Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
11. Juni 1995

Zur Lage der Ortskirchen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Mainzer Diözesanbischof hat eine Beratungsphase in den Gemeinden in Gang gesetzt mit der Überschrift „Damit Gemeinde lebt – Leitlinien und Anfragen zur künftigen pastoralen Planung im Bistum Mainz“. Es sollen Überlegungen angestellt werden, wie es mit den Kräften und mit den Personen in den Pfarreien weitergeht. Es werden neun Punkte zur Beratung vorgelegt: Die heutige Situation; Ausgangspunkt und Fundament; Kooperative Pastoral; Verschiedene Gemeindeformen; Grundstrukturen; Ansätze zu Modellen; Einzelprobleme; Anfragen; Der weitere Beratungsprozeß. Es geht also in so gut wie allen Punkten um Strukturen, wie eine Gemeinde aufgebaut werden soll und wie sie funktionieren kann.

Selbstverständlich hat diese Unternehmung einen Hintergrund, und man erwartet, daß dieser Hintergrund unter der Ziffer I („Heutige Situation als Herausforderung“) den Menschen klargelegt würde. Wenn man jedoch diesen Punkt I liest, so merkt man, daß auf die heutige Situation in keiner Weise eingegangen wird. Wenn sich ein Patient zum Arzt begibt, dann ist das erste, was der Arzt tut: Er untersucht ihn, er stellt die Diagnose. Wie soll er denn behandeln, wenn er nicht weiß, an welcher Krankheit der Patient leidet? Wenn man also überlegen will, wie unseren Gemeinden zu neuem Leben verholfen werden kann, muß man zuerst ergründen, welches die heutige Lage dieser Pfarreien ist. Erst aufgrund der Erkenntnis der Situation kann man die geeigneten Mittel anwenden, um ihr zu begegnen und um die Verhältnisse zu bessern.

Dieses Versäumnis in dem Papier, das uns Bischof Lehmann zugesandt hat, wollen wir heute zu ergänzen versuchen. Wir wollen fragen: Wie ist die heutige Situation in unseren Gemeinden? Wir fragen deswegen an erster Stelle: Wie steht es um den Gottesdienstbesuch? Der katholische Christ kann ohne Teilnahme an der heiligen Messe nicht leben. Wenn er nicht religiös versacken will und am Ende den Glauben verlieren will, dann muß er die Sonntagsmesse besuchen. Wenn wir immer noch in manchen Gemeinden relativ gefüllte Kirchen vorfinden, so darf uns das nicht sicher machen, sondern muß Fragen in uns wecken, nämlich: Wie viele müßten kommen, und wie viele kommen? Wer heute als Pfarrer in einer Gemeinde noch 20 Prozent der Gläubigen im Sonntagsgottesdienst versammeln kann, der ist glücklich zu preisen. Es gibt in der Diözese Mainz nicht wenige Pfarreien, in denen 6 oder 4 von 100 katholischen Christen den Sonntagsgottesdienst besuchen. Ich habe mich nicht versprochen: 6 oder 4! Ebenso enthüllend ist der Besuch der Werktagsmessen. Da drängt ja kein Gebot, sondern da sind die Liebe zu Gott und die Wertschätzung des eucharistischen Opfersakramentes gefragt. Wie sieht es mit dem Besuch der Werktagsmessen in den Gemeinden aus? Wie steht es vor allen Dingen um den Besuch jener Werktagsmesse, die wir am Herz-Jesu-Freitag halten? Wenn ein Priester am Herz-Jesu-Freitag eine ansehnliche Schar von Männern und Frauen um seinen Altar versammeln kann, dann steht es noch nicht schlecht um diese Gemeinde. Aber es gibt in der Diözese Mainz viele Gemeinden, in denen der Herz-Jesu-Freitag praktisch unbekannt ist.

Eine zweite Frage ist die nach dem Sakramentenempfang. Noch immer vermögen die Pfarrer Statistiken mit hohen Kommunionzahlen vorzulegen. Das ist nicht zu verwundern. Es ist ja doch in vielen Gemeinden so, daß sich beinahe jeder erhebt, um diese Gabe entgegenzunehmen, die die höchste ist, welche die Kirche zu vergeben hat. Denn hier begegnet uns unser Gott und Heiland selbst, der Urheber der Gnade, während in den anderen Sakramenten nur die Gnade ausgeteilt wird. Die Kommunionzahl mochte vor 50 Jahren aussagekräftig sein, denn vor 50 Jahren war es so gut wie unbekannt, daß jemand, der kommunionunwürdig war, sich zur Kommunion eingefunden hat. Das hat sich gewaltig geändert. Heute ertrotzen sich notorisch Unwürdige, offenkundig in Todsünde lebende Menschen das, was wir früher heilige Kommunion nannten. Sie ertrotzen es sich! Und wehe dem Priester, der es wagen würde, ihnen diese Gabe zu versagen. Ich selbst gebe sie nicht, das möchte ich hier an dieser Stelle erklären, dem, der mir bekannt ist als öffentlich unwürdiger Sünder. Ich mache mich nicht mitschuldig am Sakrileg.

Viel aussagekräftiger als die Zahl der Kommunionen ist die Zahl der guten, ehrlichen, vollständigen Beichten. Wenn in einer Gemeinde noch das Bußsakrament reichlich ausgespendet wird, dann würde ich nicht zögern zu sagen, das ist eine gute Gemeinde. Es mögen noch viele, viele sein, die den Frieden im Bußsakrament nicht suchen, aber es gibt immer noch eine ansehnliche Anzahl, die sich von Christus die Vergebung gewähren läßt, und wohl einer solchen Gemeinde, in der das der Fall ist. Aber in wie vielen Gemeinden sind die Beichtstühle verlassen, kommt nicht einmal am Samstag eine nennenswerte Zahl von Menschen, um sich den Frieden Gottes zu holen! Ich habe in der Karwoche in Bingen Beicht gehört, in der Basilika zu Bingen. Wir waren 11 Priester, die zum Beichthören zur Verfügung standen. Die Gemeinde zählt etwa 4000 Seelen. Von den 4000 Seelen haben schätzungsweise 50 sich den Frieden des Bußsakramentes geholt. So sieht es aus in den Gemeinden.

Eine dritte Frage ist die nach den Familien. Wenn es in einer Gemeinde noch kinderreiche Familien gibt, gepriesen sei diese Gemeinde! Denn kinderreiche Familien sind ein Zeugnis dafür, daß es noch Glauben an Gott, den Geber aller Gaben gibt, daß noch Vertrauen auf Gott, den Herrn der Zukunft vorhanden ist, daß noch Ehrfurcht vor den Gesetzen seines Lebens besteht, daß vor allem noch mit dem Gott, der uns am Ende richten wird, gerechnet wird. Aber wie sieht es bezüglich der Kinderfreudigkeit in unseren Gemeinden aus? In zahlreichen Gemeinden überwiegt die Zahl der Särge die der gefüllten Wiegen. In Budenheim ist das ganz offensichtlich. Wir sind in Budenheim gewissermaßen in der letzten Reihe. Die Kinderfreudigkeit ist gewiß im ganzen Volk zurückgegangen, doch es war immer das Kennzeichen des katholischen Christen, daß er sich an irgendeinem Trend nicht beteiligte, sondern daß er dem Gesetz Gottes treu blieb, auch wenn die ganze Umwelt anders dachte und redete. Daß sich die Katholiken heute diesem Trend eingegliedert haben, das ist ein Zeichen des inneren Zusammenbruchs in unserer Kirche. Das Land, meine lieben Freunde, in dem heute die geringste Kinderzahl ist von ganz Europa, nein, von der ganzen Erde, ist Italien. Das sogenannte katholische Italien hat am wenigsten Kinder von allen Ländern der Erde. Schweden, das protestantische und atheistische Schweden, hat viel mehr Kinder als Italien. Ja, wenn das kein Zusammenbruch ist, dann weiß ich nicht, was diesen Namen überhaupt verdient.

Auch die Ehen, die geschlossen werden, sprechen über den Stand einer Gemeinde. Die jungen Männer sind selten so geblendet und manchmal auch verblendet wie bei der Wahl ihrer Ehegattin. Sie setzen die Natur über das Übernatürliche. So erklären sich beispielsweise die vielen Mischehen. In den Mischehen besteht die große Gefahr, daß der Glaube des katholischen Teils zugrunde geht und daß die Kinder der katholischen Kirche veruntreut werden. Das ist ein ganz heikler Punkt. Ich habe den deutschen Bischöfen vor 14 Tagen einen Brief geschrieben, in dem ich auf die Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland hingewiesen habe aus dem Jahre 1993. In dieser Statistik steht folgendes geschrieben: „Seit 1981 werden mehr als 50 Prozent aller Kinder aus Mischehen protestantisch erzogen.“ Seit 1981. 1990 waren es schon 54 von hundert und 1991 58 von hundert, die protestantisch erzogen werden. Dieser Trend geht immer noch weiter. Ich meine, das gehört zur Situationsbeschreibung einer Gemeinde.

Ein weiterer Punkt, der für die Erkenntnis der Situation entscheidend ist, ist die Frage der Berufe zum Priestertum und in die Orden. Priesterberufe gedeihen im allgemeinen nur in einem günstigen Milieu, in einer Familie, die nach Gottes Willen zu leben sich bemüht, in einer Gemeinde, wo Anregungen für dieses Ziel gegeben werden. Und jede Gemeinde muß sich deswegen die Frage stellen: Wie sieht es bei uns aus? Wann war die letzte Primiz? Wenn diese Bilanz für Budenheim verhältnismäßig günstig aussieht, so ist doch noch auf einen anderen Punkt hinzuweisen, nämlich: Die jungen Priester, die heute an den Weihealtar treten, besitzen mitnichten die Festigkeit, die wir vor 40 oder 50 Jahren hatten. Sie sind mehrheitlich labil. Sie haben gewöhnlich selten eine festgegründete Überzeugung und sind nicht entschlossen, ihre Berufung mit letztem Einsatz bis zum Tode, komme, was da wolle, durchzutragen. In vielen lebt der bedingte Vorsatz, erforderlichenfalls oder gegebenenfalls aus dem Priestertum auszusteigen. Das muß man bedenken, wenn man von der Zahl der Priester redet. Die Zahl ist nicht alles. Es kommt auf die Intensität des Glaubens und der Liebe sowie auf die Treue zur Berufung an.

Noch aussagekräftiger ist die Zahl der Ordensberufe, vor allem der weiblichen. Es ist eine offenkundige Tatsache: Die dienenden Orden in unserer Kirche sterben an Auszehrung. In wenigen Jahrzehnten werden die dienenden Orden, wenn nicht eine entscheidende Wende kommt, nur noch der Vergangenheit angehören. Die beschaulichen Orden haben etwas mehr Nachwuchs. Es ist eben angenehmer, zu beten und Bücher herauszugeben, als Kranke zu pflegen oder sich um Krüppel zu kümmern und Behinderten nachzugehen. Die dienenden Orden sterben an Auszehrung. Es ist deswegen ein hohes Lob für eine Gemeinde, wenn aus ihr Mädchen und Frauen den Weg zu den dienenden Orden finden. Wo in einer Gemeinde solche Berufungen erwachsen, darf man mit Sicherheit sagen: In dieser Gemeinde lebt noch echte Glaubensfreudigkeit, lebt noch echte Hingabe an den Gott des Lebens und an seine erbarmungswürdigen Geschöpfe.

Ein letzter Punkt ist die Frage des Zugangs und des Abgangs von der Gemeinde. Wir haben in Deutschland Millionen von Ungetauften, zumal in der DDR. Aber nicht nur in der DDR, auch in den alten Bundesländern, vor allem in Hamburg, in Hof, in Selb und in anderen Städten. Ja, selbst im gelobten Lande Bayern gibt es zahlreiche ungetaufte Menschen. Sie werden in der Kindheit nicht getauft, und sie wachsen ungetauft heran. Es wäre eine hohe Aufgabe jeder Gemeinde, jedes Priesters, aber natürlich auch aller Gemeindeangehörigen, diese Menschen zu gewinnen, zu gewinnen für Christus, für seine Kirche, zum Empfang der Taufe. Deswegen ist die Zahl der Erwachsenentaufen in einer Gemeinde ein deutlicher Spiegel ihres religiösen Lebens.

Dasselbe gilt für die Konversionen. In früheren Jahren, genauer vor 50 oder 40 Jahren etwa, war die Zahl der Konversionen außerordentlich hoch. In England fanden jedes Jahr 12.000 Menschen aus anderen Konfessionen den Weg zur katholischen Kirche. Seit dem Konzil ist die Konversionsbewegung zusammen-gebrochen. Es gibt nur noch wenige Konversionen, aber um so mehr Abfälle, Abfälle zum Protestantismus oder in die völlige Glaubenslosigkeit. Wenn in einer Gemeinde wie Budenheim im vergangenen Jahre 34 Kirchenaustritte zu beklagen waren, dann muß sich jeder fragen: Ja, was ist denn an dieser Gemeinde eigentlich noch wahrhaft lebendig? Wie kommt es zu den Abfällen? Was hat man getan, sie zu verhüten? Und was tut man, um diese Menschen zurückzugewinnen? Hier muß doch missionarische Seelsorge betrieben werden!

Davon ist in diesem Papier, soweit ich sehe, überhaupt nicht die Rede. Hier wird immer nur von Strukturen geredet, aber niemals von geistgetragenen Aktionen und von lebendigem Vollzug des Glaubens. Deswegen sind solche Papiere zur Fruchtlosigkeit verurteilt. Wenn sich in unseren Gemeinden etwas ändern soll, dann muß der Glaube neu und kräftig aufgebaut, dann müssen die Gottesdienste würdig, gotteswürdig, gestaltet werden, dann muß die Ordnung in unserer Kirche wiederhergestellt werden, und die fängt damit an, daß der Kaplan geistliche Kleidung trägt! Da fängt die Ordnung an. Wenn das alles nicht geschieht, meine lieben Freunde, dann ist all das Gerede, das Strukturgerede, völlig sinnlos. Das wird nichts ändern und nichts bewirken, sondern es wird der Weg weiter bergab gehen, und unsere Gemeinden werden immer mehr ausgelaugt und entvölkert werden. Gott möge verhüten, daß diese düsteren Voraussagen eintreffen!

Amen.

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