Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. Januar 1996

Die Gefahren des menschlichen Zornes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unter den menschlichen Leidenschaften nimmt der Zorn eine erstrangige Stelle ein. Wir wollen am heutigen Sonntage nach seinem Wesen, nach seiner Quelle, nach seinen Gefahren und nach seiner Regelung fragen. An erster Stelle das Wesen des Zornes.

Worin besteht der Zorn? Der Zorn ist ein heftiger Unwille, ein elementarer Akt, der aus dem Menschen herausbricht mit starker, aggressiver Tendenz. Der Zorn richtet sich gegen Beeinträchtigungen aus der Umgebung und der Umwelt. Der Zorn wendet sich gegen ein Verhalten, das eigenes oder fremdes Recht, eine Rechts- oder eine andere Sollensnorm mißachtet. Gewöhnlich wünscht er die Bestrafung dessen, von dem die Mißachtung ausgeht und hat insofern eine gewisse Verwandtschaft mit dem Haß, der ja auch auf die Bestrafung des Nächsten zielt. Dennoch ist er von ihm wesentlich unterschieden, weil er, wie wir gleich sehen werden, auch aus einer guten Wurzel erwachsen kann. Der Zorn ist je nach Temperament bei den Menschen verschieden. Bei manchen flackert er sofort auf, aber erlischt auch gleich wieder; er ist wie ein Strohfeuer. Andere dagegen kommen langsam in Zorn, aber halten ihn um so länger fest. Bei ihnen wurzelt der Zorn ein, und diesen verhaltenen, eingewurzelten Zorn nennt man den Groll. Wieder andere geben keine Ruhe, bis nicht ihr Gelüste nach Bestrafung erfüllt ist. Beim Tier ist der Zorn nicht durch die Vernunft geregelt. Der Hund beißt nach dem Stock, der ihn geschlagen hat. Beim Menschen ist der Zorn mit der Vernunft verbunden, wenn er sich auch leicht deren Leitung entzieht.

Es gibt einen gerechten und einen ungerechten Zorn. Gerecht ist der Zorn, wenn er ein berechtigtes Motiv und ein vernünftiges Maß hat. Berechtigtes Motiv und vernünftiges Maß. Unberechtigt, ungeordnet ist der Zorn, wenn in ihm entweder das Motiv oder das Maß nicht der Vernunft entsprechen.

Die Quelle des Zornes ist in der Regel eine Geringschätzung, die ein Mensch erfährt. Jeder Mensch hat in sich die Sehnsucht nach Anerkennung. Jeder Mensch will in seinem Werte von der Umwelt geschätzt sein. Das ist berechtigt. Es gibt ein berechtigtes Verlangen nach Wertschätzung durch die Umwelt. Ja, diese Wertschätzung durch die Umwelt ist ein Vehikel unseres guten Verhaltens zueinander. Wen man nicht schätzt, den wird man auch entsprechend geringschätzig behandeln, und es ist sehr leicht möglich, daß der Mensch auf Geringschätzung mit Zorn antwortet. Wenn seine erbrachten Leistungen und seine guten Eigenschaften nicht anerkannt werden, wenn ihm wirklich oder vermeintlich schlechte Eigenschaften und miese Leistungen zugeschrieben werden, dann ist leicht die Gefahr vorhanden, daß der Mensch in Zorn gerät. Die unberechtigte Geringschätzung verdient Zorn. Es ist keine Sünde, bei Mißachtung und Herabsetzung in Zorn zu geraten, denn das Motiv ist berechtigt. Nur muß auch das Maß berechtigt sein, mit dem man auf die Geringschätzung reagiert. Oft freilich ist es mehr die eigene Empfindlichkeit und die Ungeduld, die zum Zorn führt, als das verletzte Gerechtigkeitsgefühl. Da müssen wir aufpassen und auf der Hut sein.

Ein Zorn aber ist mit Sicherheit gerechtfertigt, nämlich wenn er sich gegen das anderen zugefügte Unrecht wendet. Wenn wir sehen, wie die Unschuld verfolgt wird und wie das Laster triumphiert; wenn wir beobachten, wie die Kirche von den eigenen Leuten zerstört wird, dann muß sich der Zorn regen. Denn der Zorn ist nichts anderes als ein Ausdruck des Eifers, des Eifers für Gottes Sache. Auch vom Heiland wird berichtet, daß er zornig war. Er sah die Pharisäer „zürnend“ an. Es gibt einen berechtigten Zorn; er wächst aus der Liebe und wird vom Eifer getragen. Dieser Zorn ist der Fittich für große Taten. Wenn wir lesen, daß unser Herr und Heiland am Kreuze als der „Balkensepp“ bezeichnet wird, wenn wir von diesen fatalen Urteilen aus Karlsruhe hören, dann muß doch ein Christenmensch, dem an seinem Glauben noch etwas liegt, in Zorn geraten! Das ist die richtige Reaktion auf derartiges Fehlverhalten von hohen Richtern.

Der berechtigte Zorn ist eine Gabe Gottes. Wir wissen von den Heiligen, daß sie diese Zornanwandlungen gekannt und keineswegs unterdrückt haben. Ein heiliger Hieronymus beispielsweise wurde zornig, wenn er von der Verkehrung der Wahrheit hörte. Die Quelle des Zornes ist also die ungerechte Geringschätzung, die Mißachtung von Wahrheit und Recht; manchmal aber auch nur die eigene Empfindlichkeit oder Ungeduld.

Der Zorn birgt Gefahren in sich. Die erste Gefahr liegt darin, daß er sich der Leitung der Vernunft entzieht. Allzu leicht gelangt man dahin, daß man das rechte Maß des Zornes überschreitet. Es gab einmal einen jungen Adligen namens Wilhelm von Ketteler. Als Student ging er auf die Jagd. Er schoß eine Ente. Der Hund holte die Ente aus dem Wasser, aber er zerriß sie. Der Freiherr von Ketteler fluchte und schalt den Hund. Er schoß eine zweite und dritte Ente. Wiederum zerriß der Hund beide Enten. Da schoß der Freiherr von Ketteler den Hund nieder. So zornig war er. Als er nach Hause kam und die Stiefel ausziehen wollte, waren sie wegen der Nässe schwer von den Füßen zu entfernen. Was tat er? Er nahm ein Messer und schnitt die Schäfte von oben bis unten durch. Polternd fielen die Stiefel in die Ecke. Es wird berichtet, daß er im Zorn mit den Zähnen ein Stück aus einem Trinkglas herausgebissen habe. Aber freilich, das muß auch dazu gesagt werden, er hat den Zorn bewältigt. Er wurde Priester und Bischof von Mainz. Als er eines Tages in den Revolutionsjahren aus dem Dom kam, begegnete ihm ein Kind und stellte sich so, als wolle es ihm die Hand geben. Der Bischof gab ihm die Hand, aber das Kind spuckte in die Hand. Es wollte fliehen, der Bischof hielt es fest und fragte es: „Mein Kind, wieviel hat man dir dafür gegeben?“ „Zwei Pfennige“, antwortete das Kind. Da gab er ihm zehn Pfennige. „Hier hast du zehn Pfennige, aber tue es nicht wieder!“ Dann entließ er das Kind. Das ist also die erste und wahrscheinlich größte Gefahr des Zornes, daß er ungeordnet ist, daß er das Maß überschreitet, daß er sich sogar an leblosen Dingen ausläßt, als ob die Dinge eine Schuld hätten, wenn uns etwas nicht gelingt.

Eine zweite Gefahr besteht darin, daß wir nicht dem Laster und der Sünde zürnen, sondern dem Menschen. Unser Zorn sollte sich auf Laster und Sünde richten, aber nicht auf den Menschen.

Eine weitere Gefahr des Zornes liegt darin, daß wir ihm nicht rechtzeitig Einhalt gebieten. Die Zeit des Zornes muß wieder von einer Zeit des inneren Friedens abgelöst werden. Man darf den Zorn nicht über die Maßen ausdehnen. Man muß beizeiten vom Zorn zur Zornfreiheit übergehen können.

Gefahren des Zornes müssen bewältigt werden. Wie kann man ihnen begegnen? Nun, erstens, indem man sich die Schwäche eingesteht, die im Zorn, im ungeordneten Zorn liegt. Wer im Zorn nicht maßhalten kann, ist ein schwacher Mensch, weil er sich von der Leidenschaft gegen die Vernunft fortreißen läßt. Diese Selbsterkenntnis muß am Anfang stehen. Wer sich vom Zorn überwältigen läßt, ist in einer schwachen Situation. Weiter muß man den Zorn möglichst am Anfang zügeln. Man darf ihn nicht aufputschen, man darf ihn nicht aufheizen. Das kann man selbst tun, das können auch andere tun. Indem man immerfort über das schmerzliche Erlebnis nachdenkt, wird der Zorn immer mehr gesteigert, steigert man sich selbst in einen Zorn hinein. Aber auch andere können es tun, indem sie einen aufhetzen und anstacheln. „Das kannst du dir nicht gefallen lassen! Das mußt du rächen!“ Man soll dem Zorn am Anfang widerstehen.

Der heidnische Philosoph Athenodor gab einmal dem sehr zornmütigen Kaiser Augustus den Rat, wenn er in Zorn gerate, solle er zuerst das griechische ABC aufsagen. Im Zorn soll man überhaupt möglichst schweigen und nichts entscheiden. Denn was im Zorn gesagt wird, ist meistens gefährlich. Was wir im Zorn von uns geben, bereuen wir in aller Regel später bitter. Der Zorn tut eben nicht, was klug und vernünftig ist. „Zorn macht verworr'n.“ Und deswegen sollte man, wenn man zornig ist, möglichst schweigen. Man sollte auch nichts entscheiden, denn Entscheidungen, die aus dem Zorn hervorgehen, sind häufig unüberlegt. Sie bringen manchmal mehr Schaden als Nutzen. Vom großen Philosophen Plato wird erzählt, wie er ein Gastmahl gab. Ein Sklave benahm sich dabei sehr ungebührlich. Die Gäste gerieten in Zorn und waren aufgebracht, er selbst auch. Da fragte ihn einer der Gäste: „Warum bestrafst du den Sklaven nicht?“ Da gab Plato zur Antwort: „Ich würde ihn strafen, wenn ich nicht zornig wäre.“ Im Zorn soll man nichts entscheiden.

Und vor allem soll man den Zorn rechtzeitig wieder zur Ruhe bringen. Man muß wissen, daß der Zorn nicht mit uns gehen darf, daß er sich vor allen Dingen nicht einwurzeln darf und sich zu einem vergiftenden Groll im Herzen verfestigen soll.

Im Neuen Testament wird so manches Mal vor dem ungeordneten Zorn gewarnt. „Der Mensch sei langsam zum Zürnen, denn der Zorn des Menschen tut nicht, was Gott gefällt.“ Und noch eine andere Mahnung: „Lasse die Sonne nicht untergehen über deinem Zorn!“ Das heißt, versöhne dich noch am selben Tage. Als der Heiland einmal mit seinen Jüngern durch Samaria reiste, da nahm ihn ein Samariterdorf nicht auf, weil ja die Samariter mit den Juden verfeindet waren. Die beiden Donnersöhne Johannes und Jakobus sagten zu Jesus: „Herr, willst du, daß wir Feuer vom Himmel herabrufen, damit es das Dorf verzehre?“ Der Herr gab ihnen zur Antwort: „Ihr wißt nicht, wessen Geistes ihr seid. Der Menschensohn ist nicht gekommen, Seelen zu verderben, sondern Seelen zu retten.“

Wahrhaftig, die Sanftmut unseres Heilandes kann uns von unserem Zorn, von unserer Wut heilen. Wir sollten oft mit der Kirche beten: „Jesus, sanftmütig und demütig von Herzen, bilde unser Herz nach deinem Herzen.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt