Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Oktober 1998

Über Verführung und Ärgernis

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Vor einigen Wochen haben wir die Pflichten bedacht, welche die Sorge für das Heil des Nächsten uns auferlegt. Wir sprachen vor allem von der Pflicht zur brüderlichen Zurechtweisung. Heute wollen wir die Sünden bedenken, die wir gegen das Seelenheil des Nächsten begehen können. Diese Sünden können sich gegen die Gerechtigkeit oder gegen die Liebe richten. Gegen die Gerechtigkeit verfehlen wir uns im Hinblick auf das Seelenheil des Nächsten, wenn wir beispielsweise durch List und Betrug ihn schädigen, wenn Lehrer und Priester ihre Pflicht nicht erfüllen gegenüber den Menschen, die ihnen anvertraut sind. Gegen die Liebe verfehlen wir uns, wenn wir die pflichtmäßige brüderliche oder schwesterliche Zurechtweisung unterlassen, vor allem aber, wenn wir dem Nächsten schaden durch Verführung oder Ärgernis. Verführung und Ärgernis sind also das Thema unserer heutigen Überlegungen.

Die Verführung ist das Bemühen, jemanden auf schlaue Weise zur Sünde zu bewegen. Die Verführung kann geschehen durch Befehl, Aufforderung, Rat. Die Verführung wird im Alten Bunde an vielen Stellen bezeugt; die erste Sünde kam zustande durch Verführung. Es war Satan selbst, der diese Verführung leitete. Er verführte zunächst die Frau, und die Frau verführte den Mann. Viele weitere Beispiele bringt uns das Alte Testament von Verführungen. Die Frauen, die Salomon sich im Alter zulegte, verführten ihn zum Götzendienst; Dalila verführte den Samson; Jezabel verführte den Ahab. Und so werden uns zahllose Beispiele der Verführung berichtet.

Auch unter dem Neuen Bunde sind Verführungen außerordentlich häufig. Sie geschehen gewöhnlich durch zwei Mittel, durch Versprechung und durch Drohung. Wer einen anderen verführen will, der verheißt ihm etwas und hofft, daß er damit seinen Widerstand, in die Sünde einzuwilligen, brechen kann. Wenn das nicht zum Ziele führt, dann droht er ihm mit Strafe, mit Übel und will auf diese Weise ihn zur Sünde bewegen. Der 86jährige Polykarp von Smyrna wurde vom Prokonsul zum Abfall versucht. Er sollte seinen Glauben an Christus aufgeben, aber er zog den Feuertod vor. Zunächst versprach der Prokonsul ihm etwas, nämlich die Freilassung, dann drohte er ihm mit dem Tode; die Drohung wurde erfüllt.

Die Verführung ist auch heute nicht ausgestorben. Verführung spielt an erster Stelle eine Rolle, wenn es um den Glauben geht. Wie viele Menschen haben durch Verführung ihren Glauben verloren! Verführung durch schlechte Bücher, Verführung durch Zeitungen, Verführung durch üble Fernsehsendungen. Verführung geschieht auch bei Eigentumsdelikten. Mir ist es mehr als einmal geschehen, daß Handwerker versuchten, mir eine Rechnung auszustellen, bei der die Mehrwertsteuer fehlte. Das wäre Betrug gewesen; das war Verführung zum Betrug. Ich habe das von mir gewiesen. Verführung geschieht auch zum Diebstahl. Ich kann mich erinnern, daß in meiner Jugendzeit, im Alter etwa von 12 Jahren, sich mehrere Kameraden meiner Klasse durch Verführung zum Diebstahl auszeichneten. Sie gingen auf die Jahrmärkte, nahmen andere mit und lehrten sie, wie man unbemerkt Dinge, die einen Jungen interessieren, von den Ständen wegnehmen konnte.

Außerordentlich häufig ist Verführung auf dem Gebiete der Ehe und des geschlechtlichen Lebens. Wie viele Frauen, wie viele Männer haben in Mischehen durch Verführung ihren Glauben verloren! Wie viele sind bewogen worden, die religiöse Praxis aufzugeben, ja zu einer anderen Religionsgemeinschaft überzutreten! Viele haben ihre Unschuld verloren, weil sie durch den Verführer zu bösem Tun verleitet wurden. Die geschlechtliche Verführung ist sicher die häufigste von allen, und deswegen ist sie so gefährlich und so bedauerlich. Die Verführung ist ein schweres Vergehen gegen die Pflicht, die wir für das Seelenheil des Nächsten haben. Wir machen uns schuldig am Ruin des anderen, wenn wir jemanden verführen. Die eigene Sünde hat man gewissermaßen im Griff; ich kann mich bekehren. Aber ob der andere fähig ist, sich zu bekehren, das weiß ich nicht. Deswegen ist es so schlimm, wenn wir jemanden durch Verführung zur Sünde gebracht haben. Es bleibt uns nur übrig, daß wir durch eifriges Gebet und durch Sühne die Huld Gottes zu bewegen versuchen, in die Seele des anderen einzugreifen, damit auch ihm die Gnade der Bekehrung geschenkt werde.

Die zweite Form, in der dem Seelenheil des Nächsten Schaden zugefügt wird, ist das Ärgernis. Das Ärgernis ist eine Handlung, die böse ist oder als böse erscheint und die anderen zum Anlaß seelischen Schadens wird. Wir unterscheiden das aktive und das passive Ärgernis. Aktives Ärgernis ist jenes, das gegeben wird, passives Ärgernis ist dieses, das genommen wird. Das aktive Ärgernis tritt in drei Formen auf. Die erste Form ist das teuflische Ärgernis. Hier begeht jemand etwas Böses oder etwas, was als böse angesehen wird, aus Haß gegen Gott und den Nächsten, um ihm an der Seele zu schaden: teuflisches Ärgernis. Die zweite Form ist das direkt gewollte Ärgernis. Hier setzt jemand eine böse Tat oder eine als böse angesehene Tat, damit der andere die Sünde tut, damit er ihm in seiner Sünde folgt. Die dritte Form des Ärgernisses ist das indirekt veranlaßte Ärgernis. Es besteht darin, daß man eine Tat setzt, die geeignet ist, bei einem anderen eine Sünde hervorzurufen.

Solche Ärgernisse sind, Gott sei es geklagt, außerordentlich häufig. Wenn die Tennisspielerin Steffi Graf ihren bürgerlichen Kirchenaustritt erklärt, wie sie es getan hat, dann gibt sie damit Ärgernis, denn sie ist für viele ein Vorbild, und andere denken, was Steffi Graf tut, das können sie auch tun. Wenn der designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder viermal eine bürgerliche Ehe schließt, dann gibt er Ärgernis, dann erweckt er den Anschein, die Ehe sei ein Spielball der Laune und der Leidenschaft. Wenn der amerikanische Präsident Bill Clinton in seinen Diensträumen Unzucht treibt, dann gibt er damit Ärgernis. Ein ganzes Volk schaut auf ihn und meint, wenn er so etwas tue, dann sei das nicht weiter schlimm.

Ärgernis geben nicht nur Laien, Ärgernis geben auch Priester. Wenn in Regensburg ein kroatischer Priester zu Gefängnis verurteilt wird, weil er seine Haushälterin vergewaltigt hat, dann gibt er damit Ärgernis, schweres Ärgernis, wirft auf die Kirche einen Schatten und bringt den Klerus in schlechtes Licht. Wenn Bischöfe dem Heiligen Vater ungehorsam sind, dann geben sie damit Ärgernis, denn die Menschen meinen, wenn Bischöfe dem Heiligen Vater in Rom nicht gehorsam sind, dann brauchen sie es auch nicht zu sein.

Das passive Ärgernis besteht darin, daß man sich durch die Sünde oder das sündenähnliche Tun eines anderen zur Sünde veranlassen läßt. Das schlechte Beispiel des anderen zwingt einen nicht zur Sünde; es ist keine Aufforderung, aber es ist ein Anlaß. Das veranlaßte Ärgernis tritt in zwei Formen auf, nämlich im Ärgernis der Kleinen und im Ärgernis der Pharisäer. Das Ärgernis der Kleinen besteht darin, daß jemand aus Schwäche oder Unwissenheit die Sünde eines anderen zum Anlaß nimmt, um selbst zu sündigen. Das ist in der Regel der Fall. Man sieht einen anderen Böses tun und meint, damit in gewisser Weise entlastet zu sein, es auch tun zu können. Die Sünde des anderen zeizt zur Nachahmung. Das ist das Ärgernis der Kleinen, das aus Schwäche oder Unwissenheit hervorgeht. Das Ärgernis der Pharisäer hat seinen Grund in böser Gesinnung. Hier wird eine Handlung, die einwandfrei ist, zum Anlaß genommen, um jemanden zu verdächtigen und eventuell selbst entsprechend zu handeln. Das pharisäische Ärgernis entsteht aus böser Gesinnung. Wer arg ist. der denkt arg; er ist geneigt, anderen Arges zuzuschreiben. Ich habe einmal erlebt, wie eine sogenannte fromme Frau einen Priester in seinem Glauben verdächtigte, weil er bei der Erhebung des Kelches – aus Schwäche oder aus mangelnder Sicht – den Kelch etwas schief hielt. Das ist das Ärgernis der Pharisäer, und dieses Ärgernis ist auch nicht selten, denn Menschen wollen sich, indem sie anderen Böses zuschreiben, über andere erheben. Sie meinen, sie wachsen, wenn der andere sinkt.

Wir müssen, soweit es in unseren Kräften liegt, das Ärgernis meiden. Wir wollen ja dem Nächsten zu seinem Seelenheil verhelfen und nicht ihm schaden. Wir müssen also alles unterlassen, was böse ist oder was den Schein des Bösen an sich trägt. Ja, wir müssen unter Umständen sogar gute Handlungen, einwandfreie Handlungen unterlassen, wenn sie geeignet sind, einem größeren Kreise Anstoß zu bieten. Freilich kann man hier das sogenannte Kompensationsprinzip anwenden. Das heißt: Auch wenn aus einer einwandfreien Handlung Ärgernis entstehen kann, darf sie gesetzt werden, muß sie unter Umständen gesetzt werden, wenn höhere Werte ihre Setzung erlauben oder gebieten. Man darf also zum Beispiel von Gott gebotene Handlungen nicht unterlassen, weil sie anderen Ärgernis geben. Es gibt Menschen, die nehmen Ärgernis daran, daß Katholiken jeden Sonntag die Messe besuchen. Ein solches pharisäisches Ärgernis brauchen wir nicht zu berücksichtigen. Wir brauchen uns nur um das Ärgernis der Kleinen zu kümmern, und hier gilt, wie gesagt, das Prinzip: Wenn entschuldigende Gründe vorhanden sind, dürfen wir selbst dann eine einwandfreie Handlung setzen, wenn daraus Anstoß entstehen kann.

Wenn man Ärgernis gegeben hat, muß man es wieder gutzumachen suchen. Das geschieht einmal durch Belehrung, durch Aufklärung, indem man eben die Verhältnisse den anderen darlegt; es geschieht sodann durch das gute Beispiel. Wenn jemand die Osterkommunion versäumt hat, dann macht er diesen Fehler gut, wenn er sie später nachholt. Es kann aber auch notwendig sein, gegebenes Ärgernis in einem größeren Rahmen wiedergutzumachen. Die Tübinger Theologische Fakultät fordert die Rehabilitierung eines Mannes namens Hans Küng. Rehabilitieren heißt, jemanden wieder in seine früheren Rechte einsetzen. Das kann geschehen, wenn der Entsprechende seine Ärgernisse wiedergutmacht. Also, wenn Küng seine Irrlehren widerruft, wenn er den unermeßlichen Schaden, den er über Kirche und Volk gebracht hat, wiedergutzumachen bestrebt ist, dann kann er rehabilitiert werden, aber nur dann!

„Ärgernisse müssen kommen“, sagt der Herr, „aber wehe dem, durch den Ärgernis geschieht! Es wäre ihm besser, es würde ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt.“

Amen.

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