Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Juni 1995

Die Ausgießung des Geistes

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte, in heiliger Pfingstfreude Versammelte!

„Nachdem er durch die rechte Hand Gottes erhöht worden war und vom Vater den Heiligen Geist empfangen hatte, hat er ihn ausgegossen.“ So berichtet die Apostelgeschichte über das Ereignis des Pfingsttages, dessen Gedächtnis wir heute begehen. „Nachdem er“ – gemeint ist natürlich Christus – „durch die rechte Hand Gottes erhöht worden war“ – damit sind die Auferweckung und die Himmelfahrt gemeint – „und vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen hatte“, der vom Vater ausgeht und ihm deswegen vom Vater mitgeteilt werden muß, „hat er ihn ausgegossen.“ Der Inhalt des Pfingstfestes ist die Ausgießung des Heiligen Geistes durch den erhöhten Herrn Jesus Christus. Diese Ausgießung ist von grundlegender Bedeutung für die katholische Kirche. Denn die Ausgießung des Geistes ist ihre Geburtsstunde, der Beginn ihrer Ausbreitung in die Welt. Wir können dabei die Ökonomie, das Vorgehen Gottes beobachten. Erst schafft er objektive Tatsachen an seinem Sohne: er reißt ihn aus dem Grabe, er verklärt ihn, er erhöht ihn in die himmlische Herrlichkeit; dann schüttet er seinen Geist aus. Er gibt ihn zuerst denen, die das Feuer in anderen entzünden sollen. Erst wurden die Apostel umgewandelt durch den Heiligen Geist, damit sie die Großtaten Gottes verkünden konnten mit Freimut und mit Gewissenhaftigkeit. Dann kommt die Menge, angelockt durch das Brausen des Heiligen Geistes, und fragt, was hier geschehen ist und was ihnen zu tun bestimmt ist. Petrus erklärt ihnen das Wunder, und die Menschen begreifen, was er ihnen sagt. „Es trifft sie mitten ins Herz“, so heißt es in der Apostelgeschichte. Dieselben Leute, teilweise zumindest, welche vor einigen Wochen geschrien hatten: „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“, werden jetzt durch den Heiligen Geist mitten ins Herz getroffen, erschüttert, innerlich bewegt, und fragen: „Brüder, was sollen wir tun?“ Und Petrus gibt die Antwort: „Bekehret euch! Lasset euch taufen auf den Namen des Herrn Jesus Christus, und dann werdet ihr den Heiligen Geist empfangen.“ Der Heilige Geist hat sich am ersten Pfingstfest als der große Versöhner erwiesen. Er versöhnt die Menschen erstens mit Gott, und er versöhnt sie zweitens untereinander.

An erster Stelle wirkt der Heilige Geist die Versöhnung mit Gott. Die Bewohner von Jerusalem hatten aus Unkenntnis oder wegen blinden Vertrauens auf ihre Führer die Hinrichtung Jesu begehrt. Jetzt trifft sie der Heilige Geist mitten ins Herz, und sie beginnen zu begreifen, was sie angerichtet haben. Der Heilige Geist wirkt in ihnen die Erkenntnis ihrer Sünde, denn ohne Erkenntnis der Sünde gibt es keine Bekehrung. Wenn wir heute so wenige Bekehrungen in unserer Kirche erleben, dann ist der Grund darin gelegen, daß die Menschen ihre Sünde nicht mehr erkennen. Sie müssen erst zur Erkenntnis ihrer Schuld gebracht werden, bevor sie umkehren können. Es müssen ihnen also die berufenen Verkünder des Evangeliums dazu verhelfen, daß sie ihre Schuld erkennen. Das geschieht dadurch, daß sie ihnen den Willen Gottes unterbreiten, daß sie ihnen die Gebote Gottes ausrufen und sie auffordern, danach ihr Leben zu überprüfen und auszurichten. Erst also muß die Erkenntnis der Sünde erfolgen, bevor man sich bekehren kann. Wenn man sich aber bekehrt, dann findet man den Weg zu Jesus, dann versöhnt der Heilige Geist den, den er bekehrt hat, mit dem Heiland, und auf diese Weise wird eine wirkliche Erneuerung der Menschen erreicht.

Die Bekehrung setzt voraus, daß man Vertrauen hat, nämlich Zuversicht, daß Gott die Sünde vergibt. Und auch das ist ein Werk des versöhnenden Geistes: Er weckt in denen, die sich der Sündenmacht ausgeliefert haben, das Vertrauen, daß durch die Erlösungstat Jesu Vergebung bereitsteht. Es gibt eine Vergebung der Schuld. Man braucht sich nicht, wie es zwei japanische Mädchen getan haben, in einen Vulkan zu stürzen, weil man mit der Schuld nicht mehr fertig wird. Nein, es gibt eine Befreiung von der Schuld, die Befreiung, die aufgrund der Erlösungstat Jesu bereitgestellt ist und die vom Heiligen Geist dem Menschen zugewendet wird.

Also das ist die erste große Wirkung des Heiligen Geistes, daß er die Menschen mit Gott versöhnt. Begonnen hat es am ersten Pfingstfest, und durch alle Jahrhunderte, nun schon durch 20 Jahrhunderte hindurch, werden die Menschen mit Gott versöhnt, weil der Heilige Geist in ihnen die Erkenntnis der Sünde, die Reue, den Willen zur Bekehrung und die Hinkehr zu Gott wirkt.

Aber der Geist wirkt auch zweitens die Versöhnung der Menschen untereinander. Diese Versöhnung geschieht dadurch, daß sich die Menschen zu Christus wenden. Wenn sich alle Christus zuwenden, wenn sich alle seinem Willen beugen, wenn sich alle mit ihm vereinigen, dann sind sie auch untereinander verbunden. Wenn die Menschen zum Glauben an Christus finden, dann sind die Barrieren zwischen den Menschen niedergelegt. Denn von Christus empfangen sie die gegenseitige wohlwollende Liebe, empfangen sie das gegenseitige Verzeihen, empfangen sie die Vergebung, die ständig und immerfort unter uns Menschen notwendig ist. Die Ausgießung des Geistes an Pfingsten zeigt, wie diese Versöhnung der Menschen vonstatten geht. „Es waren unter denen, die sich da zum Glauben bekehrten, dreitausend an der Zahl, Menschen aus allen Erdteilen, die damals bekannt waren, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel“, sagt die Apostelgeschichte. Und diese vielen, eine sehr verschiedene Sprache sprechenden Menschen, verstanden allesamt die Frohbotschaft, die Petrus ihnen verkündete. Als ich anfing, Theologie zu studieren, in Breslau, fragte uns einmal der Professor: „War das Pfingstwunder ein Sprechwunder oder ein Hörwunder? Haben die Apostel Sprachen sprechen können, die sie nie gelernt hatten, weil der Geist es ihnen wunderbar eingab, oder haben die Zuhörer Sprachen, die sie nicht kannten, verstanden, weil sie vom Heiligen Geist bewegt waren?“ Ich bin überzeugt, daß es beides war. Es war sowohl ein Sprechwunder als auch ein Hörwunder. Die Apostel wußten in ihrer Begeisterung Sprachen zu sprechen, die sie vorher nicht kannten. Und die Zuhörer verstanden, was ihnen gesagt wurde. Warum? Weil die Apostel die Wundertaten Gottes verkündeten. Sie haben nicht ihre Meinungen, ihre Ansichten verkündet, wie das heute viele Prediger tun, sondern sie haben die Wundertaten, die Großtaten Gottes verkündet, und wo sie verkündet werden, da finden sie auch Verständnis. Wenn sich Gegensätze in der Kirche auftun, dann hängt das damit zusammen, daß die Menschen nicht mehr die Wundertaten Gottes vernehmen, sondern daß sie eigene Ansichten, eigene Meinungen den Wundertaten Gottes voranstellen.

Die Apostel haben die Großtaten Gottes verkündet, und auf diese Weise kamen die gläubig Gewordenen zur Einheit im Glauben zusammen. Das ist die grundlegende Einheit. Und die Einheit im Glauben führt dann auch zur Einheit in der Kirche. Wo ein Glaube ist, da ist auch eine Gemeinschaft. Und es gibt keine andere legitime Gemeinschaft in der einen, heiligen Kirche als in dem einen, heiligen Glauben. Zu diesem Glauben und zu dieser Kirche sind alle Menschen berufen. Der Geist rechtfertigt nicht die Sonderexistenz von religiösen Gemeinschaften. Der Geist wirkt nicht, daß Menschen sich der einen, heiligen Kirche widersetzen. Der Geist wirkt keine Abspaltungen und keine Trennungen. Der Geist wirkt Einheit in der einen, heiligen, katholischen Kirche.

Davon freilich ist die Menschheit noch weit, weit entfernt. Soeben haben wir ein neues Beispiel erlebt, meine lieben Freunde. Der Heilige Vater weilt heute in Belgien, in Brüssel. Er wird dort den Missionar Damian Deveuster seligsprechen. Damian Deveuster war ein belgischer Priester, der im vorigen Jahrundert auf die Insel der Aussätzigen, Molokai, ging. Kein Mensch mochte zu diesen vom Tode befallenen Menschen sich begeben, aber er, ein aus einem Bauerngeschlecht stammender junger, gesunder Priester, hat sich zu ihnen aufgemacht, hat ihr Leben geteilt, hat ihnen Hütten gebaut, hat ihnen Wasserleitungen angelegt, hat natürlich auch ihre seelischen Bedürfnisse befriedigt, hat ihnen das Evangeliums verkündigt, hat ihnen das heilige Opfer gefeiert – bis er selbst vom Aussatz befallen wurde; es war ein qualvolles Sterben durch mehrere Jahre hindurch. Als er dem Tode nahe war, schrieb er einen letzten Brief, in dem es heißt: „Wie glücklich bin ich, daß meine Finger noch nicht verfault sind, mit denen ich die heilige Hostie halten kann.“ Diesen Helden will der Heilige Vater heute seligsprechen. Aber was tut der Präsident der evangelischen Kirche in Belgien? Er protestiert dagegen, er legt Protest ein gegen diese „überflüssige katholische Tradition, die der Offenbarung widerspricht“, wie er schreibt. So sieht es also um die Einheit aus, die der Heilige Geist wirken soll. Noch immer ist zuviel Widerstand gegen diese Einheit im Glauben und in der Wahrheit und in der Kirche vorhanden.

Wir wollen unseren Blick noch einmal auf das Geschehen am ersten Pfingstfest richten. Mit den Aposteln war auch eine Frau, die Mutter Jesu, Maria. Sie steht in einer ganz innigen Beziehung zum Heiligen Geiste, denn sie ist diejenige, die von ihm ausgezeichnet wurde, die Mutter des Erlösers zu werden. Sie hat mit den Aposteln den Heiligen Geist erfleht. Sie ist es auch, die nach der ersten Ausgießung des Heiligen Geistes immerfort bemüht ist, diesen Heiligen Geist allen Menschen zuzuwenden, die auch heute ruft und fleht, daß alle Menschen sich vom Wehen des Heiligen Geistes erfüllen lassen und zur Einheit im wahren Glauben und zur Einheit in der einen Kirche finden.

Die Pfingstnovene, die wir neun Tage lang gebetet haben, ist zu Ende. Nicht zu Ende darf sein, meine lieben Freunde, unser Flehen um den Heiligen Geist. „Komm, o Geist der Heiligkeit! Aus des Himmels Herrlichkeit sende deines Lichtes Strahl!“ Komm, o Geist der Wahrheit, erfülle die Herzen deiner Gläubigen, wandle das Antlitz der Erde, durchfeuere uns mit deiner Liebe und führe alle Menschen und alle Völker in der Einheit des einen Glaubens zusammen.

Amen.

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