Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. Oktober 1997

Die Zuverlässigkeit der Evangelien

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Von der Zuverlässigkeit der Evangelien hängt unser Glaube ab. Wir müssen uns also Gewißheit verschaffen, daß die Berichte der Evangelien zuverlässig sind. Gegen diese Gewißheit, gegen den Versuch, diese Gewißheit zu erlangen, stehen heute schwere Widerstände auf. In der exegetischen Wissenschaft selbst hat sich eine Fülle von Hypothesen ausgebreitet, die geeignet sind, den Glauben an die Zuverlässigkeit der Überlieferung zu erschüttern. Der Herausgeber des „Spiegel“, Rudolf Augstein, hat vor einigen Jahren ein Buch geschrieben, in dem er zu dem Ergebnis kommt: Die Kirche beruft sich auf einen Jesus, der niemals gelebt hat. Sie handelt von Worten, die er nie gesprochen hat, und sie beruft sich auf Taten, die er nie getan hat. Augstein hat, wenn man seine Gewährsleute ansieht, nicht einmal falsch geurteilt. Denn es gibt viele sogenannte Erforscher der Heiligen Schrift, die sein Urteil, das ich eben vorgetragen habe, rechtfertigen. Wenn wir diesen Ansturm des Unglaubens bestehen wollen, müssen wir uns Gewißheit über die Zuverlässigkeit der Evangelien verschaffen.

Wie sind uns die Evangelien überkommen? In Handschriften. In Handschriften, die auf Pergament oder auf Papyrus geschrieben sind. Pergament ist haltbar, Papyrus ist nicht haltbar. Deswegen haben wir viele Pergamenthandschriften, aber nur wenige Papyri. Vom Neuen Testament gibt es viertausend griechische Pergamenthandschriften. Diese Handschriften reichen bis ins 5., ja bis ins 4. Jahrhundert zurück. Es gibt Codices, also Handschriften, die von äußerster Zuverlässigkeit und Sorgfalt sind. Ich nenne den „Codex Vaticanus“, weil er nämlich in Rom aufbewahrt wird, den „Codex Sinaiticus“, den ein Forscher im Kloster am Berge Sinai entdeckt hat, und den „Codex Alexandrinus“, weil er aus der Hafenstadt Alexandria stammt. Wenn man dazu noch die Zitate aus der Bibel, die sich in altchristlichen Schriftstellern finden und die in liturgischen Handschriften enthalten sind, hinzunimmt, wenn man außerdem auch die Übersetzungen, die alten Übersetzungen, heranzieht, dann kommt man mit der Überlieferung bis ins 3. und 2. Jahrhundert, also fast unmittelbar in die Zeit der Entstehung der Evangelien.

Bei den Papyri steht es, obwohl nur wenige erhalten sind, noch günstiger. Wir haben Papyri, die bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen, etwa der Papyrus 75 (die Papyri werden mit arabischen Zahlen wiedergegeben). Der Papyrus 75 aus dem 2. Jahrhundert enthält das Lukas- und das Johannesevangelium. Der Papyrus 52 ist noch älter. Ein Fragment aus der Höhle von Qumran, einer der Höhlen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt wurden, enthält Verse aus dem 6. Kapitel des Markusevangeliums. Dieses Dokument ist deswegen besonders wertvoll, weil es um das Jahr 60 datiert werden muß.

Nun enthalten die Handschriften selbstverständlich viele Abweichungen. Lassen Sie einmal eine Klasse von 30 Kindern einen Text abschreiben, und Sie werden feststellen, daß Fehler bei den abschreibenden Kindern auftreten, und zwar verschiedene Fehler; jeder macht seine Fehler. So ist es selbstverständlich auch bei den Handschriften. Die Handschriften haben mehr Varianten, als das Neue Testament Worte zählt. Aber diese Varianten sind in aller Regel bedeutungslos. Es handelt sich um Abschreibefehler, um Hörfehler, um Lesefehler. Es kommen Umstellungen vor von Worten; man hat Pronomina, also Fürwörter, verwechselt. Im ganzen gesehen sind die Varianten, also die Abweichungen, für den Inhalt des Textes bedeutungslos. Ganz wenige Stellen nur sind vorhanden, an denen wir inhaltliche Fragen stellen müssen.

Damit sind wir auch gleich bei der Frage: Wann sind denn die Evangelien entstanden? Der protestantische Theologe Baur in Tübingen verlegte die Entstehung der Evangelien ins 2. Jahrhundert – 130, 150, also in eine sehr späte Zeit. Diese Ansicht ist restlos aufgegeben. Alle Exegeten sind sich diesmal merkwürdigerweise einig, daß dieser Ansatz viel zu spät ist. Aber wann sind sie nun geschrieben, die Evangelien? Die wahrscheinlichste Meinung ist immer noch die, daß die drei ersten Evangelien vor der Zerstörung Jerusalems, also vor dem Jahre 70 entstanden sind. Der anglikanische Bischof John Robinson hat in jüngster Zeit großes Aufsehen erregt mit seiner Erklärung, daß die drei ersten Evangelien in den 50er und 60er Jahren des 1. Jahrhunderts entstanden sein müssen. So hat es auch die Tradition immer gesagt.

Die Evangelien sind geschrieben von Jüngern Jesu, entweder von einem Apostel, nämlich Matthäus und Johannes, oder von anderen Jüngern, Apostelschülern, nämlich Markus und Lukas. Man hat viele Hypothesen aufgestellt, wer nun wirklich der Verfasser der Evangelien sein könnte. Aber alle diese sich widersprechenden Hypothesen können nicht an die Gewißheit heran, die uns die alte Tradition vermittelt, die eben die genannten vier Männer als Verfasser der Evangelien festhält.

Nun haben Sie vielleicht einmal, wenn Sie das Neue Testament aufmerksam gelesen haben, festgestellt, daß zwischen den ersten drei Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas) auffallende Übereinstimmungen bestehen. Diese drei Evangelisten haben vielfach denselben Stoff, dieselben Reden, dieselben Wundertaten. Auch die Anordnung ist in vielen Teilen die gleiche. Wegen dieser Gleichmäßigkeit bezeichnet man die drei ersten Evangelien als die synoptischen, d.h. als die, die eine gleiche Zusammenschau haben. Und wie erklärt man diese Zusammenschau? Niemand ist dabei gewesen, als die Evangelien entstanden, aber die Gelehrten haben sich bemüht, die Übereinstimmung zu erklären. Freilich darf man nicht übersehen, daß es neben der Übereinstimmung auch Abweichungen gibt. Ganz unmotiviert gehen die drei Evangelisten auch manchmal auseinander. Die am meisten Anklang findende These lautet folgendermaßen:

1. Markus ist der älteste Evangelist, und sein Evangelium wurde von Matthäus und Lukas benützt.

2. Matthäus und Lukas haben außer dem Markusevangelium noch eine andere Quelle herangezogen, die vor allem Lehrstoff, also Worte und Reden Jesu, enthielt, die sogenannte Logienquelle.

3. Matthäus und Lukas haben darüber hinaus noch Sondergut, das sie in ihr Evangelium eingebracht haben.

So versucht man, die sogenannte synoptische Frage zu lösen. Das ist ein Versuch, meine lieben Christen. Es ist ein Hypothese, also eine Aufstellung, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat, die aber keineswegs bewiesen ist und eigentlich im Grunde unbeweisbar ist. Man kann die Übereinstimmung zwischen den Evangelisten auch anders erklären, z.B. durch die mündliche Überlieferung. Die orientalischen Völker besaßen ein außerordentliches Gedächtnis, und mit dieser Gedächtniskraft war es möglich, daß sie Dinge wortwörtlich überlieferten, die sie von Jesus gehört hatten oder die die Augen- und Ohrenzeugen ihnen übermittelt hatten.

Nun ist gar keine Frage, daß es eine Zeit gab, in der die Geschehnisse des Lebens Jesu und seine Worte nur mündlich überliefert wurden. Ganz am Anfang wurde nicht geschrieben. Es gab eine Zeit, in der es keine Evangelien gab. Wenn die Evangelien erst in den 50er und 60er Jahren entstanden sind, dann ist eben vorher von einer evangelienlosen Zeit zu reden. In dieser Zeit wurden die Worte und Taten Jesu einmal mündlich überliefert. Die mündliche Überlieferung hat Einzelstücke, einzelne Gleichnisse aus dem Wirken Jesu erzählt und weitergetragen. Aber bald hat man diese Einzelstücke zusammengefaßt. Man hat zum Beispiel die Passionsgeschichte, die Leidensgeschichte Jesu, in einer Zusammenfassung dargeboten, und zwar bald nicht nur mündlich, sondern auch schriftlich. Man hat sie niedergelegt. Die Kirche hatte ja von Anfang an Amtsträger, die hohes Gewicht darauf legten, daß nichts verlorenging von den Worten und Taten Jesu. Und sie haben dafür gesorgt, daß schriftkundige Männer die Worte und Taten Jesu in Sammlungen zusammenfaßten. Solche Sammlungen – nimmt man an – gab es von den Gleichnisreden Jesu, von seinen Wundertaten, von seiner Endzeitrede, vor allen Dingen aber natürlich von seiner Passion, aber auch von seinen Worten. Es gab solche einzelnen Sammlungen, die den Evangelien vorangingen, und es steht nichts im Wege, anzunehmen, daß die Evangelisten bei ihrer Redaktion, also bei der Zusammenfassung der Texte, sich dieser Sammlungen bedienten. So nimmt man z.B. an, daß dem 4. Kapitel des Markusevangeliums eine Sammlung von Wundertaten Jesu zugrundeliegt.

Das alles ist für den Glauben ungefährlich und unschädlich. Wenn man die sogenannte formgeschichtliche Methode als ein Mittel betrachtet, um die vorliterarische (also vor der Niederschreibung liegende) Geschichte der Evangelien zu entdecken, ist gegen die Anwendung dieser Methode nichts einzuwenden. Man muß den Rahmen, also die Redaktion, den die Evangelisten geschaffen haben, von dem Traditionsgut selbst unterscheiden. Das ist legitim. Gefährlich wird es erst dann, wenn einzelne Forscher hergehen und sagen: Durch diesen Vorgang der mündlichen Überlieferung, der Zusammenfassung in Sammlungen und der Einfügung in die Evangelien ist die evangelische Überlieferung bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet worden. Diese Forscher behaupten, die Gemeinde habe schöpferisch, also nicht überlieferungsmäßig, Worte und Taten Jesu in die Welt gesetzt und das Bild Jesu so übermalt, daß historisch nicht mehr auszumachen ist, was er wirklich getan und gelehrt hat.

Hier ist der Punkt, meine lieben Christen, wo wir Einspruch erheben müssen. An dieser Stelle muß sich unser religiöses Gewissen, aber auch unser wissenschaftliches Ethos bewähren, um Einspruch zu erheben gegen den Versuch, die Zuverlässigkeit der Überlieferung des Jesus-Geschehens in Zweifel zu ziehen. Wie diese Zurückweisung im einzelnen aussieht, das wollen wir uns am kommenden Sonntag überlegen.

Amen.

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