Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. Juli 1991

Die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Als Johannes der Täufer auftrat, gab er seinen Zeitgenossen ein Rätsel auf. Sie wußten nicht, wie sie ihn einordnen sollten, und so schickten sie Abgesandte zu ihm, die ihn fragten: „Wer bist du?“ Und sie brachten nacheinander die verschiedenen Rollen vor, die man ihm zutraute. „Bist du der Messias?“ „Nein.“ „Bist du Elias?“ „Nein.“ „Bist du der Prophet?“ „Nein.“ „Ja, wer bist du denn eigentlich?“ Ähnlich ergeht es unserem Heiland. Auch ihn fragen die Menschen: „Wer bist du?“ Und da ist es hilfreich, die ergänzende Frage zu stellen: „Was sagst du von dir selbst?“ Denn was ein Mensch von sich selbst sagt, wie er über sich selbst denkt, wie er sich selbst versteht, das ist nun einmal aussagekräftig für die Wirklichkeit seiner Persönlichkeit.

Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, daß der Herr die Anrede als Messias, als Sohn Davids nicht zurückgewiesen hat. Er war der Messias, und er wollte es sein. Aber da die Messiasvorstellung im Volke pervertiert war, da man aus dem religiösen Heilbringer den politisch-nationalen Messias gemacht hatte, so war er der Bezeichnung als Messias reserviert gegenübergetreten. Diese Vorsicht, diese Zurückhaltung war nicht angebracht bei einem anderen Titel, den Jesus sich zulegte, nämlich bei dem Titel oder Würdenamen „der Menschensohn“. Er spricht oft von sich als dem Menschensohn, griechisch ho hyios tou anthropou – der Sohn des Menschen, aramäisch wahrscheinlich Barnaschah. Siebzigmal in den drei ersten Evangelien spricht Jesus von sich als dem Menschensohn und über zehnmal im Johannesevangelium. Das zeigt, daß dieser Titel doch wohl oft und oft von ihm genannt worden sein muß. Um so auffälliger ist es, daß er außerhalb der Evangelien nur dreimal vorkommt, einmal in der Apostelgeschichte und zweimal in der Apokalypse des Johannes. Die Urchristenheit hat diesen Würdenamen Menschensohn offensichtlich nicht aufgegriffen. Sie hat ihn ebensowenig verwendet wie den anderen ho pais tou thou – der Gottesknecht. Man kann fragen, warum die Urkirche diese beiden Namen nicht gebraucht hat, da sie ja doch unzweifelhaft auf Jesus zurückgehen. Die Erklärung liegt wahrscheinlich darin, daß sie mißverständlich waren. Man konnte, wie wir gleich sehen werden, in diesen beiden Ausdrücken eine falsche Auffassung von Jesus finden, und diese irrige Ansicht ist tatsächlich von Sekten, die sich schon in früher Zeit gebildet haben, in diesen Ausdrücken gefunden worden.

Der Ausdruck „der Menschensohn“ wird von Jesus immer gebraucht, wenn er von seinem messianischen Amt spricht. Der Menschensohn im Munde Jesu ist also der Messias. Wenn seine Aufgabe als Gottgesandter ins Spiel kommt, dann sagt er „der Menschensohn“, und zwar gebraucht er diesen Titel immer in der dritten Person. Er sagt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen.“ Oder er sagt: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann.“ Warum spricht er in der dritten Person von sich als dem Menschensohn? Nun, das ist einmal eine semitische Spracheigentümlichkeit, die wir übrigens auch im Deutschen finden können. Einer meiner Nachbarn sprach mit seinem kleinen Sohn immer: „Ja, was macht denn der Bastian?“ Er sagte nicht: „Was machst du, Bastian?“ Er sagte: „Was macht denn der Bastian?“ Also auch da ist noch der Sprachgebrauch in der dritten Person zu finden. Aber diese Eigentümlichkeit hat noch einen anderen Grund. Indem Jesus von sich als dem Menschensohn in der dritten Person spricht, will er andeuten, daß das Schicksal dieses Menschensohnes ganz und gar von Gott bestimmt wird. Über diesem Menschensohn liegt die göttliche Prädestination. Dieser Menschensohn denkt nur und will nur und tut nur und leidet nur, was der Vater im Himmel über ihn beschlossen hat.

Woher kommt der Ausdruck Menschensohn? Da stehen sich zwei Auffassungen gegenüber. Die eine Auffassung meint, diese Rede vom Menschensohn stamme aus dem Psalm 8. Im 8. Psalm wird die Herrlichkeit Gottes gepriesen und die Niedrigkeit des Menschen ihr gegenübergestellt. „Sehe ich den Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du aufgestellt, was ist der Mensch, daß sein du gedenkst, der Menschensohn, daß du ihn ansiehst?“ Hier wird also die Kleinheit, die Bedürftigkeit, die Armseligkeit, die Anspruchslosigkeit des Menschen der Hoheit Gottes und seines Werkes gegenübergestellt. Der Menschensohn in diesem Sinne ist nichts anderes als der Mensch, ein Glied aus der Gattung Mensch, und zwar mit betonter Hervorhebung seiner geschöpflichen Schwäche. Aber es ist offensichtlich, daß Jesus nicht auf diesen Sprachgebrauch zurückgreift, wenn er von sich als dem Menschensohn spricht, sondern daß er auf einen anderen Text des Alten Testamentes zielt, nämlich auf das Buch des Propheten Daniel. Dort ist von einer unerhörten Weissagung die Rede, von dem Tier, das aus dem Meere aufsteigt; das ist die furchtbare widergöttliche Macht. Und im Gegensatz zu diesem Tier steht einer, der von oben, vom Himmel, kommt. „Während ich noch die Nachtgesichte hatte, kam plötzlich einer, der aussah wie ein Menschensohn, auf den Wolken des Himmels. Als er bei dem Hochbetagten angelangt war, führte man ihn vor denselben. Ihm ward nun Herrschaft, Ehre und Reich verliehen, ihm müssen alle Völker, Nationen und Zungen dienen. Seine Herrschaft wird ewig dauern und nie vergehen, sein Reich wird niemals zerstört werden.“ Hier ist also von einem Menschen die Rede, der unvergängliche und universale Macht erhält. Das ist der Anknüpfungspunkt für die Rede Jesu, wenn er vom Menschensohn spricht. Der Ausdruck Menschensohn im Munde Jesu ist nicht eine Demutsbezeichnung, sondern eine Hoheitsaussage. Er will damit nicht die Nichtigkeit, die Vergänglichkeit, die Hinfälligkeit des Menschen, also auch die seinige, ausdrücken, sondern er will die Hoheit, die Erhabenheit, die gottgleiche Würde ausdrücken, die dem danielischen Menschensohn zukommt.

Es lassen sich drei Aussagekreise in der Verwendung des Begriffes Menschensohn bei Jesus nachweisen. Erstens ist er eine Bezeichnung für die übermenschliche Würde dieses Menschensohnes. So, wenn er zum Beispiel im Lukasevangelium sagt: „Ich aber sage euch: Wer mich vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich der Menschensohn vor Gottes Engeln bekennen. Wer mich vor den Menschen verleugnet, der wird vor Gottes Engeln verleugnet werden.“ Er ist der Menschensohn, an dem sich das Schicksal des Menschen entscheidet. Wie man sich zu ihm stellt, so wird sich Gott zu den Menschen stellen. Dieser Menschensohn ist voll Macht: „Damit ihr wißt“, sagt er, als er den Gichtbrüchigen heilt, „damit ihr wißt, daß der Menschensohn Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben“, deswegen wirkt er das sichtbare Wunder, indem er den Kranken heilt. „Steh auf und verschwinde!“ Der Menschensohn in dieser ersten Bedeutung ist also ein Machtträger, er ist ein Hoheitsträger. Er ist derjenige, der von Gott mit überirdischer Gewalt bekleidet ist. An ihm entscheidet sich Heil oder Unheil der Menschen. Wie man sich zu ihm stellt, das ist bestimmend für das ewige Schicksal eines jeden Menschen.

Der zweite Gedankenkreis um diesen Menschensohn geht auf sein Leiden, auf sein sühnendes Leiden. Jesus hat den Menschensohn nicht nur in seiner Hoheit verkündet, sondern auch in seiner Erniedrigung als den Leidenden. Dreimal, im 8., 9. und 10. Kapitel bei Markus, spricht Jesus davon, daß der Menschensohn hinaufziehe nach Jerusalem, um dort zu leiden. Im 8. Kapitel: „Nun fing er an, sie zu belehren, der Menschensohn müsse vieles leiden, von den Ältesten, Oberpriestern und Schriftgelehrten verworfen und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.“ Er redet davon ganz offen. Daß Jesus damit nicht etwa einen anderen gemeint hat als sich selbst, das sieht man daran, daß Petrus ihn beiseite nahm und anfing, es ihm zu verweisen. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an, droht dem Petrus und sagte: „Opiso mou, Satanas!“ -  Weg von mir, Satan! Denn du hast nicht Sinn für das, was Gottes, sondern was der Menschen ist. Also er ist dieser Menschensohn, der da hinaufzieht nach Jerusalem, um zu leiden und um getötet zu werden. Jesus hat, und das war seine große Tat, den danielischen Menschensohn in Hoheit und Macht verbunden mit dem leidenden Gottesknecht von Isaias 52/53. Der Menschensohn ist gleichzeitig Gottes Hoheitsträger und das Lamm Gottes, das da hinwegträgt die Sünden der Welt. Das wird im 10. Kapitel bei Markus ganz deutlich an dieser wunderbaren Stelle: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Das also ist das Schicksal dieses Menschensohnes auf Erden. Er leistet der Menschheit einen Dienst, und dieser Dienst bringt ihn um sein Leben, führt ihn in die Nacht von Golgotha. Aber das geschieht, um die vielen zu erlösen. Sein Tod ist das Lösegeld, der Lösepreis für die vielen.

Der dritte Gedankenkreis um den Menschensohn geht auf seine Wiederkunft. Er ist in den Tod hineingeführt worden, aber er ist nicht im Tode geblieben. Der Tod hat ihn nicht festhalten können, denn er war das Leben selber. Und so hat er den Tod entmächtigt und ist aus dem Tode hervorgegangen als der Sieger von Golgotha. Und dieser Sieger weilt jetzt in der Herrlichkeit des Vaters, im Wartestand gleichsam, denn er wartet auf den Zeitpunkt, den der Vater bestimmt hat, wo er wiederkehrt als der Richter der Lebenden und der Toten. Und zu dieser Rolle als Richter, als universaler Herr der ganzen Welt, hat sich Jesus bekannt im Angesichte seiner Verurteilung vor dem Hohen Rat. Auf die Frage, ob er der Christus sei, hat er geantwortet: „Ich bin es!“ Aber er hat es dabei nicht bewenden lassen. Er hat eine weitere Aussage hinzugefügt: „Ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Allmacht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.“ Also: Der, den ihr jetzt verurteilt, der, den ihr jetzt in den Tod bringt, der wird zur Hoheit Gottes erhöht werden und von da wiederkehren als der Richter auch derjenigen, die ihn in den Tod befördern. Das ist der apokalyptische Menschensohn, die dritte Aussage, die Jesus von seiner Menschensohnqualität macht. Und diesen Jesus hat an der einzigen Stelle der Apostelgeschichte, die den Menschensohntitel enthält, Stephanus gesehen. Als er seine große Rede hielt und Zeugnis ablegte für Jesus, da wurde ihm geschenkt, den Menschensohn zu schauen. „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn stehen – stehen! – zur Rechten Gottes.“ Der Menschensohn im Himmel hat sich erhoben von seinem Throne, um seinen Zeugen zu erwarten und aufzunehmen, den ersten Blutzeugen des Christentums. Das ist der Sinn, warum er steht. Er steht in der Erwartung seines heiligen Martyrers, des Stephanus.

Das ist die Hoffnung, meine lieben Freunde, die wir haben, die Hoffnung, die auch in der Apokalypse ausgesprochen wird, im letzten Buch der Bibel. Da sieht der Seher auf Patmos den Menschensohn zur Rechten Gottes mit einer goldenen Krone auf dem Haupt und einer Sichel in der Hand. Diese deutet seine Funktion als Richter an. Ihm gehen wir entgegen, und dann werden wir ihn sehen, wie er ist, den Menschensohn in der Hoheit und Erhabenheit des Vaters.

Amen.

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