Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. Januar 2006

Das Gewissen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Mit dem Ausblick auf das ewige Leben haben wir am vergangenen Sonntag unsere Überlegungen beschlossen. Das ewige Leben ist ein Geschenk Gottes, aber es ist ein Geschenk besonderer Art, nämlich es soll gleichzeitig auch unser Verdienst sein. Es ist nicht falsch, obwohl es immer wieder behauptet wird: Es ist nicht falsch, wenn man sagt, man kann sich das ewige Leben verdienen. Ja, beides ist wahr: Es ist ein Geschenk, aber es ist ein Geschenk, das zur Bedingung macht, dass wir auch dieses Geschenkes würdig sind. Und wir sind nur würdig, wenn wir daran mitgearbeitet haben. Wir sollen also das Haus unseres Glückes mit aufbauen. Die Natur ist angelegt auf die Übernatur. Die Natur hat ein Ziel, das sie selbst nicht erreichen kann, aber sie ist auch gefordert, mitzuarbeiten, um dieses Ziel zu erreichen. Die natürlichen Kräfte sind nicht ausgeschaltet, sondern sie werden in den Dienst des übernatürlichen Zieles gestellt. Wir streben mit natürlichen Kräften nach einem Ziel, das uns nur Gott schenken kann. Aber wir sind aufgerufen, mit unseren Kräften an diesem Ziele mitzuwirken.

Die erste Naturanlage, die wir uns hier vor Augen führen wollen, ist das Gewissen, das Gewissen, von dem heute so viel die Rede ist, das Gewissen, das meines Erachtens eines der am meisten missbrauchten Ausdrücke in unserer Gesellschaft ist. Wir wollen vom Gewissen sprechen, und zwar erstens von der Gewissensanlage, zweitens von der Gewissenstätigkeit, drittens von der Gewissensverpflichtung und viertens von der Gewissensbildung.

Der erste Gegenstand unserer Überlegung ist die Gewissensanlage. Gott hat unserem Verstand die Fähigkeit gegeben, zu erkennen. Aber er hat auch den Menschen einen Willen gegeben, um die gottgewollte Ordnung zu erstreben. Damit der Wille in die rechte Richtung gelenkt wird, gab Gott dem Menschen das Gewissen, ein Wissen um die gottgewollte Ordnung des Lebens. Kaum erwacht das menschliche Denken, kaum erwacht das menschliche Fühlen, da weiß der Mensch schon um den Unterschied von gut und böse. Die Seele empfindet es als ein inneres Lebensgesetz, dass sie das Gute erstreben und das Böse meiden soll. Sie weiß sogar um die hauptsächlichen Pflichten des Menschen, zum Beispiel dass man Gott verehren muss und dass man den Mitmenschen gerecht behandeln muss. Wo immer wir Menschen treffen. gibt es die sittliche Anlage. Es gibt kein Volk, es gibt keinen Menschen, der nicht eine Gewissensanlage hätte. Alle wissen um den Unterschied von gut und böse, von gerecht und ungerecht, von Tugend und Sünde. Alle tragen das Bewusstsein in sich: Ein inneres Gesetz verpflichtet uns, den Weg des Guten zu gehen. Dieses Gesetz verpflichtet alle Menschen und ist in seinen Grundforderungen für alle gleich.

Der heilige Paulus lehrt diese Wahrheit im Römerbrief, wenn er schreibt: „Der Kern des Gesetzes ist den Menschen ins Herz geschrieben.“ Ja, so ist es: Der Kern des Gesetzes ist den Menschen ins Herz geschrieben. Schon die Heiden wussten um das Gewissen. Im 1. Jahrhundert lebte der Heide Seneca, und er schreibt einmal: „Nahe ist dir Gott. Er ist bei dir, er ist in dir. Ja, ein heiliger Geist wohnt in uns und wacht über das Gute und Böse in uns.“ Erstaunliche Aussagen eines Heiden! Nahe ist dir Gott. Er ist bei dir, er ist in dir. Ja, ein heiliger Geist wohnt in uns und wacht über das Gute und Böse in uns. Unser großer deutscher Dichter Goethe war ja wohl ein etwas dubioser Christ, aber am Gewissen hat er nicht gerüttelt. In seinem Bühnenstück „Tasso“ heißt es: „Ganz leise spricht ein Gott ins unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“ Ich wiederhole noch einmal diese schönen Verse: „Ganz leise spricht ein Gott ins unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen.“ Ja, meine Freunde, es gibt eine Gewissensanlage, d.h. eine Fähigkeit, ein Urteil über die Sittlichkeit des eigenen Handelns zu fällen.

Es gibt aber zweitens auch eine Gewissenstätigkeit. Das Wissen um Gottes Willen, um die rechte Lebensordnung ist uns in dem Augenblick gegenwärtig, wo wir eine sittliche Entscheidung fällen müssen. Wir haben einen Wächter bei uns, der uns im entscheidenden Augenblick sagt, was recht und was unrecht ist, was Pflicht und was Sünde ist, was uns hilft, unser Leben richtig zu gestalten. Diesen Wächter hat jeder Mensch in sich. Niemand kann sagen: Ich habe kein Gewissen. Das hat einmal ein Mann namens Hermann Göring behauptet. Dieser Reichsmarschall des Dritten Reiches sagte: „Ich habe kein Gewissen. Mein Gewissen ist Adolf Hitler.“ Ja, meine lieben Freunde, das ist wahrhaft ein Ausspruch eines halb wahnsinnigen oder besser eines unter Morphium stehenden Süchtigen. Es gibt keine Menschen, die kein Gewissen haben; nur sie folgen ihm nicht, sie folgen ihm nicht! Selbst die Erbsünde hat das Gewissen nicht zerstört. Auch nach dem Sündenfall hat Gott gleichsam seinen Stellvertreter bei uns gelassen, nämlich das Gewissen. Auch die persönliche Sünde löscht das Gewissen nicht aus. Selbstverständlich kann man das Gewissen abstumpfen, indem man ihm den Gehorsam versagt. Wenn man immer und immer wieder die Stimme des Gewissens überhört, dann stumpft das Gewissen ab, aber tot ist es dennoch nicht. Denn der Kern des Gesetzes ist in unser Herz geschrieben. Das Gewissen bezeugt es und die Gedanken, die einander anklagen und verteidigen.

Im vergangenen Kriege hat ein Sanitätssoldat folgendes erlebt. Es wurde auf den Operationstisch ein schwerverletzter russischer Junge im Alter von etwa zehn Jahren gelegt. Der deutsche Militärarzt sagte: „Dem geben wir eine Spritze.“ Und er gab ihm eine Spritze. Der Junge zuckte noch lange nach, bevor er durch die Spritze getötet war. Kurz danach sprach er seinen Sanitäter, der katholischer Priester war, an: „Absolvieren Sie mich!“ „Wieso“, sagte der Priestersoldat, „wieso? Sie waren doch der Meinung, dass Sie das tun müssten.“ „Nein. Ich bin Arzt, und ich darf nicht töten.“ Auch in diesem Manne hatte sich das Gewissen gerührt. Das Gewissen ist ein Wegweiser am Scheidewege. Wir unterscheiden ein vorangehendes, ein begleitendes und ein nachfolgendes Gewissen. Das vorangehende Gewissen sagt uns: Das darfst du tun oder das darfst du nicht tun. Das musst du tun oder das ist dir verboten. Das begleitende Gewissen spricht uns während der Tat Lob oder Tadel zu. Es lobt uns, wenn die Tat recht war, es tadelt uns, wenn sie schlecht war. Und am Ende, nach der Tat, ist das Gewissen ein Richter. Unparteiisch und ungefragt gibt es sein Urteil ab, ob wir recht oder unrecht getan haben. Mögen uns alle Gerichtshöfe freisprechen, das Gewissen ist in uns mit seinen Gewissensbissen. Und mögen alle Menschen uns verurteilen, wenn wir recht gehandelt haben, spricht uns das Gewissen frei. Es gibt eine Gewissenstätigkeit.

Es gibt aber auch drittens eine Gewissenverpflichtung. Wenn ich heute immer höre: Ich folge meinem Gewissen, dann bin ich immer etwas ängstlich, manchmal etwas skeptisch. Wir sollen dem Gewissen folgen; wir müssen ihm folgen, selbstverständlich, denn der Gewissensspruch trifft uns so verpflichtend wie Gottes Stimme. Man hat das Gewissen sogar schon die Stimme Gottes genannt. Nun spricht Gott natürlich nicht unmittelbar zu uns, aber mittelbar, nämlich durch unsere Vernunft, indem er uns ermächtigt, das Rechte zu erkennen und das Böse zu meiden. Gott steht tatsächlich mittelbar hinter dem Gewissen. Es sagt uns, was Gott von uns will. Deswegen ist der Satz richtig: Folge immer deinem Gewissen. Es ist aber dabei vorausgesetzt, dass das Gewissen richtig gebildet ist, dass das Gewissen richtig orientiert ist. Man kann, meine Freunde, das Gewissen vergleichen mit einem Rundfunkgerät. Das Rundfunkgerät fängt die Schallwellen ein und führt sie uns an Ohr. Ähnlich-unähnlich ist es mit dem Gewissen. Von Gott gehen Schallwellen aus, nämlich seine Gebote und seine Gesetze und seine Befehle. Diese Schallwellen dringen an unser Ohr, und wir haben sie aufzunehmen, wir haben eine Subsumtion vorzunehmen, wie die Juristen sagen, nämlich: Es gibt einen Obersatz – das ist das Gesetz Gottes; es gibt einen Untersatz – das ist die gegenwärtige Situation. Und es gibt eine Schlussfolgerung – das ist der Befehl: Das musst du tun, das kannst du tun, das darfst du tun, oder: Das darfst du nicht tun, das musst du meiden. Diese Subsumtion nimmt das Gewissen vor. Es ist diese Subsumption richtig, wenn das Gewissen dem Gesetze folgt, wenn also das Gewissensurteil, wenn der Gewissensspruch mit dem objektiven Gesetze übereinstimmt, wenn das Prinzip richtig auf den gegenwärtigen Fall angewendet ist. Wenn das Gewissen dagegen dem objektiven Gesetz widerspricht, ist es irrig, und solche Gewissen gibt es zuhauf. Das ist das laxe Gewissen, das eine Verpflichtung nicht annimmt oder sich leicht von ihr entschuldigt glaubt. Das schändlichste Gummifabrikat unserer Zeit ist das Gummigewissen. Das Gewissen sagt niemals: Das ist mein Interesse. Es sagt immer: Das ist meine Pflicht. Es wäre häretisch, zu sagen: Allein mein Gewissen entscheidet. Nein, die verbindliche Ordnung Gottes entscheidet, die du freilich mit deinem Gewissen aufnehmen sollst und der du mit deinem Gewissen folgen sollst. Es kann ein Katholik sich nicht gegen verbindliche, von der Kirche vorgelegte Weisungen Gottes auf sein Gewissen berufen. Das ist unmöglich, und das geschieht leider heute. Es gibt Leute, die sich auf die so genannte Würzburger Synode berufen, dieses verhängnisvolle Unternehmen, wo unter anderem der Satz steht: „Es könnte jemand – es könnte jemand! – zu der Ansicht kommen, dass er im Protestantismus zum Abendmahl gehen kann.“ Das ist Unsinn! Wer das Gewissen recht gebildet hat, dessen Gewissen ist ausgerichtet am Gesetze Gottes. Das Gewissen schafft kein Gesetz, sondern das Gewissen wendet das Gesetz, das Gott gegeben hat, an. Es nimmt Gottes Gesetz entgegen und wendet es auf den vorliegenden Fall an. Durch das Gewissen wird die objektive Gesetzesforderung subjektiviert, mir gegenwärtig gemacht. Ich sage noch einmal: Das Gewissen ist sozusagen die Empfangsstelle, wo die Schallwellen Gottes an unser Ohr dringen. Es gibt also eine Gewissensverpflichtung; sie ist unbedingt. Und nach dem Gewissen werden wir gerichtet, nach dem wahren oder nach dem irrigen. Und beim irrigen Gewissen wird Gott fragen: Wie kam es dazu, dass du ein irriges Gewissen hattest?

Es kam dazu, das ist das Vierte, was wir bedenken müssen, weil jemand sein Gewissen nicht gebildet hatte. Es gibt die Pflicht zur Gewissensbildung. Der Mensch muss sein Gewissen ausbilden, d.h. das Gesetz Gottes kennen lernen, auf die Stimme Gottes hören, und dafür hat er eben, ob er will oder nicht, dafür hat er eben eine Institution geschaffen, wir nennen sie katholische Kirche.

Die Gewissenbildung vollzieht sich auf mehrfache Weise, einmal durch Erziehung. Wir lernen – hoffentlich – im Religionsunterricht, wir lernen von den Eltern, was gut und was böse ist. Wir lernen es im Katechismus, und auf diese Weise bilden wir unser Gewissen. Erziehung ist sicher der hauptsächliche Faktor bei der Gewissensbildung. Dazu kommt aber auch das Beispiel. Wir sehen andere Menschen, die ihrem Gewissen folgen oder auch nicht folgen. Im ersten Falle fühlen wir uns angezogen, im zweiten Falle abgestoßen. Das Beispiel ist ungeheuer wichtig. Die Beispiele, die wir geben mit unserem Leben, meine lieben Freunde, sind gewissensbildend. Wir tragen dazu bei, dass die Menschen ein rechtes Gewissen erlernen. Das Gewissen wird natürlich auch durch Erfahrung gebildet. Wir erfahren ja oft in unserem Leben die Wahrheit des Satzes: Du hast es geboten, o Gott, und so ist es, dass seine Strafe sich selbst wird ein jeder ungeordnete Geist. Ich wiederhole noch einmal diesen fundamentalen Satz: Du hast es geboten, o Gott, und so ist es, dass seine Strafe sich selbst wird ein jeder ungeordnete Geist. Wir erleben es, wie unsere gewissenlosen Handlungen, wie unser Handeln gegen das Gewissen gegen uns ausschlägt. Wir erleben es, wie dann die Gewissensbisse auftreten und uns peitschen und jagen. Ja, wir erleben es am körperlichen Befinden und an der seelischen Verfassung, ob wir recht gehandelt haben oder nicht. Du hast es geboten, o Gott, und so ist es, dass seine Strafe sich selbst wird ein jeder ungeordnete Geist.

Eine der führenden Persönlichkeiten der Französischen Revolution von 1789 war der Anwalt Maximilian Robespierre. Ich habe viele Bücher über ihn gelesen. Die Gestalt dieses Mannes hat mich fasziniert, und ich bin der Meinung, dass er in den Geschichtsbüchern häufig ungerecht beurteilt wird. Er hatte nicht zu unrecht den Namen Le Incorruptible, der Unbestechliche. Er war unbestechlich und verfolgte auf seine Weise, freilich manchmal mit einem irrig geleiteten Gewissen, den Weg der Tugend. Und von ihm, von Robespierre stammt das ergreifende Wort: „Nehmt mir mein Gewissen, und ich bin der unglücklichste aller Menschen.“ Nehmt mir mein Gewissen, und ich bin der unglücklichste aller Menschen.

Amen.

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