Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Dezember 1994

Die Begrifflichkeit der Gotteserkenntnis

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Seit vielen Sonntagen beschäftigen wir uns mit der Erkenntnis Gottes. Es ist eine Eigenart der Gotteserkenntnis, daß sie nicht unmittelbar, sondern mittelbar ist. Die Fachsprache nennt die Erkenntnis Gottes, die uns möglich ist, analog. Sie ist verhältnisentsprechend. Wir erkennen Gott also nicht in einem Erkenntnisbild von Gott selbst, sondern wir erkennen Gott in einem Erkenntnisbild von anderen, und diese Erkenntnisweise, diese mittelbare, diese vermittelte Erkenntnisweise, nennen wir analog.

Die Heilige Schrift läßt keinen Zweifel daran, daß wir durch andere Dinge, Geschöpfe, Menschen, geschichtliche Ereignisse, Gott erkennen. Im Buche der Weisheit etwa heißt es: „Denn aus der Schönheit und Größe der Geschöpfe wird durch Vergleichen“ – durch Vergleichen! – „ihr Schöpfer erschlossen.“ Eine vergleichsweise erfolgende Erkenntnis ist uns also nach dem Buch der Weisheit möglich. Der Apostel Paulus hat sich mehrfach über die uns zugängliche Erkenntnis Gottes ausgelassen. Im Römerbrief schreibt er: „Was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar. Gott selbst hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen.“ Also an den Werken erkennen wir Gott. Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit, sind („erst“, könnten wir hinzufügen) seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft („nur“, könnten wir hinzudenken) an seinen Werken zu erkennen. Und im 1. Korintherbrief: „Jetzt sehen wir nur wie durch einen Spiegel in Rätseln. Dann aber (in der Ewigkeit) von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin.“ Oder im 2. Korintherbrief: „Im Glauben wandeln wir und nicht im Schauen.“ Das Schauen gibt eine unmittelbare Erkenntnis, aber der Glaube gibt nur eine mittelbare Erkenntnis Gottes.

Die verhältnisentsprechende, die analoge Erkenntnis Gottes besteht, wie ich andeutete, darin, daß uns nicht ein Erkenntnisbild von Gott selbst möglich und zugänglich ist, sondern nur ein Erkenntnisbild von anderen Dingen, die Gott ähnlich sind. Sie sind ihm ähnlich, weil er ihre Wirk- und Vorbildursache ist. Sie sind von Gott geschaffen, und so ist etwas von Gott in sie eingegangen; so ist eine Spur von Gott in ihnen zu erkennen. Das ist schon bei jedem irdischen Künstler so. Wenn wir ein Gemälde oder eine Skulptur sehen, dann können wir von diesem Gemälde oder von dieser Skulptur auf den Künstler zurückschließen. Wir können etwas über sein Innenleben aussagen, was er sich gedacht hat und wie er selbst beschaffen ist. Ähnlich-unähnlich ist es bei den Geschöpfen, die Gott geschaffen hat. Sie gestatten einen Rückschluß auf Gott. Freilich geht Gott viel weniger in seine Geschöpfe ein als ein menschlicher Künstler in sein Werk. Die Geschöpfe, die Gott geschaffen hat, sind ihm viel mehr unähnlich als ähnlich. Die Ähnlichkeit, die er ihnen eingeschaffen hat, ist begleitet von einer Unähnlichkeit, welche die Ähnlichkeit übertrifft. Wir können also von Gott nicht in einem univoken, in einem eindeutigen Sinne reden, sondern nur in einem analogen, in einem verhältnisentsprechenden Sinne.

So haben es die großen Theologen der Kirche immer verstanden. Der heilige Augustinus sagte einmal: „Überall ist Gott verborgen, überall ist er offenbar. Niemand erkennt ihn, wie er ist; niemand kann verkennen, daß er ist.“ Der heilige Chrysostomus erklärt an einer Stelle: „Der Wesensunterschied zwischen Gott und Mensch ist so groß, daß kein Mensch ihn zu erfassen vermag und kein Menschenwort ihn darzustellen vermag.“ Und schließlich der heilige Cyrill von Jerusalem: „Wir sprechen von ihm nicht, wie es sein müßte, sondern wie es die Menschensprache zu tragen vermag.“ Wir können nur so von Gott reden, wie es Menschen eben tun: mit den menschlichen Mitteln, also mit menschlichen Begriffen und mit menschlichen Worten. Aber um nicht ganz falsch zu reden von Gott, haben die großen Theologen drei Wege ausgedacht, wie wir die menschlichen Begriffe mit Erfolg und mit Berechtigung auf Gott anwenden, nämlich den Weg der Bejahung, den Weg der Verneinung und den Weg der Steigerung.

Wie ist das zu verstehen? Wir verwenden die menschlichen Begriffe, die keine Unvollkommenheit in sich schließen, bejahend auf Gott. Wir sagen: Gott ist weise. Also das Weisesein, die Weisheit, wird Gott in bejahendem Sinne zugesprochen. Wir verneinen gleichzeitig alles, was an menschlicher Unvollkommenheit in einem Begriff ist. Deswegen gehen wir auch den Weg der Verneinung zu Gott. Wir verneinen jede Endlichkeit, jede Begrenztheit, jede Gegensätzlichkeit in Gott. Es ist schon viel, sagen zu können, was Gott nicht ist. Denn damit wird ja mittelbar ausgesagt, was er ist. Und schließlich gehen wir den Weg der Steigerung. Wir schreiben also Gott die menschlichen Vollkommenheiten in einer absoluten und in einer andersartigen Weise zu. Wir müssen die menschlichen Eigenschaften ins Unendliche steigern, wenn wir sie Gott beilegen wollen. Und gleichzeitig müssen wir dabei bedenken, daß sie in Gott anders sind, qualitativ anders sind als im Menschen. Das sind die drei Wege der Bejahung, der Verneinung und der Steigerung, durch die wir zu Gott kommen.

Die analoge Erkenntnis gilt sowohl für die natürliche Erkenntnis, also aus den Geschöpfen, aus den Werken, als auch für die übernatürliche Erkenntnis, also aus der Offenbarung des Alten und des Neuen Testamentes. Das Alte Testament spricht von Gott in Anthropomorphismen. Was sind Anthropomorphismen? Ein Anthropomorphismus ist die Übertragung menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen auf Außermenschliches. Wir können nur von unseren Erfahrungen, Begriffen und Worten ausgehen. Wenn wir beispielsweise das tierische Leben schildern, dann sprechen wir auch hier mit menschlichen Begriffen. Wir sagen, junge Löwen spielen miteinander, wie wir wissen, daß Kinder miteinander spielen. Oder wir sagen von einem Vogel, er singt. Ob der Vogel singt, das muß er selber wissen. Aber wir empfinden seine Äußerungen in Tönen wie ein Singen. Wir übertragen also menschliche Begriffe auf ihn. Ähnlich-unähnlich ist es auch, wenn wir von Gott reden und wenn das Alte Testament von Gott spricht. Da wird Gott als ein Mann dargestellt, der redet, der einen Arm hat, der eingreift, der Augen hat, die funkeln, die vor Zorn glänzen. Als der Turmbau von Babel geschieht, da steigt Gott herunter, um ihn sich anzusehen. Er wird also wie ein Mann geschildert. Oder als das erste Menschenpaar gesündigt hatte, da ergeht sich nach dem ersten Buch des Moses Gott im Abendwind im Garten.

Es ist leicht, eine solche Redeweise lächerlich zu machen, wenn man sie nämlich nicht versteht. Für den, der sie versteht, ist sie alles andere als lächerlich. Diese Redeweise in Anthropomorphismen, also in vermenschlichter Ausdrucksweise, hat einen dreifachen Sinn. Sie soll uns einmal sagen: Gott ist dem Menschen zugänglich. Er ist nicht absolut verborgen, sondern er verkehrt mit den Menschen, er begegnet den Menschen, er redet zu den Menschen, er macht sich bemerkbar bei den Menschen. Gott ist zugänglich. Auf Begegnung mit den Menschen ist er angelegt, und zur Begegnung mit den Menschen ist er fähig. Der zweite Sinn dieser Redeweise ist der, daß Gott als Person beschrieben wird. Er ist persönlich. Er ist nicht eine abstrakte Idee, er ist nicht ein starres Prinzip. Nein, er ist eine Person, besitzt Verstand, Willen und Gemüt. Er ist eine Person mit Intelligenz, mit Willenskraft ausgestattet, ähnlich wie wir es beim Menschen erkennen. Und der dritte Grund: Gott soll als ein lebendiger geschildert werden. Wie soll man ein geistiges Wesen von unendlicher Überlegenheit als lebendig eingreifend, die Geschicke der Menschen bestimmend, anders darstellen, als indem man eben Begriffe aus der Menschensprache benutzt, um sein Wirken, um sein Handeln darzustellen? Um Gott als zugänglich zu kennzeichnen, um ihn als persönlich zu bezeichnen und um seine Fähigkeit, lebendig zu handeln, wiederzugeben, werden Anthropomorphismen, also menschliche Verhaltensweisen und Eigenschaften Gott im Alten Testament zugeschrieben.

Das Neue Testament hat solche Mittel der Beschreibung nicht nötig. Denn im Neuen Testament ist Gott unmittelbar zugänglich geworden in der Person Jesu Christi, ist er leibhaftig auf Erden erschienen. Im Neuen Testament können wir Gott die Hand geben. Wenn wir nämlich Christus berühren, dann berühren wir Gott. Wenn wir in seine Augen schauen, dann schauen wir in die Augen Gottes. Seitdem der Logos Mensch geworden ist, ist die Unzugänglichkeit Gottes überwunden worden. Jetzt ist wahrhaftig das Leben Gottes auf dieser Welt erschienen. Wenn Jesus spricht, dann spricht Gott zu uns. Seine Worte sind die Worte Gottes, kostbar und wertvoll für alle Zeiten.

Um Gott einigermaßen zu erkennen, müssen wir immer neue Begriffe von ihm bilden. Denn unsere Begriffe sind umgrenzt, d.h. sie haben einen begrenzten Inhalt. Gott aber ist unbegrenzt, und deswegen müssen wir möglichst viele Begriffe, richtige, zutreffende Begriffe, auf Gott anwenden, um ihn einigermaßen zu erfassen. Das Bemühen, Gott zu erkennen, wird erst am Ende der Geschichte erfüllt sein. Erst am Ende der Geschichte wird es nämlich so sein, daß alle irdischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, die uns mittelbar Gott erkennen lassen. Erst wenn sich alle geschichtlichen Ereignisse vollzogen haben, erst wenn wir die Natur ganz durchdrungen haben, vermögen wir kraft der Werkoffenbarung Gott im vollen, von ihm gewünschten Sinne zu erfassen. Und erst am Ende der Zeiten wird auch das Verständnis der gnadenhaften Offenbarung zu seinem Gipfelpunkt gekommen sein.

Die analoge Redeweise, meine lieben Christen, ist von großem Gewicht. Sie vermag uns vor Gefahren zu bewahren, die beim Reden von Gott gegeben sind. Nämlich einmal vor der Gefahr der Vermenschlichung. Gott ist Gott und nicht ein Mensch, und er muß Gott bleiben, auch in unserem Beten und in unserem Reden von ihm. Wir müssen uns immer bewußt sein, daß das, was wir von ihm sagen, nur in einem unähnlich-ähnlichen Sinne von ihm gilt. Wenn wir zu ihm sagen: „Vater unser, der du bist in deinem Himmel“, dann ist gewiß richtig, daß Gott ein Verhältnis hat zu uns wie der Vater zu seiner Familie. Aber dieses Verhältnis ist dem irdischen Verhältnis mehr unähnlich als ähnlich. Es ist berechtigt, so zu reden – noch einmal. Wenn wir nämlich nicht so reden wollen, müssen wir schweigen! Aber wir wollen und wir dürfen von ihm reden. Doch müssen wir uns gleichzeitig bewußt sein, daß wir damit Gott nicht vermenschlichen, ihn nicht auf die menschliche Ebene herabziehen dürfen. Auf der anderen Seite schützt uns die analoge Redeweise vor dem Skeptizismus und dem Symbolismus, als ob wir von Gott überhaupt nichts wissen und von ihm überhaupt nicht sprechen könnten, als ob unsere Begriffe von Gott nur Chiffren wären, hinter denen sich das Unsagbare verbirgt. Nein, es gibt eine Erkenntnis Gottes. Es gibt sogar eine richtige Erkenntnis Gottes. Auch wenn sie begrenzt ist, bleibt sie richtig. Und das eben ist die Aufgabe der analogen Redeweise, von Gott zu sprechen und gleichzeitig zu wissen, daß alles, was wir von ihm sagen, in einer weit, weit entfernteren Weise auf ihn zutrifft als auf die irdischen Dinge, die wir sonst damit zu bezeichnen pflegen.

Die Analogie der Redeweise ist notwendig, wenn der absolute Unterschied, die völlige Andersartigkeit von Gott und Mensch gewahrt bleiben soll. Wir dürfen Gott nicht auf die menschliche Ebene herabziehen. Wir dürfen aber auch nicht verzweifeln an der Möglichkeit, zu ihm als unserem Herrn und Heiland zu sprechen und zu rufen. Dem ewigen Gott, dem unvergänglichen, dem unsterblichen, dem unsichtbaren und alleinigen Gott, dem König der Weltzeiten, sei Ehre und Preis in alle Ewigkeit!

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt