Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

"Wir waren voller Bereitschaft, den Menschen um Gottes willen zu dienen"

Ein Gespräch mit Prälat Prof. Dr. Georg May
Kirchliche Umschau, Ausgabe März 2021

Prälat Prof. Dr. Georg May feiert am 1. April sein 70. Priesterjubiläum. Er gehört zu den großen Priestergestalten unserer Tage. Seine Treue zur Lehre und Liturgie der Kirche sind für viele verunsicherte Katholiken unserer Tage ein Segen geworden.

Georg May wurde 1926 im niederschlesischen Liegnitz geboren. 1945, noch vor der Vertreibung, wurde er unter die Seminaristen des alten Erzbistums Breslau aufgenommen. Er setzte seine Studien in Fulda und München fort. Hier kniete er jeden Tag mit Joseph Ratzinger in der gleichen Bank der Kapelle des Priesterseminars Georgianum. Dann wechselte May ins Priesterseminar Neuzelle (Oder), wo er 1951 die hl. Priesterweihe empfing. Nach Seelsorge in der „DDR“-Diaspora, Promotion und Habilitation wurde er, Schüler des Kanonisten Klaus Mörsdorf, im Jahr 1958 Professor für Kirchenrecht an der Freisinger Hochschule, wo Joseph Ratzinger sein geschätzter Kollege war. 1960 wurde er an die Universität Mainz auf den Lehrstuhl für kanonisches Recht, Staatskirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte berufen. 1994 wurde er emeritiert. Der Gelehrte hat in den letzten sechzig Jahren eine umfassende Publikationsliste vorgelegt, die weit über kirchenrechtliche Themen hinausgeht. Nach dem II. Vatikanischen Konzil wurde er zu einem Exponenten des traditionstreuen Katholizismus, dem er eine Stimme gab, die gehört wurde. Für seine Verdienste um die Kirche wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Apostolischen Protonotar ernannt.

Kirchliche Umschau: Hochwürdigster Herr Prälat, am 1. April 2021 dürfen Sie durch Gottes Gnade Ihr 70. Priesterjubiläum feiern. Sie wurden am 14. September 1926 in Liegnitz geboren. Sie sind ein Sohn schlesischer Erde, ein Kind guter katholischer Eltern. Ein Priesterjubiläum ist immer zuerst ein Blick zurück. Wie hat Gott Ihren Weg zum Priestertum bereitet?

Prälat Prof. Dr. Georg May: Dankbar gedenke ich an erster Stelle der Priester, die ich in Liegnitz, Reichenbach (seit 1933) und anderswo erlebt habe. Mir sind auf dem Weg zum Priestertum ausnahmslos nur Priester begegnet, die von ihrem Beruf erfüllt waren, fraglos hinter dem Glauben der Kirche standen und ihre Standespflichten gewissenhaft wahrnahmen. Einen homosexuellen Priester habe ich in meinem Leben nicht angetroffen. Schon früh hatte ich Freude an guten Predigten. Vor allem die Fastenpredigten mit dem Thema des Herrenleidens zogen mich an. Der Besuch von Wallfahrtstätten wie Albendorf und Wartha war jedesmal ein religiöses Erlebnis. Ich hatte die Gnade, in einer Familie aufzuwachsen, welcher der katholische Glaube eine gelebte und nie in Frage gestellte Selbstverständlichkeit war. Beteiligung am kirchlichen Leben, Empfang der Sakramente, Hochschätzung der Priester, Bindung an die Lehre wurden als unerläßlich angesehen. Eine starke Stütze hatte ich an den Großeltern, vor allem der Großmutter mütterlicherseits. Sie waren überzeugte und fromme katholische Christen mit opferbereiter Liebe zur Kirche. Außerhalb der Familie war meine Umgebung im überwiegend protestantischen Niederschlesien der Stärkung im Glauben und der Förderung der Religiosität nicht dienlich. Ich war gezwungen, meinen Weg im Christentum selbständig zu suchen und zu gehen. Der Gegnerschaft gegen Christentum und Kirche verdanke ich das tiefere Eindringen in den Glauben und die vermehrte religiöse Praxis. Der Einsatz als Luftwaffenhelfer blieb mir wegen eines Herzschadens erspart. Die Zeit in der Rüstungsfabrik, im Kinderlandverschickungslager und bei der Wehrmacht haben meiner religiösen Entwicklung nicht geschadet, sie vielmehr mittelbar gefördert. Ich lernte Furchtlosigkeit vor Menschenmeinungen. Die Angriffe gegen Glauben und Kirche in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes wurden von mir nicht nur registriert, sondern veranlaßten mich, den Glauben intensiver zu durchdenken und durch Lektüre einschlägiger Schriften zu vertiefen. Während meines Studiums beschäftigte ich mich eingehend mit den protestantischen Theologien. Dabei erkannte ich das Lehrchaos im Protestantismus und das Abtriften vieler Theologen in den Unglauben. Der Protestantismus hatte keine Anziehungskraft für mich.

Kirchliche Umschau: Ihr Weg als Geistlicher begann im Sommer 1945. Noch vor den Schrecken der Vertreibung wurden Sie vom Breslauer Kapitelsvikar Ferdinand Piontek, der nach dem Tod von Kardinal Bertram die Diözese verwaltete, unter die Seminaristen des Bistums aufgenommen. Ihr Weg zum Priestertum in den Jahren nach Krieg und Vertreibung war kein einfacher.

Prälat May: Mein Studium der Philosophie und der Theologie begann im Herbst 1945 in Breslau. Unter notdürftigen Verhältnissen wurde in der weitgehend zerstörten Stadt ein Kurs für uns Anfänger eingerichtet. Wir Alumnen waren im Ursulinenkloster am Ritterplatz untergebracht. Von da an bis zur Priesterweihe habe ich nie in einem Einzelzimmer leben dürfen, sondern immer in einem Raum mit anderen zusammen, was ich nachträglich als vorzügliche Schule der Disziplin und der Selbstbeherrschung erkannt habe. Die Aussichten für den Beruf, den wir anstrebten, waren düster. Hatten wir anfänglich gehofft, den Wiederaufbau der Heimat in Angriff nehmen zu dürfen, wurde uns nach Bekanntwerden der Potsdamer Beschlüsse klar, daß unseres Bleibens nicht sein werde. Es stand uns die Ausweisung aus Schlesien bevor. Wir ahnten, wie schwer der Neubeginn im restlichen Deutschland, in der Fremde und aller familiären Unterstützung beraubt, sein werde. Am 10. April 1946 wurden wir, je dreißig Personen in einem Güterwagen, in Marsch gesetzt mit unbekanntem Ziel und nach einigen Tagen in Werl/Westfalen ausgeladen. Mein Versuch, in der Diözese Paderborn weiterstudieren zu dürfen, scheiterte; in Bad Driburg, wo das Priesterseminar sich befand, wurde ich abgewiesen. In Fulda fand ich Aufnahme. Der Leiter des Priesterseminars gab sich mit dem Reifevermerk, den alle Schüler der letzten Klasse der Oberschule erhalten hatten, die zur Wehrmacht eingezogen wurden, nicht zufrieden und bestand auf der Ablegung einer regelrechten Abiturprüfung. Ich legte sie im September 1946 ab. Das Gebäude des Fuldaer Priesterseminars war beschädigt und konnte die Zahl der Alumnen nicht fassen. So wurde ein Teil im Kloster der Franziskaner auf dem Frauenberg untergebracht. Wir waren zu viert in einem kleinen unbeheizten Raum. Immerhin hatten wir ein Dach über dem Kopf und konnten in religiöser Atmosphäre ein konzentriertes Studium betreiben. Die Ordensmänner ertrugen die nicht unerhebliche Störung ihres klösterlichen Lebens in franziskanischer Geduld. Wir Alumnen partizipierten an ihrer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Das Studium in Fulda beendete ich im Wintersemester 1947/48 mit der Prüfung Philosophicum. Danach siedelte ich nach München in das Priesterseminar Georgianum über zum Studieren an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität München, die damals als die hervorragendste im deutschen Sprachraum galt. Wir waren Alumnen aus 13 deutschen Diözesen, ich war der einzige aus dem Erzbistum Breslau. Das Seminar und die Fakultät waren provisorisch in Nebengebäuden des Schlosses Fürstenried untergebracht. In dem riesigen Schlafsaal standen Doppelstockbetten. Der Raum war nicht geheizt. Es erschien mir als ein großes Glück, in München studieren zu dürfen. Die Stadt war noch teilweise zerstört. Eine Gruppe aus dem Priesterseminar beteiligte sich an den Samstagen an den Aufräumungsarbeiten im Bereich des Gebäudes des alten Georgianums, in das die Seminaristen erst im Wintersemester 1949/50 zurückkehren konnten. Die Kosten für den Unterhalt im Priesterseminar und das Studium an der Universität mußte jeder Student aus seinen Mitteln aufbringen. Das war in der Reichsmarkzeit zu bewältigen. Schwierig wurde die Lage nach der Währungsreform. Ich war, abgesehen von dem Handgeld, das ein jeder erhielt, völlig mittellos. Die Eltern in der Ostzone konnten mir nicht helfen. So verdingte ich mich als Bauhilfsarbeiter bei der Firma Hanfstaengl und Pongratz. Der Stundenlohn betrug 1,08 DM. Unterkunft fand ich in der Baubude. Die Arbeit mit Hacke, Schaufel und Schubkarre war schwer, ging eigentlich über meine Kraft. Doch fand ich finanzielle Hilfe bei meiner Tante, die Lehrerin in Nordrhein- Westfalen war, und bei meinem Lehrer aus Breslauer Tagen Franz Xaver Seppelt. So konnte ich das Studium fortsetzen. Nach dem Winterseminar 1949/50 erhielt ich die Aufforderung des Kapitelsvikars Ferdinand Piontek, mich im April 1950 im Priesterseminar Neuzelle einzufinden. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, in den Dienst der deutschen Diaspora einzutreten, obwohl mir vier Professoren eine Promotion angeboten hatten. So siedelte ich mit meiner Habe, die in einigen Kartons untergebracht war, in die DDR über. In Neuzelle/Oder hatte der Diözesanbezirk Görlitz-Cottbus ein Priesterseminar eingerichtet. Dort absolvierte ich das sogenannte Pastoraljahr vor der Priesterweihe. Diese erfolgte am 1. April 1950.

Kirchliche Umschau: Sie haben einigen Ihrer theologischen Lehrer in einer Monographie ein Denkmal gesetzt: „Drei Priestererzieher aus Schlesien. Paul Ramatschi, Erich Puzik, Erich Kleineidam“ (Siegburg 2007). Wie würden Sie Ihre Ausbildung und Formung charakterisieren?

Prälat May: Die Ausbildung zum Priester, die ich empfangen habe, war intellektuell, aszetisch und spirituell. Die philosophische und theologische Bildung lag in den Händen anerkannter Gelehrter. Alle akademischen Lehrer, die ich kennenlernte, waren ihrem Amt gewachsen und standen fraglos hinter der Lehre der Kirche; die meisten berücksichtigten in ihren Lehrveranstaltungen das Berufsziel der Priesterkandidaten. Die Professoren in Breslau und München verkörperten echtes deutsches Gelehrtentum. Sie verlangten tiefes Eindringen in den Stoff und Studium der Quellen in den Ursprachen Hebräisch, Griechisch und Lateinisch. Diesem Zweck dienten vor allem die Seminare und die Übungen. Das Studium in dem tridentinischen Seminar zu Fulda war von der Struktur her konzentrierter und weniger von Ablenkungen bedroht als jenes an der theologischen Fakultät München. Die aszetische und spirituelle Formung lag in den Händen der Regenten der Priesterseminare, der Spirituale und der Exerzitienleiter. Wer sie sich aneignete und danach lebte, konnte gewiß sein, daß er sein priesterliches Leben und Wirken zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen würde verbringen können. Die Hausordnung im Seminar war straff und wurde streng eingefordert. Die vorkonziliare Ausbildung der Priester war in jeder Hinsicht für das Ziel, das die Kandidaten anstrebten, geeignet.

Kirchliche Umschau: Wie haben Sie vor 70 Jahren Ihre heilige Priesterweihe erlebt?

Prälat May: Die Priesterweihe am 1. April 1951 in Neuzelle/Oder war der Höhe- und Zielpunkt der vorhergegangenen Jahre der Ausbildung. Wir waren allesamt aus der Bundesrepublik in die DDR übergesiedelt, zwar gerufen, aber doch freiwillig. Wer nicht wollte, wurde nicht gezwungen. Jetzt schlug die Stunde der Bewährung. Wir Weihekandidaten wußten, was uns nach Empfang der Weihe erwartete: der Dienst in der ausgedehnten Diaspora der Deutschen Demokratischen Republik. Wir wußten, daß wir in eine Umgebung kommen, die weitgehend religionslos war und es immer mehr wurde; denn die Partei SED und der Staat betrieben mit allen Kräften die Auslöschung der Religion. Wir wußten, daß wir ein bedürfnisloses Leben würden führen müssen. Unser Einkommen war spärlich; ich erhielt als Kaplan monatlich 149 Mark und 66 Pfennige, wovon 100 Mark dem Pfarrer für Unterkunft und Verpflegung verblieben. Wir wußten, daß wir unseren Dienst überwiegend auf dem Fahrrad würden verrichten müssen, das später durch das Motorrad ersetzt wurde, denn die Gläubigen waren in fast jeder Pfarrei auf zahlreiche Ortschaften zerstreut. Uns war auch klar, daß wir angesichts der Umstände, die uns erwarteten, mit dem Verschleiß unserer Kräfte und unserer Gesundheit würden rechnen müssen. Aber keiner von uns war verzagt. Wir waren überzeugt, für eine gute, nein, für die beste Sache den Einsatz zu wagen. Der Glaube der Kirche stand unumstößlich fest, der Gehorsam gegenüber den hierarchischen Oberen war selbstverständlich. Wir hatten die Gewißheit, von einem Papst mit überragender Kraft des Geistes und von furchtlosen Bischöfen geleitet zu werden. Die Gläubigen warteten voller Sehnsucht auf die Priester, zu denen sie voll Vertrauen und Willigkeit aufschauten. Sie waren in zwei Gruppen eingeteilt. Einmal fanden wir die bewährten Katholiken der Diaspora vor, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert unter unsäglichen Mühen, Verdächtigungen und Zurücksetzungen der Kirche die Treue gehalten hatten. Sie kannten die Verhältnisse und wußten, wie man sich in einer fremden bis feindseligen Umgebung verhalten mußte. Sie waren zahlenmäßig schwach, aber für den neu zu ihnen stoßenden Seelsorger unentbehrlich. Dazu traten seit der Vertreibung der Menschen aus dem deutschen Osten die Massen der Heimatvertriebenen. Sie hatten allen Besitz verloren und fristeten unter bescheidensten Bedingungen ihr Leben. Aber eines war ihnen geblieben: ihr katholischer Glaube. Ihr religiöser Eifer war vorbildlich. Der Zustrom zum Gottesdienst und zum Beichtstuhl war überwältigend. Um ihren religiösen Bedürfnissen gerecht zu werden, feierten manche Priester am Sonntag bis zu sechs Messen. Unter den heimatvertriebenen Gläubigen ragten die Ostpreußen, zumeist Ermländer, und die Schlesier hervor. Wir waren insgesamt guten Mutes und voller Bereitschaft, den Menschen um Gottes willen zu dienen.

Kirchliche Umschau: Ihr Leben haben Sie der Kanonistik, der kirchlichen Rechtswissenschaft, geweiht. Sie lehrten ab 1957 Kirchenrecht in Freising – dort war Ihr Kollege im Lehrkörper Josef Ratzinger. Im Jahr 1960 erhielten Sie den Ruf nach Mainz und lehrten dort bis zu Ihrer Emeritierung kanonisches Recht, Staatskirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte. Ist das Kirchenrecht nicht eine große Meditation über das Mysterium der Kirche? Welche Bedeutung hat das Kirchenrecht in einer Zeit, wo alles veränderbar scheint?

Prälat May: Meine Vorliebe in der Theologie galt der Exegese des Neuen Testamentes. Für sie gab mir Rudolf Schnackenburg das Thema einer anzufertigenden Dissertation: „Die Kirche bei den Synoptikern“. Daß ich dem Studium und der Lehre des Kirchenrechts zugewiesen wurde, war nicht meinem Entschluß, sondern der Aufforderung bzw. dem Wunsch meines kirchlichen Vorgesetzten, des Kapitelsvikars Ferdinand Piontek, und meines akademischen Lehrers Klaus Mörsdorf zuzuschreiben. Ich habe mich ihnen im Gehorsam gefügt. Das Kirchenrecht ist die Gesamtheit der von Gott und der Kirche erlassenen Normen für die Regelung des Lebens der Christengemeinschaft. Sein Zweck ist es, auf seine Weise und mit seinen Mitteln die Menschen zum ewigen Heil zu führen. Ein erheblicher Teil des Kirchenrechtes formuliert göttliches Recht. Das von der Kirche gesetzte, also menschliche Recht gilt auch vor Gott und im Gewissen. Der einzelne kann sich nicht unter Berufung auf sein Gewissen über das kirchliche Gesetz stellen. Die Kirchenrechtswissenschaft ist eine theologische Disziplin, die mit juristischer Methode arbeitet. Sie hat das geltende Recht systematisch darzustellen und seine Anwendung im kirchlichen Leben aufzuweisen. Das Kirchenrecht ist eine unbedingte Notwendigkeit für die katholische Kirche. Ihr Dienst, also vor allem die Vermittlung der Glaubenslehre und der Gnadenschätze, ist ohne feste äußere Organisation, ohne Leitungsgewalt und ohne hierarchische Gliederung nicht durchführbar. Man hat das Kirchenrecht mit dem Knochengerüst des menschlichen Körpers verglichen, und der Vergleich ist nicht ganz falsch. Das Kirchenrecht ist zu seinem Teil dafür verantwortlich, daß das Heil, das Christus durch seine Kirche den Menschen vermitteln will, tatsächlich die heilsbedürftigen Menschen erreicht. Das Kirchenrecht hat seit seinen Anfängen erzieherisch und versittlichend auf die Menschen eingewirkt. Das Kirchenrecht zählt bei den Studierenden in der Regel nicht zu den beliebten Fächern. Um so dringender ist es, die – nicht selten einschneidenden – Vorschriften so darzubieten, daß die Einsicht in ihre Berechtigung geweckt wird. Es war mein Bestreben als akademischer Lehrer, den Studierenden Sinn und Notwendigkeit guter Ordnung im religiösen und kirchlichen Tun zu erschließen. Das Fach bot mir die Gelegenheit, die wissenschaftliche Darstellung mit pädagogischen, aszetischen und spirituellen Hinweisen zu verbinden. Von dem englischen Kardinal Heenan stammt das bedenkenswerte Wort: „Die Erfolge der katholischen Kirche sind, menschlich gesprochen, ihrer Disziplin zu verdanken.“ Disziplin ist die Gewährleistung der Ordnung in der Kirche, insbesondere das Funktionieren von Gesetz bzw. Befehl und Gehorsam. Es ist offenkundig, daß diese Disziplin seit geraumer Zeit zusammengebrochen ist. Mißachtung und Auflehnung gegen kirchliche Normen sind bei Bischöfen, Theologen, Priestern und Laien beinahe alltäglich geworden. Der Dienst der Kirche wird dadurch in weitem Umfang vereitelt; ihr Erscheinungsbild macht sie zum Spott der Medien.

Kirchliche Umschau: Sie haben sich nicht nur mit Spezialstudien an die wissenschaftliche Öffentlichkeit gewandt, sondern auch mit kirchengeschichtlichen Monographien an ein breiteres Publikum. Denken wir hier an Ihr Buch „Kirchenkampf oder Katholikenverfolgung?“ über das Dritte Reich oder an Ihr gewichtiges Werk über die deutschsprachigen Bischöfe im 16. Jahrhundert. Was kann man aus der Kirchengeschichte für die aktuelle Situation lernen?

Prälat May: Die beiden von Ihnen erwähnten Bücher verdanken ihre Entstehung meiner Beobachtung der Gegenwart. Erstens: Ich habe die zwölf dunklen Jahre aufmerksam und bewußt, belehrt und geführt von meinen Eltern und Großeltern, nicht ohne – bescheidene – eigene Handlungen des Widerstandes zu setzen, erlebt. Es war nun die Erscheinung zu beobachten, die sehr unterschiedliche Haltung der katholischen und der protestantischen Bevölkerung gegenüber dem Naziregime einzuebnen. Damit verfehlte man sich schwerwiegend gegen die historische Wahrheit, wie ich sie, auch in meinem Umfeld, erlebt hatte. Es war eine offensichtliche Tatsache, daß die deutschen Katholiken in weit größerem Umfang dem Naziregime widerstanden hatten als die deutschen Protestanten und daß dementsprechend die Zahl der katholischen Opfer beträchtlich höher war als die der protestantischen. Das sollte in dem bewußten Band dokumentiert werden. Meine Darstellung gewinnt in der jüngsten Zeit die weitere Bedeutung, daß sie den Versuch der gegenwärtigen Bischöfe, ihre Vorgänger im Dritten Reich des Versagens oder der Mitschuld zu bezichtigen, eindeutig zurückweist. Zweitens: Im Zeichen des Ökumenismus überboten sich deutsche Theologen und Bischöfe in Verharmlosung der lutherischen Revolution und der Verheimlichung der fundamentalen Kluft zwischen katholischem Glauben und protestantischer Lehre. In dem erwähnten Buch wurde versucht zu zeigen, wie viele Bischöfe gegenüber der sich erhebenden Häresie blind, feige oder nachlässig waren und wie wenige sich dem Wittenberger Strom entgegenstemmten. Die Absicht war, den heutigen Bischöfen die Augen zu öffnen, was ihres Amtes ist, und ihnen zu zeigen, wohin man kommt, wenn man den Frieden mehr liebt als das Kreuz. Es war meine Hoffnung, die Bischöfe unserer Zeit vor so viel Versagen zu bewahren, wie es im 16. Jahrhundert der Fall war. Tatsächlich sind heute nur wenige Bischöfe in Deutschland übrig, auf die theologisch und kirchlich Verlaß ist. Ich bin mir der Schwächen und Lücken der beiden genannten Werke bewußt. Aber es ist ebenso wichtig anzuerkennen, daß sie einzigartig und durch keine bessere Darstellung der genannten Materien ersetzt sind.

Kirchliche Umschau: 2017 erschien ein Buch von Ihnen, das schon im Titel ein grundsätzliches Kriterium in der Betrachtung der Kirchengeschichte der Neuzeit einführt: „300 Jahre gläubige und ungläubige Theologie: Abriss und Aufbau.“ Sie konstatieren also für die aktuelle Krise der Kirche eine lange Inkubationszeit?

Prälat May: Für den gegenwärtigen Zustand der Kirche mache ich – abgesehen von äußeren Ursachen – zwei Gruppen in der Kirche verantwortlich: die Theologen und die Bischöfe. Die Theologen formen zu ihrem Teil die Lehre der Kirche. Von ihnen gehen die zahllosen Abweichungen, Umdeutungen, Auslassungen und Entstellungen aus, die in der Gegenwart seit Jahrzehnten zu beobachten sind. Die angehenden Priester sind ihnen in gewisser Hinsicht ausgeliefert. So strömen die irrigen Ansichten über sie in die Gemeinden. Die Bischöfe sind ausnahmslos durch die Schule dieser Theologen gegangen. Sie haben deren Defekte erlebt und leider teilweise aufgenommen. Sie sind auf sie angewiesen und wollen es mit ihnen nicht verderben. So tragen sie die Ausfallserscheinungen weiter. Der Titel des Buches, von dem Sie sprechen, deutet an, daß die Zersetzung der katholischen Theologie, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu beobachten ist, ihre wesentliche Grundlage in Aufstellungen hat, die aus der Zeit der Aufklärung stammen und die von protestantischen Theologen durch die Jahrhunderte geschleppt wurden. Die irrigen Ansichten wurden auch früher von manchen katholischen Theologen übernommen. Es gab immer in der katholischen Theologie vereinzelt Schleppenträger des Protestantismus. Zu einer gefährlichen Woge wuchs das Einströmen protestantischer Ansichten in der mit Modernismus bezeichneten Theologie an. Dem energischen Eingreifen des Papstes Pius X. ist es zu verdanken, daß es nicht zu einer Überschwemmung kam. Aber die modernistische Versuchung begleitete die katholische Theologie auch weiterhin. Das Zweite Vatikanische Konzil hat vor der Aufgabe versagt, ihr seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. So kam es, daß der Modernismus seit dem Konzil in der Kirche weithin vorgetragen wird und unbeanstandet bleibt. Der Blick in die Geschichte der Theologie, den ich in dem erwähnten Buch vorgenommen habe, sollte über Herkunft, Gefahr und Abwehr dieser glaubenszerstörenden Bewegung unterrichten. Den Beweis für seine Berechtigung, ja Notwendigkeit sehe ich darin, daß es von den theologischen Zeitschriften totgeschwiegen wird. Man will nicht einsehen und zugeben, zu welcher Verkehrung es in der Theologie der katholischen Kirche gekommen ist.

Kirchliche Umschau: Immer wieder haben Sie in der Nachkonzilszeit den Finger in die Wunden gelegt. Ich denke an Ihre Bücher: „Das Priestertum in der nachkonziliaren Kirche“, „Echte und unechte Reform“, „Schuldbekenntnisse und Vergebungsbitten“ oder die „Ökumenismusfalle“. Sie haben Begriffe geprägt wie „die Krise der Kirche ist eine Krise der Bischöfe“, „die Beichte, das verlorene Sakrament“ oder „die zweite Hierarchie“ über das Rätesystem. Immer wieder kommen Sie darauf zurück: Reform ohne Glaube ist unmöglich. Kann man das so formulieren?

Prälat May: Die Versuchung, die Glaubens- und Sittenlehre der Kirche nach dem Geschmack von selbsternannten „Reformern“ zu gestalten, ist allgegenwärtig. Es kommt auf die Wachsamkeit, den Mut und die Entschiedenheit der Hirten der Kirche an, ob sie mit ihren Ansichten durchdringen. Diese Eigenschaften gehen den meisten deutschen Bischöfen ab. Schwache Männer wollen beliebt sein. Man wird beliebt, wenn man den Wünschen und dem Drängen der Massen nachgibt. Die Massen aber werden gelenkt von den Medien, die fast durchweg der katholischen Kirche und ihrer Lehre feindselig gegenüberstehen. So erklären sich die mannigfachen Entgleisungen deutscher Bischöfe bei der Ausübung – oder Nichtausübung – ihres Amtes. Die Krise oder der Absturz, in den die Kirche geraten ist, hat den Grund nicht in ungenügender Angepaßtheit an die „moderne“ Zeit. Der unaufhörliche Niedergang ist, wenn man von den äußeren Faktoren absieht, zutiefst der Verlust des Glaubens bei der Masse derer, die im katholischen Glauben getauft sind. Der Glaubensschwund setzte ein bei Theologen, pflanzte sich von ihnen auf die Priester und die Bischöfe fort und sank durch die Religionslehrer in die Jugend ab. So entstand der trostlose Zustand der Glaubenslage in der Gegenwart. Überzeugte katholische Christen bilden eine verschwindende Minderheit in der katholischen Kirche Deutschlands. Wenn es zu einer Wende kommen soll, ist der Wiederaufbau des Glaubens in Klerus und Volk die erste und oberste Aufgabe. Nur wer von der Wahrheit und ihrer Sieghaftigkeit überzeugt ist, kann nützlich für Gottes Sache eintreten. Allein das Durchdrungensein von der Wahrheit befähigt zu den Anstrengungen, Überwindungen und Anfeindungen, die auf die Vorkämpfer für die katholische Kirche warten. Ich habe nicht den Eindruck, daß der Heilige Vater Papst Franziskus diese Sicht teilt. In jedem Falle gehen vom Heiligen Stuhl keine Impulse aus, die Priorität des Glaubens und des Glaubensbewußtseins in der Regierung der Kirche durchzusetzen.

Kirchliche Umschau: Sie wurden unter Pius XI. geboren und erleben heute Papst Franziskus. Sie wurden unter Pius XII. geweiht und sehen heute den „Synodalen Weg“. Sie haben Krieg, Vertreibung, Konzil, Studentenproteste, die Würzburger Synode und den theologischen Dissens der 70er Jahre erlebt, der heute fröhliche Urstände feiert. Was sagen Sie dem ratlosen Katholiken, der an seiner Kirche verzweifelt?

Prälat May: Nach meiner fehlbaren Einsicht ist das Ende der katholischen Kirche in Deutschland in Sicht. Die Kirche wird nicht untergehen, aber sie wird auf einen heiligen Rest schrumpfen. Ich glaube nicht, daß es Menschen gelingen kann, die Kirche wieder zum Zeichen Gottes in der Welt zu machen. Nur ein Eingriff Gottes ist imstande, die erforderliche Wende herbeizuführen. Was bleibt uns machtlosen Gliedern der Kirche übrig?

  1. Den ratlosen, verzagten und verzweifelten Gläubigen ist mit dem Apokalyptiker Johannes zuzurufen: „Halte, was du hast!“ (Apk 3,11).
  2. Aus dem 16. Jahrhundert ist für die Gegenwart vor allem zu lernen: Nichts aufgeben von den Lehren und Übungen der Kirche, die sie jahrhundertelang getragen haben! Keine Konzessionen an den zeitgeistigen Progressismus! Auch nicht bei Gegenständen, die an sich verhandelbar sind. Unerbittlich festhalten, was als notwendig oder nützlich erprobt ist! Diese Einstellung war das Prinzip des großen Verteidigers der Kirche im 16. Jahrhundert, des Kardinals Hosius. Damit hat er das Ermland in Preußen beim Glauben erhalten. Wer anfängt, Konzessionen zu machen, gerät auf eine schiefe Ebene und gelangt immer weiter abwärts. Diese Beobachtung läßt sich bei allen (Pseudo-)Reformern feststellen. Der junge Luther hielt an vielen Gegenständen des Glaubens und der religiösen Praxis fest, die er später aufgab. Seine Nachfahren ließen weiterhin zahlreiche Lehren fallen, die ihr Religionsstifter bejaht hatte.
  3. Den Verantwortlichen für den desolaten Zustand in der Kirche keine Ruhe lassen. Unermüdlich jeden Mißstand in einem Brief oder in einer E-Mail rügen und auf Abstellung dringen. Die Hirten an ihre Verantwortung erinnern. Sie auf das Gericht Gottes hinweisen.
  4. Die Förderung durch Zuwendungen denen zukommen lassen, von denen man die Sicherheit oder wenigstens die Vermutung hat, daß sie noch katholisch sind.
  5. Die Publikationen, die korrekt lehren und unterrichten, abonnieren, stützen und verbreiten.
  6. Sich den Vereinigungen anschließen, die für den unversehrten Katholizismus eintreten.

Kirchliche Umschau: Was würden Sie jungen Menschen raten, die sich ganz in den Dienst Gottes stellen möchten?

Prälat May: Daß Gott auch heute Menschen braucht, die sich ganz in seinen Dienst stellen wollen, ist keine Frage. Sein Werk wird auf Erden eben von selbstvergessenen Menschen betrieben. Aber eines ist sicher: Mit einem lückenhaften, unsicheren Glauben kann man nicht in den Dienst des unsichtbaren Gottes treten. Wer Priester werden will, muß sich mit aller Kraft um seinen Glauben bemühen, der sich Gottes gewiß ist. Man gewinnt ihn durch Gottes Gnade. Gott allein kann dem Menschen die Überzeugung schenken, daß er ist und denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird (Hebr 11,6). Die Gnade will erbeten, erfleht werden, beharrlich und vertrauensvoll: Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben (Mk 9,23). Die Gnade wird dem nicht fehlen, der unermüdlich um Gottes Beistand und Erleuchtung ruft. Dann muß man die Möglichkeiten nutzen, die verblieben sind, um den Glauben der Kirche in seiner Reinheit kennenzulernen. Auch heute gibt es noch Lehrer der Theologie, die eine einwandfreie Lehre vortragen. Ebenso existieren Schriften, aus denen der Glaube der Kirche ohne Defizite entnommen werden kann. Schwierig wird es, wenn man fragt, an welchen theologischen Ausbildungsstätten man den katholischen Glauben und die katholische Sittenlehre noch finden kann. Die meisten Fakultäten und Hochschulen genügen nicht den Anforderungen, die an Einrichtungen gestellt werden müssen, die gläubige, opferwillige und seeleneifrige Priester heranbilden wollen. Allenfalls befinden sich an ihnen einzelne theologische Lehrer, an die sich gläubige und gläubig bleiben wollende Kandidaten halten können.

Kirchliche Umschau: Vielen Dank für das Gespräch. Wir bitten um Ihren Segen für unsere Leser. Ad multos annos! Auf viele Jahre!

 

Das KU-Interview mit Prälat Prof. Dr. Georg May führte Jens Mersch


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