wer kann eine solche Liebe haben, wie sie der Herr uns bewiesen hat? „Wie ich euch geliebt habe.“ Wer aber das Gebot des Herrn erfüllen will, der muss die Liebe üben. Der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief: „Denn wer liebt, hat das Gesetz erfüllt.“ Ja, wieso denn? Weil, so sagt er, alle die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nichts Böses tun, alle diese Gebote sind in dem einen Gebot enthalten: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Denn die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.“ Deswegen also ist das Liebesgebot die Erfüllung aller Gebote, weil die Liebe dem Nächsten nichts Böses tut. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes.

Ich weiß, meine lieben Freunde, wie schwer die Liebe zu üben ist. Die Liebe ist die schwerste Lektion im Christentum. Aber sie wird uns nicht erlassen. Wer wissen will, ob er mit Gott vereinigt ist, braucht nur die Frage an sich selbst zu stellen: Du, mein Herz, liebst du deinen Nächsten wahrhaftig? Wir können die Liebe nur unter schweren Opfern bewahren. Viele Christen sind bereit, im religiösen Bereich Schweres auf sich zu nehmen. Sie beten den Rosenkranz, sie machen Wallfahrten, sie gehen die Kreuzwegstationen, sie legen das Bekenntnis im Bußsakrament ab, sie verzichten auf Genussmittel, sie geben einen Teil ihres Vermögens hin. Das alles ist richtig, ist nicht wertlos, ist sogar notwendig. Aber es fehlt etwas, wenn nicht dazukommt die Liebe, die dem Nächsten verzeiht, die sich mit dem Nächsten versöhnt, die dem verstimmten, vergrämten, verbitterten Bruder entgegenkommt. Wenn diese Liebe fehlt, machen wir unsere Guttaten nicht nutzlos, aber wir entziehen ihnen den Kern. Gott verlangt gerade dieses Opfer von uns, das uns so schwerfällt und das wir nicht leisten möchten. Alles drängt auf dieses Opfer hin.

In der heiligen Messe sollen wir ja opfern. Ja, was opfern wir denn? Nicht nur unsere Euros, die wir in den Klingelbeutel werfen, nein, opfern heißt Gott den Willen darbringen, Gott die Hingabe darbringen, Gott das ganze Leben weihen. Wir gehen zur heiligen Beichte, und das ist ja richtig und notwendig, aber wir sollen uns auch in der Beichte umwandeln, wir sollen uns auch bekehren, wir sollen uns abkehren von Lauheit, Falschheit, Bosheit. Wir vereinigen uns mit dem Herrn in der heiligen Kommunion, und diese Vereinigung fordert das Leben der Liebe von uns. Wir beten das Vaterunser, und zuckt es uns nicht im Herzen, wenn wir sprechen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern!“? Dieses Gebet verpflichtet uns zu einem neuen, höheren Leben. Unser ganzes Beten und Opfern, unser Glauben und Hoffen ruft zur Liebe auf. „Gott ist die Liebe“, sagt Johannes, also heißt Gottes Leben leben in der Liebe leben.

Der große russische Dichter Tolstoi erzählt eine Geschichte von einem armen Schuster. Der Schuster hat einen Traum, nämlich er träumt, dass Jesus bei ihm vorbeikommen werde. So sitzt er denn in seinem Stübchen und schaut hinaus und wartet auf Jesus. Da geht eine arme Frau vorbei mit ihrem Kind, verzweifelt; sie will in den Tod rennen. Er ruft sie herein, er tröstet sie, er versucht ihr Mut zuzusprechen. Dann geht ein armer Schneeschaufler vorbei. Der Schuster geht wieder hinaus, führt ihn in sein Stübchen, damit er sich wärmen kann, und gibt ihm etwas zu essen. Und so geht es den ganzen Tag. Der Schuster wartet bis Mitternacht, aber Jesus kommt nicht vorbei. Da ist er enttäuscht und will sich zur Ruhe begeben. Aber, wie es seine Gewohnheit ist, liest er noch einmal ein paar Verse des Evangeliums. Und da stößt er auf die Stelle: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Da wird es auf einmal licht und hell in der Seele des Schusters. Er weiß und er erfährt und er begreift, dass Jesus mehrfach an diesem Tage zu ihm gekommen ist.

Amen.

 

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