Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
6. Dezember 1992

Der Erlösungsratschluß Gottes (Teil 1)

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

„Alles auf Erden predigt entweder das Elend des Menschen oder die Barmherzigkeit Gottes, die Ohnmacht des Menschen ohne Gott oder die Kraft des Menschen mit Gott.“ So hat einmal der große französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal geschrieben. „Alles auf Erden predigt entweder das Elend des Menschen oder die Barmherzigkeit Gottes, die Ohnmacht des Menschen ohne Gott oder die Kraft des Menschen mit Gott.“ Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht die Gnade, aber die Menschen, die ersten Menschen, sind aus der Gnade herausgefallen. Sie haben die Ursünde begangen, und da sie die Menschheit gleichsam in sich trugen, wurde die Ursünde zur Erbsünde. Durch einen Menschen ist der Tod in die Welt gekommen, und der Tod ist auf alle Menschen übergegangen, weil alle gesündigt haben. Durch die Sünde des einen Menschen ist der Tod über alle Menschen gekommen.

Die Menschheit kann sich nicht selbst erlösen. Das war der Irrtum des Pelagius, daß er meinte, der Mensch habe die Kraft, sich selbst zu erlösen. Die Erlösung kann man sich ebensowenig selbst verschaffen, wie jemand sich selbst Lehrer sein kann. Die Erlösung mußte von Gott bewirkt werden. Die Trennung von Gott herbeizuführen, das vermochte der Mensch, aber die Brücke wieder zu schlagen zu ihm, das vermochte er nicht. So hat Gott in freiem Ratschluß die Erlösung beschlossen. In freiem Ratschluß. Er konnte nicht gezwungen werden. Es gab keine außergöttliche Kraft, die Gott hätte veranlassen können, die Erlösung zu bewirken. Weder ein Anspruch des Menschen noch irgendeine andere Kraft wäre imstande gewesen, Gott zu zwingen, die verratene Liebeseinheit mit dem Menschen wiederherzustellen. Gott erbarmt sich, wessen er sich erbarmen will und wenn er sich erbarmen will. Die Erbarmung steigt aus den Abgründen seiner Liebe empor. Gott konnte auch nicht durch eine innergöttliche Notwendigkeit gezwungen werden, die Erlösung zu bewirken. Am ehesten hätte man noch denken können an den Schöpfungszweck. Die Schöpfung ist ja erfolgt, um Gottes Herrlichkeit zu offenbaren. Und da könnte man auf den Gedanken kommen: Wird nicht der Schöpfungszweck, nämlich Gottes Herrlichkeit, seine Liebe und seine Heiligkeit zu offenbaren, unmöglich gemacht, wenn die Menschheit in der Sünde versinkt und in der Sünde verbleibt, wenn sie in einer ewigen Sünde verharrt? Nein: Auch wenn die Menschheit in der ewigen Sünde verblieben wäre, würde der Schöpfungszweck Gottes nicht vereitelt. Auch im Nein zu Gott würde sich erweisen, daß Gott allein genügt. Die innere Zerrissenheit und die ewige Unfertigkeit des unerlösten Menschen würden für Gottes Herrlichkeit, für seine Liebe und seine Heiligkeit zeugen. Der Schöpfungszweck wäre nicht vereitelt worden, wenn die Schöpfung in der Sünde verblieben wäre.

Aber freilich, für die lebendige und beglückende Verwirklichung des Schöpfungszweckes ist die Heimholung der Welt und der Menschheit zu Gott geeigneter und angemessener als das Verharren in der Sünde. Die Liebe Gottes wird glaubhafter erwiesen, wenn ihr eine Liebesantwort aus dem Herzen des Menschen entgegenströmt. Die Heiligkeit Gottes wird überzeugender dargestellt, wenn sie im Menschen ein Echo findet. Deswegen ist die Heimholung der Schöpfung zu Gott angemessener gegenüber seinem eigenen Wesen, als wenn die Menschheit und die Welt in der Kälte und in der Verlorenheit des Nein gegen Gott geblieben wäre.

Auch im Menschen selbst ist etwas, was die Angemessenheit der Erlösung nahelegt. Die Engel haben ihre Sünde in der gesammelten Kraft ihres Ichs, ihres Erkennens und Wollens, vollzogen. Nicht so der Mensch. Der Mensch besitzt sich nicht so, wie ein Engel sich besitzt, und wenn er eine Entscheidung trifft, dann geht er nicht oder jedenfalls in der Regel nicht mit dem ganzen gesammelten Sein seines Wesens in diese Entscheidung ein. So war es auch bei der Ursünde. Sie stieg ja nicht aus dem Menschen selbst empor, sie brach nicht selbsttätig aus dem Menschen heraus, sondern sie wurde ihm von einer fremden Macht nahegelegt. Und als er die Sünde tat, da war neben dem Nein zu Gott auch immer noch eine stille Sehnsucht, ein geheimes Ja zu Gott im Menschen vorhanden. Und Gott ist eben von der Art, daß er den glimmenden Docht nicht auslöscht. Nur wenn jemand mit völliger und unwiderruflicher Entscheidung sich gegen ihn entscheidet, dem läßt er seinen Willen. Aber das war bei den ersten Menschen nicht der Fall, und deswegen war es angemessen, daß Gott sie in seine Liebe, in die verratene Liebeseinheit heimholte.

Gott hat, so lehren uns die großen Kirchenväter und Theologen, den Entschluß zur Erlösung von Ewigkeit her gefaßt. Er hat den Entschluß gefaßt, weil er voraussah, daß aus dem Herzen eines Menschen, nämlich seines Sohnes, des Logos, eine Liebesflamme aufstrahlen würde, die alle Schuld und alle Verlorenheit der Menschen weit übersteigen würde. Gott hat die Ursünde zugelassen, weil er voraussah, wie sie überwunden werden konnte. Er hat die Ursünde geschehen lassen, weil er von vornherein die Menschwerdung des Logos, das Fleischwerden seines Sohnes eingeplant hatte. Das ist sein ewiger Ratschluß. Und von diesem Ratschluß sprechen die Kirchenväter, redet die Heilige Schrift, singt das Kirchenlied. Der heilige Cyrill von Alexandrien, dieser große Kirchenlehrer, schreibt zum Erlösungsratschluß unseres Vaters im Himmel: „Gott, der das Zukünftige weiß, und zwar nicht erst, wenn es sich ereignet, wußte vor Erschaffung der Welt, was selbst in den spätesten Zeiten eintreffen würde. Und als er dann das Einzelne verwirklichte, da hat er nicht erst über uns nachgedacht, als wir schon da waren, sondern ehe noch die Erde und die Welt entstanden, hat er schon alles, was uns betraf, in sich vorbedacht. Und in dieser Vorsehung hat er seinen Sohn als Grundstein gelegt, auf den wir auferbaut werden und so noch einmal neu erstehen sollten, aber zur Unverweslichkeit, die wir durch unseren Fehltritt der Verweslichkeit verfallen waren. Denn auch das hatte er schon gewußt, daß wir durch eigene Bosheit uns sterblich machen würden.“ In diesem wunderbaren Text hat der heilige Cyrill von Alexandrien ausgesprochen, was der Apostel Paulus im Briefe an die Epheser uns verkündet hat und was wir an jedem Herz-Jesu-Freitag neu in der Epistel hören: „Allen soll ich klarmachen, welches die Verwirklichung des Geheimnisses sei, das von Ewigkeit her verborgen gewesen in Gott, dem Schöpfer des Alls. Aber jetzt soll den Mächten und Gewalten im Himmel durch die Kirche die überaus mannigfaltige Weisheit Gottes kund werden. So war es in Gottes Ratschluß von Ewigkeit her bestimmt. Er hat ihn nun ausgeführt in Christus Jesus, unserem Herrn.“

Diese von Tradition und Schrift ausgesprochene Wahrheit singen wir auch im Kirchenlied, wenn es in der zweiten Strophe von „Tauet, Himmel, den Gerechten“ heißt: „Gott, der Vater, ließ sich rühren, daß er uns zu retten sann; und den Ratschluß auszuführen trug der Sohn sich selber an. Gottes Engel kam hernieder, kehrte mit der Antwort wieder: Sieh, ich bin des Herren Magd, mit gescheh', wie du gesagt.“

Der Ratschluß Gottes, die Menschheit zu erlösen, steigt aus dem Abgrund seiner Liebe empor. Weder eine außergöttliche Notwendigkeit noch ein innergöttlicher Zwang konnte ihn veranlassen, die Erlösung zu bewirken. Er erbarmt sich, wessen und wenn er sich erbarmen will. Auch auf seiten des Menschen waren Gegebenheiten vorhanden, die es nahelegten, daß Gott den Menschen in die verlorene Liebesgemeinschaft heimholte. Der Mensch blieb angewiesen auf Gott, er blieb aber auch fähig, Gottes Liebe von neuem entgegenzunehmen.

Es hat keinen Zweck, meine lieben Freunde, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn Gott nicht beschlossen hätte, seinen Sohn zur Erlösung in diese Welt zu entsenden. Es ist uns verborgen. Wir wissen nur, daß Gott es beschlossen hat und daß er seinen Ratschluß ausgeführt hat in Christus Jesus, unserem Herrn. Und vor diesem Ratschluß können wir uns nur in Dankbarkeit und Reue beugen. „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse und wie unaufspürbar seine Wege! Wer hat ihm etwas gegeben, daß es ihm vergolten werden könnte? Wer ist sein Ratgeber gewesen? Alles ist durch ihn und von ihm und auf ihn hin. Ihm sei die Ehre in Ewigkeit.“

Amen.

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