Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
14. August 1988

Die formalen Wirkungen der Rechtfertigung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Selbst der Huflattich ist nicht ungefährlich. Wer die gestrige Zeitung gelesen hat, weiß, daß er bei Mutter und Kind, zu lange und unbedacht eingenommen, Leberschäden hervorrufen kann. Ich stelle dieses Beispiel aus der Gesundheitspflege an den Anfang der Predigt, um zu zeigen, daß eben auch kleine Verschiebungen bei der Anwendung von Mitteln  große, gefährliche Folgen haben können; das nicht nur im Bereich des Leibes, das auch im Bereich der Seele, das auch auf dem Gebiet der Religion.

Es ist eben nicht gleichgültig, wie man die Rechtfertigung bestimmt, ob nur als Nichtanrechnung der Sünde und Anrechnung der Gerechtigkeit Gottes wie Luther, oder wie die katholische Kirche, die sagt: Die Rechtfertigung ist die Versetzung aus dem Stand eines Unheiligen in den Stand eines Heiligen, ist eine wahre Gerechtmachung. Die heiligmachende Gnade ist eine übernatürliche Seinsweise, nicht nur eine Huld Gottes, wie Luther wollte. Davon hängt ungeheuer viel ab, ob wir ein Als-Ob der Rechtfertigung annehmen oder eine Wirklichkeit, eine geschehene, im Sein verankerte Wirklichkeit der Rechtfertigung.

Wir haben heute nach den formalen Wirkungen der Rechtfertigung zu fragen. Wenn die heiligmachende Gnade im Menschen ist, was wirkt sie dann? Es sind fünf Wirkungen, welche die Kirche immer in engem Anschluß an die Heilige Schrift herausgefunden hat, nämlich erstens: Die heiligmachende Gnade heiligt die Seele, wie ja der Name schon sagt: heilig machend, gratia sanctificans – heiligmachende Gnade. Die Seele wird durch die heiligmachende Gnade mit einer neuen Seinsqualität beschenkt, und die Kirche weiß, daß sie hier in engstem Anschluß an das Neue Testament lehrt, denn im 1. Korintherbrief heißt es: „Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt durch den Namen unseres Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.“ Also dreifach schildert der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief diese Wirkung der heiligmachenden Gnade. Ihr seid abgewaschen – von allen Flecken. Ihr seid geheiligt – das ist die positive Wirkung. Ihr seid gerechtfertigt – nicht mehr Ungerechte. Die Ausdrücke sind alle gleichbedeutend, und sie besagen: Wer die heiligmachende Gnade besitzt, an dem sind zwei deckungsgleiche Wirkungen festzustellen, einmal die Tilgung von jeder schweren Sünde und zum anderen die Gemeinsamkeit mit der göttlichen Natur, die Gemeinschaft, die Vereinigung mit Gott.

Das ist die Wirkung der Heiligung. Die zweite Wirkung der heiligmachenden Gnade ist, daß sie der Seele eine übernatürliche Schönheit verleiht. Wir sprechen manchmal im Sprachgebrauch des Alltags von einer „schönen Seele“ und meinen, daß ein Mensch edel und wertvoll ist, daß er Tugenden besitzt. Die Verwendung des Wortes „Schönheit“ im Zusammenhang mit der heiligmachenden Gnade besagt viel mehr. Sie besagt eine Annäherung an die Schönheit Gottes. Sie besagt, daß der Mensch durch die heiligmachende Gnade nach dem Bilde Gottes geformt wird, daß er ein Abbild Christi wird, der ja von sich sagt, daß er der Erstgeborene „unter vielen Brüdern“ sei. Ja, das ist es. Wir werden Christus verähnlicht, dem schönsten aller Menschenkinder. Er ist der „schönste Herr Jesus“, wie wir im Kirchenlied singen, und etwas von dieser Schönheit wird dem Menschen mitgeteilt, wenn er die heiligmachende Gnade empfängt.

Auch dafür können wir die Heilige Schrift anführen, wenn es im Römerbrief heißt: „Die er im voraus erwählt hat, hat er auch vorausbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichgestaltet zu werden“, und dieses Bild ist eben das schönste, das schönste unter allen Menschenbildern, und etwas von dieser Schönheit teilt sich dem mit, der in der heiligmachenden Gnade lebt.

Als der heilige Pfarrer von Ars, Johannes Vianney, einmal ein Kind traf, und es ihm einen Blumenstrauß schenkte, da sagte er zu dem Kinde: „Kind, diese Blumen sind schön, aber noch viel schöner ist deine Seele im Glanz der heiligmachenden Gnade.“ Wahrhaftig, so ist es. Viel schöner als alles Geschaffene, was wir auf Erden bewundern können, ist die übernatürliche Schöpfung des Menschen, der in der heiligmachenden Gnade lebt. Er hat wirklich eine schöne Seele.

Die dritte Wirkung der heiligmachenden Gnade ist, daß der Mensch zum Freunde Gottes wird. Aus einem Feinde wird ein Freund, aus einem Nichtgerechtfertigten ein Gerechtfertigter. Freundesliebe ist eine Liebe, die auf der Gemeinsamkeit aufbaut, und eine gegenseitige Liebe ist wohlwollend. Wie schon der große heidnische Philosoph Aristoteles erkannt hat und der heilige Thomas in seiner Nachfolge gelehrt hat: Freundesliebe ist eine gegenseitige Liebe des Wohlwollens, die auf irgendeiner Gemeinsamkeit beruht. Welches ist denn die Gemeinsamkeit zwischen Gott und uns? Nun, eben die Teilnahme an der göttlichen Natur, die in der heiligmachenden Gnade uns geschenkt wird, das ist die Gemeinsamkeit. Und weil wir gemeinsam im Sein mit ihm sind, deshalb können wir auch gemeinsam im Tätigsein mit ihm werden, wir können lieben, uns gegenseitig lieben, wie er uns liebt, freilich nur mit menschlicher Kraft, aber es ist eine gegenseitige Liebe des Wohlwollens, aufruhend auf der Gemeinsamkeit, die wir in der heiligmachenden Gnade gewonnen haben.

Auch dafür läßt sich die Heilige Schrift anführen; denn in der feierlichen Stunde seines Abschieds sagte der Herr: „Meine Freunde seid ihr, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Nicht mehr nenne ich euch Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch habe ich Freunde genannt, weil ich euch alles mitgeteilt habe, was ich von meinem Vater gehört habe.“

Dieses Wort findet Verwendung in der Weiheliturgie. Es gilt also gewiß in einem hervorragenden Maße für den Priester. Aber es ist nicht auf den Priester zu beschränken. Freundschaft schenkt der Herr auch demjenigen, der in der heiligmachenden Gnade gerechtfertigt ist. Auch er ist ein Freund, sie ist eine Freundin Gottes.

Die vierte Wirkung der heiligmachenden Gnade besteht darin, daß der Gerechtfertigte ein Kind Gottes und ein Erbe des Himmels wird. Ein Kind Gottes! Er wird zum Adoptivsohn, sie wird zur Adoptivtochter Gottes, denn Gott hat nur einen natürlichen, aus seiner Wesenheit gezeugten Sohn, das ist unser Herr und Heiland Jesus Christus. Aber er hat viele Adoptivkinder. Adoption ist die gnadenhafte Annahme einer fremden Person, und diese Form der Annahme ist ja in einer irdisch-rechtlichen Weise schon im bürgerlichen Bereich bekannt. Wir kennen das Adoptivverhältnis. Man kann ein Kind adoptieren. Aber das ist natürlich bloß eine moralisch-juristische Angelegenheit, während die Adoption, die hier gemeint ist in der heiligmachenden Gnade, eine in das Sein hineinreichende Wirklichkeit ist. Wir werden teilhaftig göttlicher Natur, wir werden physisch mit dem Herrn und Heiland, der uns adoptiert, verbunden.

Und auch dafür läßt sich eine wunderbare Stelle in der Heiligen Schrift anführen, nämlich aus dem Römerbrief: „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wiederum zur Furcht, sondern ihr habt empfangen einen Geist der Kindschaft, in dem wir rufen: Abba – lieber Vater. Der Geist selbst bezeugt unserem Geiste, daß wir Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, dann auch Erben, Erben Gottes und Miterben Christi.“ Kinder Gottes! Was kann man Schöneres von dem Menschen sagen? Darin liegt die Würde des Menschen. Der Mensch ist eben nicht nur ein Konglomerat von Chemikalien, die sich beim Tode auflösen, sondern der Mensch ist Kind Gottes, und darin liegt seine Würde und darin liegt seine Unsterblichkeit und darin liegt auch die Achtung begründet, die man den Menschen erweisen muß.

Die Prinzessin Marie-Louise von Frankreich wurde einmal von ihrer Erzieherin getadelt. Da war sie entrüstet. „Wissen Sie nicht, daß ich die Tochter Ihres Königs bin?“ sagte sie zu der Erzieherin. Und die Erzieherin antwortete ihr: „Und wissen Sie nicht, daß Sie und ich die Töchter des höchsten Königs sind?“ Diese Frau hatte Würdebewußtsein, sie wußte, was es um den Menschen ist, der in der heiligmachenden Gnade steht. Er ist ein Sohn, sie eine Tochter des höchsten Königs. Und wenn wir Brüder und Schwestern Jesu Christi geworden sind, dann sind wir eben, wie es ja bei der Adoption der Fall ist, auch Erben. Wer adoptiert wird, erbt. Und so erben wir eben mit Jesus die Gemeinschaft des Himmels, der himmlischen Freude. Das Erbe fällt uns zu, das Erbe ist uns gesichert. Der Herr hat es verheißen, und er wird es erfüllen. Wir werden dieses Erbe in Empfang nehmen, wenn die Schatten fallen.

Und schließlich die fünfte und letzte Wirkung der heiligmachenden Gnade. Wer in der heiligmachenden Gnade lebt, der ist ein Tempel Gottes, in dem der Heilige Geist wohnt. Ja, wahrhaftig: Mit der heiligmachenden Gnade ziehen nicht nur die geschaffenen Wirklichkeiten Gottes in die Seele ein (wir haben ja am vorigen Sonntag von der geschaffenen Gnade gesprochen), nein, auch die ungeschaffene Gnade, nämlich Gott selbst, nimmt in der Seele des Gerechtfertigten Wohnung. Gott selbst kommt und nimmt Wohnung! Und wenn wir sagen: Das ist der Heilige Geist, dann ist das selbstverständlich nicht falsch. Wir schreiben eben diese Wirkung, daß Gott kommt, dem Heiligen Geist zu, weil er gesendet wird. Aber alle Wirkungen der Dreifaltigkeit nach außen sind den drei göttlichen Personen gemeinsam. Das bedeutet: Wenn der Heilige Geist kommt, dann kommt auch der Vater, und dann kommt auch der Sohn. Die Dreifaltigkeit nimmt in der Seele Wohnung, der dreifaltige Gott lebt in der Seele des Gerechtfertigten.

Das sind keine Phantasien. Das ist begründet in den Worten des Herrn, wenn er sagt: „Jeder, der mein Wort hält, den wird mein Vater lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Wir – also der Vater und er und selbstverständlich die Liebe zwischen Vater und Sohn, die der Heilige Geist ist. „Wir werden kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ „Wißt ihr nicht, daß ihr ein Tempel Gottes seid und daß der Geist Gottes in euch wohnt?“ So mahnt der Apostel Paulus die Sklaven und Sackträger in Korinth, „Wißt ihr nicht, daß ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ Wahrhaftig, Größeres kann man vom Menschen nicht sagen, Unverlierbareres trägt er nicht in sich. Das kann nur durch seine eigene Schuld verlorengehen, das kann ihm kein Mordkommando und keine Naturkatastrophe nehmen, diese Einwohnung des Heiligen Geistes.

Wenn wir diese Wirklichkeiten, diese Herrlichkeiten bedenken, die die heiligmachende Gnade in uns wirkt, dann müssen wir aus dieser Überlegung auch Folgerungen für unser Verhalten ziehen. Mit welcher Sorgfalt müssen wir darauf achten, daß wir den Heiligen Geist nicht betrüben! Wie hoch müssen wir von uns denken! Nur wer hoch denkt, handelt auch hoch. Nur wer edel denkt, handelt auch edel. Wer minderwertig von sich denkt, der handelt auch minderwertig. Wir müssen eine ganz hohe Meinung von unserem Wert, von unserem gottgeschenkten Wert haben und dementsprechend uns verhalten. Da gibt es ein schöner Wort vom heiligen Stanislaus. Immer, wenn eine Versuchung ihn bedrängte, da sagte er sich: „Ich bin zu Höherem berufen!“

Wahrhaftig, meine lieben Freunde, wir sind zu Höherem berufen. Nicht der Schlamm, nicht das primitive Genießen paßt für uns, sondern die Höhe, da wo Taborhöhe ist, wo der Herr mit seinem Heiligen Geiste lebt, da wo wir in der heiligmachenden Gnade handeln und wandeln, da wo wir leben als Kinder Gottes und Erben des Himmels. „Ich bin zu Höherem berufen!“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt