Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. Februar 1987

Die ersten Menschen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Manche Schulbücher geben sich die Mühe, aus der Phantasie ihrer Hersteller Bilder zu entwerfen, wie die Menschen ausgesehen haben könnten, die als erste auf dieser Erde waren. Da sieht man dann primitive, mit Fellen bekleidete Wesen durch die Steppe streifen, mit einer Keule in der Hand, sie haben ein vorstehende Kinn und dicke Überaugenwülste, sind stark behaart. Es soll durch diese Bilder die Primitivität und die Anfanghaftigkeit dieser Menschen kundgegeben werden.

Daß die äußeren Lebensverhältnisse der ersten Menschen bescheiden waren, daß sie nicht über eine hochentwickelte Technik verfügten, ist  offensichtlich. Aber das ändert nichts daran, daß der erste Mensch voll und ganz Mensch war, ja, daß er Gaben besaß, welche alle ihm folgenden Geschlechter verloren haben.

Der erste Mensch war einfach, aber ich würde zögern zu sagen, er war primitiv. Denn er besaß den Heiligen Geist und im Gefolge des Heiligen Geistes wunderbare Gaben der Seele und des Leibes. Nicht umsonst lebt in der Erinnerung vieler, der meisten Völker der Gedanke an das paradise lost, an das verlorene Paradies. Der griechische Schriftsteller Hesiod schreibt einmal: „Das erste Menschengeschlecht lebte gleich Göttern in vollkommener Glückseligkeit.“ Die Menschen haben eine Ahnung davon, daß im technischen Bereich gewiß eine Höherentwicklung des Menschen stattgefunden hat, aber daß im Bereich von Geist und Sitte ein Abfall von einer nie mehr erreichten Höhe stattgefunden hat.

Die ersten Menschen besaßen den Heiligen Geist und damit besondere Gaben des Geistes und des Körpers. Sie besaßen erstens besondere Gaben des Geistes. Sie verfügten über einen erleuchteten Verstand. Es ist nicht so, daß erst durch die Zunahme von Gehirnwindungen und durch Vergrößerung des Gehirnvolumens der Mensch sich allmählich empogeschaukelt hätte zur Denkfähigkeit. Vielmehr war der erste Mensch im Vollbesitz des geistigen Denkvermögens, das einem Menschen zu eigen ist, ja, er besaß einen besonders erleuchteten Verstand, d.h. eine höhere Denkfähigkeit, eine Denkfähigkeit höheren Grades, als wir sie besitzen. Die Heilige Schrift deutet das an, wenn sie davon berichtet, daß Adam den Tieren ihren Namen gab, und zwar gab er jedem Tier den Namen, der sein Wesen ausdrückte. Ebenso spricht die Heilige Schrift und noch mehr die Tradition davon, daß der erste Mensch die Unauflöslichkeit der Ehe erkannt hat. Also eine ganz bedeutsame Einrichtung Gottes, das Institut der unauflöslichen Ehe, das war dem ersten Menschen durch sein Erkennen zugänglich. Ähnlich war es mit seinem Willen. Der erste Mensch besaß einen ungeschwächten Willen. Wir wissen nur zu genau, daß unser Wille geschwächt ist. Wir neigen zum Verbotenen. Der erste Mensch hatte dieselbe Mühe, zu sündigen, wie wir sie haben, nicht zu sündigen, denn sein Wille war ungebrochen. Er kannte noch nicht die böse Begierlichkeit. Die Versuchung von außen und die Verlockung von innen hatten noch keinen Anhalt in seiner Seele, wie wir ihn infolge der Erbsünde haben. Der erste Mensch lebte im Heiligen Geiste, in der Gnade. Er war mit der heiligmachenden Gnade eingehüllt, er war Gott wohlgefällig und ein Freund Gottes. Ja, er war wahrlich ein Kind Gottes, und wenn ein Kind, dann auch ein Erbe Gottes, denn ein Kind erbt, was ihm die Eltern, was ihm der Vater vermacht.

So waren also wunderbare geistige Gaben im ersten Menschen, und diese geistigen Gaben teilten sich auch dem Körper mit. Der Körper des ersten Menschen war unsterblich. Der erste Mensch hatte das Nicht-Sterben-Müssen. Ihm war eine besondere Gabe zuteil geworden, daß er unsterblich sein sollte. Es gab einen Baum, so schildert die Bibel es in bildlicher Redeweise, es gab einen Baum des Lebens, und die Früchte dieses Baumes erhielten den Menschen lebendig. Das ist bildlich gesprochen, selbstverständlich. Aber es ist trotzdem tief und unumstößlich wahr. „An dem Tage, an dem du von dem Baume (das ist der Baum der Erkenntnis) issestt, mußt du sterben!“ Also war vorher die Möglichkeit, nicht zu sterben. Und da es keinen Tod gab, deswegen fehlten auch die Vorboten des Todes, die Krankheiten. Der Leib des ersten Menschen war nicht von Krankheiten heimgesucht und zerrüttet. Er lebte im Paradies.

Das Paradies, meine lieben Freunde, war kein Schlaraffenland. Im Paradies fand der Mensch alles, was er zur Nahrung, Wohnung und Kleidung benötigte. Aber er hatte auch Aufgaben, denn er sollte das Paradies bewachen und bearbeiten. Also die Arbeit war schon im Paradies angelegt, aber sie war eine Lust, sie war eine Freude. Es fehlte ihr die Mühe und die Erfolglosigkeit, es fehlte ihr die Qual und die Plage, die heute der Arbeit, jedenfalls in gewissem Umfang, anzuhaften pflegt. Die Natur war im Einklang mit sich selbst. Wir dürfen annehmen – mit gelehrten und frommen Theologen –, daß im Paradies nicht der Frost in die Blüten gefallen ist und eine ganze Ernte vernichtet hat. Wir dürfen vermuten, daß die Tiere zwar in selbstverständlichem Verbrauchen voneinander lebten, daß aber all diesen Vorgängen das Schmerzliche und Gewaltsame fehlte. Die Schrift scheint das anzudeuten, wenn sie von der Zahmheit der Tiere im Paradiese spricht. Der heilige Thomas lehnt es ab, zu sagen, der Löwe sei vorher kein Raubtier gewesen – vor dem Sündenfall. Nein, sagt er, der Löwe war auch vorher ein Raubtier, aber dem Menschen haftete eine majestätische Erhabenheit an, und wegen dieser majestätischen Erhabenheit herrschte der Mensch über die Tiere in fragloser Weise. Sie erschienen vor ihm, und er gab ihnen die Namen, die sie verdienten.

Nach dem Orte des Paradieses zu fragen, ist müßig. Wir wissen es nicht. Es hat Theologen gegeben, die das Paradies in das Zweistromland – also den heutigen Irak – verlegten. Dieses Land muß ja tatsächlich einmal ein Garten Eden gewesen sein, bevor der Mensch es durch seine Kriege und durch seine Tätigkeiten zerstört und heruntergewirtschaftet hat, aber ob das Paradies im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris lag – wir wissen es nicht. In jedem Fall müssen – da Adam und Eva historische Figuren sind – ihnen bestimmte Räume zur Verfügung gestanden haben. Und in diesem Paradiese herrschten sie in königlicher Weise.

Der erste Mensch besaß weiter besondere Gaben. Wir nennen sie übernatürliche Gaben, übernatürlich deswegen, weil sie zu seiner Natur hinzukamen. Der Mensch war Mensch und blieb Mensch auch ohne die eben erwähnten Gaben des Geistes und des Körpers, aber er wurde erhoben, verschönt und veredelt, in einer besonderen Weise Gott verähnlicht durch die übernatürlichen Gaben. Zu der natürlichen Gottebenbildlichkeit trat die übernatürliche Gottebenbildlichkeit. Es ist so, wie wenn ein Mensch auf einer Karte, auf einem Papier eine Zeichnung anfertigt, zunächst mit Kohlestift, dann aber mit bunten Farben. Die Gemälde, die mit bunten Farben gemacht sind, vermögen viel deutlichere Aussagen zu treffen als andere, die nur mit Kohlestift gezeichnet sind. Ähnlich, aber natürlich noch viel mehr unähnlich mag es gewesen sein mit den übernatürlichen Gaben, die Gott dem ersten Menschen geschenkt hat.

Wie es dazu kam, meine lieben Freunde, daß er dieses wunderbare Pfand verlor, das wollen wir am nächsten Sonntag überlegen.

Amen.

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