Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Juni 1988

Die Prädestination

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am vergangenen Sonntag haben wir nachgedacht über die Allgemeinheit des göttlichen Heilswillens. Gott will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. So hatten wir mit dem 1. Timotheusbrief erkannt. Es ist aber eine Wahrheit, daß, so hinreichend das Erlösungswerk Christi für alle Menschen ist, es doch nicht für alle Menschen wirksam ist. Es gbt deswegen einen doppelten göttlichen Heilsratschluß, eine Prädestination und eine Reprobation. Anders ausgedrückt, und das ist der erste Satz: Es gibt einen ewigen göttlichen Heilsratschluß, der bestimmte Menschen zur ewigen Seligkeit vorherbestimmt. Und der zweite Satz lautet: Es gibt einen ewigen göttlichen Ratschluß, der bestimmte Menschen zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt.

Diese beiden inhaltsschweren Sätze bedürfen der näheren Erklärung. Denn so, wie sie dastehen, können sie zu einem unbegründeten Optimismus oder zu einem fatalen Pessimismus Anlaß geben.

Der erste Satz lautet: Es gibt einen ewigen göttlichen Willensratschluß, der bestimmte Menschen zur ewigen Seligkeit vorherbestimmt. Das ist eine alte, ja eine von Anfang an bestehende Lehre der Kirche, die von vielen Konzilien vorgetragen und zum Glaubenssatz erhoben worden ist. Sie stützt sich auf die Heilige Schrift. Im Brief an die Römer haben wir wohl die deutlichste Stelle für diese Vorherbestimmung, denn dort heißt es im 8. Kapitel: „Die, die er im voraus erkannt hat, hat er auch vorausbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichgestaltet zu werden, damit er selbst der Erstgeborene unter vielen Brüdern werde. Die er aber vorausbestimmt hat, hat er auch berufen. Die er berufen hat, hat er auch gerechtfertigt; und die er gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht.“

In diesem Text ist nun tatsächlich die Lehre von der Vorherbestimmung zur Seligkeit in wunderbarer Weise aufgezeichnet. Das ewige Vorherwissen und Vorherwollen Gottes („Die er vorhererkannt hat, hat er vorherbestimmt“) und dann die Verwirklichung dieses Ratschlusses in der Zeit sind hier ausgesagt: Er hat sie berufen, er hat sie gerechtfertigt und, in einer Vorausnahme dessen, was sicher eintreten wird, auch verherrlicht.

Der heilige Augustinus, also ein Mann des 4. und 5. Jahrhunderts, nennt diese Vorherbestimmung eine sichere, von Anfang an bestehende Lehre der Kirche, die jetzt gegen die Irrlehrer seiner Zeit – nämlich die Pelagianer und die Semi-Pelagianer – verteidigt wird.

Freilich, meine lieben Christen, birgt diese Lehre schwerwiegende Geheimnisse in sich. Denn man fragt sich unwillkürlich: Wie ist denn der Mensch an dieser Vorherbestimmung beteiligt? Ist er überhaupt daran beteiligt? Und wie verhält sich Gott zu dieser Vorherbestimmung? Bestimmt er den Menschen vorher ohne Rücksicht auf seine Verdienste, auf sein Verhalten oder mit Rücksicht und in Kenntnis seines Verhaltens?

Die Theologen, die großen, die heiligen Theologen haben über dieses Geheimnis viel nachgedacht. Und ihre Antwort ist verschieden. Die eine Gruppe, die Thomisten, unterscheidet sich von der anderen Gruppe, den Molinisten. Die Thomisten versuchen, das Geheimnis ungefähr so zu erklären. Sie sagen: Es gibt eine absolute Vorherbestimmung Gottes. Also ohne Rücksicht auf menschliche Verdienste oder Mißverdienste bestimmt Gott bestimmte Menschen zur Seligkeit. Ein ewiges Dekret Gottes aus seiner Weisheit, aus seiner Liebe hervorgehend, bestimmt manche Menschen von vorneherein zur Glorie. Und dann beschließt er auch, diesen Menschen die (wirksamen) Gnaden zu geben, die zu dieser Glorie, zu dieser Verherrlichung führen.

Die Molinisten erklären das Geheimnis anders. Sie sagen: Es gibt nur eine bedingte Vorherbestimmung, keine unbedingte, d.h. Gott bestimmt nur diejenigen zur ewigen Seligkeit vorher, von denen er weiß, daß sie mit seiner Gnade mitwirken werden. Gott hat eine scientia media, wie die Molinisten sagen. Er weiß, wie sich ein Mensch in jeder Gnadenordnung verhalten wird. Und dann wählt er die Gnadenordnung aus, in der er mit der scientia visionis sieht, daß der Mensch mitwirkt mit der Gnade. Und so entsteht die Erfüllung des göttlichen Willens, weil der Mensch, mit der Gnade arbeitend. Verdienste erwirbt, die Gott mit der Seligkeit belohnt.

Die Ansicht der Molinisten scheint dem natürlichen Menschen näher zu stehen, weil sie berücksichtigt, daß hier die Verdienste des Menschen eine gewichtige Rolle bei der ewigen Erwählung spielen. Aber beide Erklärungsversuche sind von der Kirche zugelassen. Man muß nur festhalten, daß es eine ewige Vorherbestimmung zur Seligkeit gibt. Und dieser göttliche Ratschluß ist unabänderlich. Wie alles in Gott ewig ist, so ist auch dieser Ratschluß ewig. Gott weiß, wer und wie viele Menschen die ewige Seligkeit erreichen.

Die großen Theologen sind in dieser Frage nicht sehr optimistisch. Der heilige Thomas von Aquin, einer der größten Theologen der katholischen Kirche, ist der Meinung, daß mehr Menschen verlorengehen als gerettet werden, daß das Heer der Verworfenen größer sei als die Schar der Seligen. Aber das ist kein Glaubenssatz, es ist eine theologische Meinung, immerhin die Meinung eines Theologen, der von der Kirche vor vielen anderen zum Kirchenlehrer berufen und ausgezeichnet worden ist. Man kann auch – nach der Lehre des Konzils von Trient – nicht mit unfehlbarer Sicherheit wissen, ob man zu der Schar der Auserwählten gehört. Dazu bedarf es einer besonderen Offenbarung.

Als die heilige Jeanne d'Arc, die Jungfrau von Orleans, vor dem Gericht stand, da fragte sie der Richter, ein Bischof, ob sie im Stande der heiligmachenden Gnade sei und damit eben eine Anwartschaft für den Himmel besitze. Da gab dieses kluge, dieses heilige Mädchen die Antwort: „Wenn ich darin bin, bitte ich Gott, mich darin zu erhalten. Wenn ich nicht darin bin, bitte ich Gott, mich in den Stand der Gnade zu versetzen.“

Nicht wahr, das war eine entwaffnende Antwort aus dem Mund dieses Mädchens. Aber auch sie bekennt: Es gibt keine untrügliche Gewißheit, ob jemand im Gnadenstande ist, ob ich im Gnadenstande bin. Es gibt Anzeichen für den Gnadenstand; es gibt eine Wahrscheinlichkeit für den Gnadenstand. Wenn jemand die Tugenden übt, die in den acht Seligkeiten genannt sind, wenn er die Früchte des Heiligen Geistes aufweist, wenn einer mit Reue und mit Liebe dem Heiland sich neigt im Sakrament der Buße und in der heiligen Kommunion, wenn er die Muttergottes verehrt und von Herzen gern hat, das sind zweifellos Zeichen der Erwählung. Aber eine Gewißheit – noch einmal – gibt es nur durch eine (ganz seltene) Offenbarung, eine Einzeloffenbarung Gottes.

Dem lichten Geheimnis der Vorherbestimmung steht das düstere Geheimnis der Verwerfung gegenüber. Es gibt einen ewigen göttlichen Willensratschluß, kraft dessen bestimmte Menschen in Ewigkeit verlorengehen. Das ist ein unergründliches Geheimnis, vor allem, weil man dann fragt: Ja, wie steht es mit der menschlichen Freiheit? Wie vereinbaren sich göttliches Vorherwissen und menschliche Freiheit? Mit dieser Frage haben die gläubigen Seelen aller Zeiten gerungen, und manches Mißverständnis ist in diesem Zusammenhang aufgekommen. Duns Scotus, einer der scharfsinnigsten Theologen des Mittelalters, begegnete einmal einem Bauern auf dem Feld, der säte. Da sagte der Bauer zu ihm: „Wenn ich von Gott für die ewige Seligkeit bestimmt bin, dann komme ich hinein, da kann ich machen, was ich will; und wenn ich nicht bestimmt bin, dann werde ich verlorengehen, da kann ich machen, was ich will.“ Da entgegnete ihm Duns Scotus: „Sah Gott voraus, daß du auf diesem Felde Weizen ernten wirst, da magst du säen oder nicht, du wirst ernten. Und sah er voraus, daß du keinen ernten wirst, dann magst du säen oder nicht, du wirst eben keinen ernten.“ Das machte den Mann doch nachdenklich. Er verstummte und setzte sein Werk weiter fort. Vorauswissen und Vorherbestimmen Gottes sind nicht unabhängig vom menschlichen Tun. Es gibt eine häretische, also eine irrlehrerische Ansicht von der Verwerfung, wie sie von Calvin und Hus vertreten wurde. Nach diesen Männern gibt es eine absolute Vorherbestimmung zur Sünde und eine unbedingte Vorherbestimmung zur Hölle.

Das ist von der Kirche verworfen worden. Die Kirche sagt, wer solche Lehren vertritt, der leugnet die Allgemeinheit des Heilswillens Gottes, der leugnet die Allgemeinheit der Erlösung durch Christus. Gott bestimmt niemanden positiv zur Sünde. Er wirkt bei niemandem mit zur Sünde, er läßt die Sünde nur zu. Und Gott verurteilt niemanden zur Höllenstrafe, wenn er sich nicht selbst die Hölle durch Mißverdienste bereitet hat.

Die Kirche lehrt also eine bedingte Vorherbestimmung zur Höllenstrafe, nämlich unter Voraussicht der Mißverdienste des Menschen. Gott beschließt, nur solche Menschen zu verwerfen, die mit ihrem Willen hartnäckig seinem göttlichen Gebot widerstreiten und deswegen sich selbst für die Hölle herrichten. „Gott ist gut, Gott ist gerecht,“ sagt der heilige Augustinus. Weil er gut ist, kann er jemanden retten ohne Verdienste, aber weil er gerecht ist, kann er niemanden verdammen ohne schlechte Verdienste, ohne Mißverdienste. Das ist die Lehre des heiligen Augustinus.

Daß es eine solche Verwerfung gibt, das wissen wir wieder aus der Heiligen Schrift. Etwa im Römerbrief heißt es: „Wenn nun Gott, um seinen Zorn zu zeigen und seine Macht zu erweisen, die für den Untergang bereiteten Gefäße des Zornes in vieler Langmut erträgt....“ (Röm 9,22). Hier ist also die Rede von den für den Untergang bereiteten Gefäßen des Zornes. Das sind natürlich Menschen, Menschen, die den Zorn Gottes verdient haben. Das ist auch ein Hinweis für die ewige Verwerfung. Und noch viel deutlicher spricht der Herr selbst, wenn er sagt: „Es wird der Richter zu denen auf der Linken sprechen: Hinweg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist!“

Es gibt einen ewigen Willensratschluß Gottes, der diejenigen, die beharrlich Gottes Willen widerstreben, zur ewigen Verwerfung bestimmt. Deswegen, meine lieben Freunde, verstehen wir die ernsten Mahnungen der Heiligen Schrift jetzt besser. „Wer steht, der sehe zu, daß er nicht falle,“ mahnt der Apostel Paulus. Und an einer anderen Stelle, da ergeht die Mahnung: „Wirkt euer Heil in Furcht und Zittern!“ Warum in Furcht und Zittern? Weil man besorgt sein muß um sein Heil, weil man in Sorge leben muß, ob man das Heil erreicht. „Wirkt euer Heil in Furcht und Zittern!“

Und der heilige Augustinus macht diese Lehre klar an dem Beispiel der drei Männer, die am Kreuze auf Golgotha hingen. „Der eine,“ sagt er, „war der Erlöser, der andere wurde gerettet, aber der dritte ging verloren.“ 

Amen.

Schrift
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