Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
9. Januar 1994

Das erlöserische Leben Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Wesen des Christentums heißt Jesus Christus. Wer über Jesus richtig denkt, dem ist auch der Weg zu den Lehren des Christentums geöffnet. Wer aber über Jesus falsch denkt, der muß die Lehren des Christentums abweisen. Wir haben uns deswegen vorgenommen, über Jesus Christus nachzudenken, seine Persönlichkeit und sein Wirken uns zu erschließen; denn nur was man kennt, das liebt man, und unser Sehnen geht dahin, Jesus immer besser kennenzulernen, damit wir ihn immer mehr lieben und ihm immer treuer folgen.

Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, daß Jesus der Mittler ist. Er ist der Mittler zwischen Gott und den Menschen, und zwar ist er zu dieser Mittlerschaft berufen worden, als er eine menschliche Natur mit seiner göttlichen Person vereinigte. Über dieses Mittlertum Jesu wollen wir heute in fünf Gedankenschritten nachdenken.

Die erste Aussage über das Mittlertum Jesu lautet: Jesus hat durch die Einigung der menschlichen Natur mit der göttlichen Person Anteil gewonnen an der gesamten Schöpfung. Jesus hat sich eine menschliche Natur angeeignet aus der Jungfrau Maria, und diese menschliche Natur steht in Verbindung mit der gesamten Schöpfung. Sie ist an dem stofflichen Bestand beteiligt, der von Adam herkommt, und über Adam ist sie verknüpft mit der gesamten übrigen Schöpfung, denn Adam ist ja genommen vom Staub der Erde. So steht also die menschliche Natur Jesu in Verbindung mit der gesamten Menschheit und darüber hinaus mit allem, was von Gott geschaffen ist.

Jesus ist nicht isoliert, sondern er ist das Haupt der Schöpfung. Er ist nicht nur das Haupt der Kirche, wie wir meinen könnten, nein, er ist das Haupt der Schöpfung, weil er nämlich von Gott eingesetzt worden ist als der Erstgeborene der Schöpfung. Er hat Anteil an der gesamten Wirklichkeit, die von Gott in seinem Schöpfungsakt hervorgebracht worden ist. Er ist der zweite Adam. Der erste Adam, vom Staub dieser Erde genommen, hat das Unheil gebracht. Christus ist der zweite Adam, wiederum vom Staub der Erde genommen, aber mit der göttlichen Person vereinigt, er hat das Heil gebracht, eben durch seine Mittlerschaft. Weil er göttliches Wesen und menschliche Natur vereinigt, steht er in der Mitte, in der Mitte zwischen Gott und den Menschen bzw. der Schöpfung. Er ist der Bürge der Vereinigung der Schöpfung mit Gott.

Zweitens: Durch die Annahme einer menschlichen Natur, die der Logos, die zweite Person in Gott, vollzogen hat, ist die ganze Schöpfung anders geworden. Ich sage zunächst einmal vorsichtig: Sie ist anders geworden. Es ist nämlich in sie ein Lebenskeim eingesenkt worden. Es ist so, wie wenn man an einem Tuch zieht, dessen Enden man nicht absehen kann. Wenn man an einer Stelle zieht, wird jede irgendwie geartete Stelle dieses Tuches, jeder Bestandteil in diese Zugbewegung hineingezogen. So ist es also ähnlich-unähnlich auch mit der Menschwerdung des Logos. Die Menschheit, ja die Schöpfung, ist dadurch geweiht, gesegnet, geheiligt worden. Im Martyrologium, also im Verzeichnis der Heiligen der römischen Kirche, heißt es am Vortage, an der Vigil von Weihnachten, daß Gott durch die Menschwerdung seines Sohnes hat die Welt heiligen wollen.

Es ist mit der Annahme einer Menschennatur durch den Logos eine objektive Heiligkeit auf diese Erde gekommen. Das dürfen wir nicht verwechseln mit falschen Meinungen. Es geht nicht um eine Allerlösungslehre, als ob durch die Menschwerdung des Logos die Erlösung des Alls schon vollendet sei. Nein, durch die Menschwerdung ist die Erlösung begonnen. Durch die Erlösung ist gleichsam das Potential geschaffen worden, aus dem die Menschheit schöpfen kann. Es ist ähnlich-unähnlich wie mit einem Stausee, den die Menschen errichten, um die Wassermassen für die Bewässerung von trockenem Land nutzbar zu machen. Der Stausee muß vor der Staumauer gefüllt sein, dann kann man diese Wasser, diese fruchtbringenden Wasser auf die Erde durch Kanäle leiten. Aber solange sie nur in dem Stausee enthalten sind, können sie ihre heilbringende Wirkung nicht entfalten. Sie müssen verteilt werdem.

Ähnlich-unähnlich ist es mit der grundsätzlichen Heiligung, die durch das Erscheinen des Logos geschehen ist. Man könnte sagen: Die Erlösung ist gleichsam im Wartestand vorhanden durch das, was an Weihnachten durch die Annahme der Menschennatur geschehen ist.

Diese Lehre ist berechtigt. Man nennt sie Rekapitulationstheorie. Sie ist vor allem aufgestellt worden von den griechischen Kirchenvätern, Irenäus, Methodius, Gregor von Nyssa und Epiphanius. Diese Rekapitulationstheorie ist im Kern berechtigt, denn wenn der Logos sich eine menschliche Natur aneignet, die mit der gesamten Schöpfung in Verbindung steht, dann muß durch dieses Geschehen die gesamte Schöpfung in irgendeiner Weise verändert werden.

Aber noch einmal: Diese Veränderung ist erst ein Beginn, und wir müssen deswegen drittens sagen: Die Erlösung vollzieht sich durch das gesamte Wirken Jesu auf Erden. Mit der Menschwerdung hat er seine Bereitschaft bekundet, die Erlösung zu vollziehen, hat er sich einen Leib bereitet, um in dem Leibe die Schuld und den Ungehorsam der Menschen aufzuarbeiten. Aber die Durchführung dieser Bereitschaft geschieht in dem ganzen vollmenschlichen Leben Jesu.

Der Mensch hat durch Ungehorsam sein Unheil verschuldet. Mutlosigkeit, Ohnmacht, Krankheit, Tod, Streit, Haß, das sind die Früchte seines Ungehorsams gewesen. Und deswegen mußte jetzt der gehorsame Gottessohn kommen, um durch seinen Gehorsam die Welt von dem Ungehorsam der Menschen und dessen Folgen zu befreien. Alles, was Jesus tut, hat erlöserische Wirkung. Es ist nicht so, wie wir vielleicht in einer vereinfachten und nicht ganz richtigen Darstellung meinen würden, daß nur das Kreuz die Erlösung bewirkte. Das Kreuz ist, wie wir sehen werden, die Aufgipfelung der erlöserischen Wirkens Jesu, aber erlöserische Kraft hat sein ganzes menschliches Leben. Alles, was er tut, ob er geht oder steht, ob er predigt oder ob er weint, ob er trauert oder tröstet: Sein ganzes Leben ist vom Heilsgeheimnis der Erlösung durchwirkt. Das Erlösungsgeheimnis geht durch das ganze menschliche Leben Jesu hindurch; denn jedes Tun hat unermeßlichen Wert, weil es das Tun des Gottessohnes ist. Es ist ja doch nicht wie bei uns Menschen, die wir nur kümmerliche und vom Tode bedrohte Werke vollbringen. Nein, was Jesus tut, ist immer von Ewigkeitswirkung. Deswegen müssen wir also an dem erlöserischen Gehalt des gesamten Lebens Jesu festhalten.

Viertens: Nun gehört aber zu jedem menschlichen Leben der Tod. Seit dem Schicksal, das Adam uns bereitet hat, gibt es kein menschliches Leben ohne Tod. Und wenn der Logos kam, um das menschliche Leben auf sich zu nehmen und aufzuarbeiten, dann mußte er auch den Tod auf sich nehmen. Jesus hat diesen Tod auf sich genommen. Er hat – anders als wir Menschen – ihn nicht wider seinen Willen auf sich genommen, sondern mit seinem Willen. Sein Tod war ein freiwilliger Tod. Er ward geopfert, weil er selbst es wollte. Wir müssen das Todesschicksal leiden, weil wir in der Kette der Adamskinder stehen. Jesus mußte an sich den Tod nicht leiden, aber er wollte ihn leiden, weil er ein vollmenschliches, erlöserisches Wirken dem Vater im Himmel anbieten wollte. Und daß sein Tod von anderer Art war als der unsere, das sieht man an dem darauffolgenden Ereignis, nämlich der Auferstehung. Da zeigt sich, daß sein Tod von einer anderen Qualität war. Es war ein freiwilliger Sühnetod, es war ein stellvertretendes Sterben. Und deswegen folgt auf den Tod die Auferstehung und die Himmelfahrt.

Aber noch einmal: Jesus hatte sein erlöserisches Wirken erst vollbracht, als er am Kreuze rufen konnte: „Es ist vollbracht!“

Fünftens: Der Tod, den Jesus sterben sollte, mußte nicht notwendig ein gewaltsamer sein. Es wäre vom Sinn der Erlösung her auch möglich gewesen, daß er in einer anderen Weise sein Leben abgeschlossen hätte. Daß sein Tod ein gewaltsamer war, das ergab sich aus dem Widerstand der Menschen gegen den Erlöser. Die Welt war so, daß der Gottgesandte in ihr nicht leben, sondern nur sterben konnte. Die Welt war so, daß das Leben von ihr getötet wurde. Die Welt war so, daß die Liebe von ihr umgebracht wurde. Diese Beschaffenheit der Welt hatte Gott in seinen Heilsplan einbezogen. In irgendeiner Weise hat Gott vorausgesehen, daß alles Wirken des Erlösers bei den meisten Zeitgenossen vergeblich sein würde. „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinigen nahmen ihn nicht auf.“ Er hat mit den Zeitgenossen gerungen, er hat sie angefleht, er hat sie mit dem Gericht bedroht, er hat über sie geweint, aber sie ließen sich nicht erweichen, diese harten Herzen, und so mußte er den gewaltsamen Tod erleiden. Der gewaltsame Tod ist also die Folge der Verstockung der Menschen, ihrer Verhärtung im Bösen, die Folge ihres Widerstandes gegen den von Gott gesandten Erlöser.

Der gewaltsame Tod ist aber auch gleichzeitig ein öffentlicher Tod, und darin kündigt sich an, daß das erlöserische Wirken Jesu nicht eine private, sondern eine amtliche, eine hoheitliche Angelegenheit war, wie die griechischen Väter nicht müde werden, zu betonen.

Die Hinrichtung Jesu war, wie wir wissen, nur das Vorspiel zu seiner Auferstehung. Im Hinübergang Jesu lassen sich Tod, Auferstehung und Himmelfahrt nicht trennen. Sie bilden ein Heilsgeheimnis. Daß diese drei Tatsachen, Tod, Auferstehung, Himmelfahrt, eine einheitliche Wirklichkeit bilden, können wir daran erkennen, daß in der heiligen Messe, in der heiligen Messe, die wir feiern, daß in dieser heiligen Messe mehrmals diese drei Geheimnisse zusammen erwähnt werden. „Wir gedenken deines Todes, deiner Auferstehung und deiner Himmelfahrt.“ So heißt es nach der Wandlung, und das ist ein Zeichen für den inneren und innigen Zusammenhang dieser drei Heilsgeheimnisse. Sie bilden ein Heilsgeheimnis. Durch Tod und Auferstehung und Himmelfahrt hat uns Jesus erlöst. Der Erfolg seines Todes zeigt sich im Auferstehen, und der Sieg seines Todes zeigt sich in der Himmelfahrt.

Weil nun diese Tatsachen die Aufgipfelung des Lebens Jesu darstellen, sagen wir manchmal in einer vereinfachten Weise: Jesus hat uns erlöst durch seinen Tod, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt, und das ist ja, wenn es richtig verstanden wird, nicht falsch. Wir müssen nur immer dazudenken, daß das ganze dem Tod vorangehende Leben Jesu ebenfalls erlöserische Bedeutung hat, daß es freilich seinen Abschluß, nein, was sage ich, seinen Höhepunkt in Tod, Auferstehung und Himmelfahrt findet; im Tode deswegen, weil der Tod die höchste Leistung seines Gehorsams gegen den himmlischen Vater war.

Wie uns Paulus mit unübertrefflichen Worten sagte: Er war gehorsam, gehorsam bis zum Tode. Deswegen hat ihn Gott auch erhöht und ihm einen Namen gegeben, der über allen Namen ist, auf daß im Namen Jesu jedes Knie sich beuge im Himmel, auf der Erde und unter der Erde, und daß jede Zunge bekenne: Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist jetzt in der Herrlichkeit Gottes des Vaters, wo er immerzu für uns eintritt, wo er das ganze Schöpfungswerk dem Vater übergibt, was nicht aufhören wird in alle Ewigkeit.

Amen.

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